Altmaiers Startup-BeiratPressefreiheit nervt beim Börsengang

Ein Beirat des Wirtschaftsministeriums will die Presse disziplinieren, damit Börsengänge deutscher Startups wieder erfolgreicher werden. Die Forderung zeigt, wie verkommen das Selbstbild der Branche ist. Ein Kommentar.

Mann mit Smartphone
Der Mann hier auf dem Bild hat nichts mit dem Positionspapier zu tun, aber er passte ins Startup-Klischee. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Austin Diestel

Die Presse ist Schuld, dass es mit den Börsengängen deutscher Startups nicht so gut klappt, wie die aufstrebende digitale Branche sich das wünscht. So muss man ein haarsträubendes und schamloses Positionspapier des „Beirat Junge Digitale Wirtschaft“ deuten, das auf der Webseite des Wirtschaftsministeriums veröffentlicht wurde. Das Dokument ist auf Mitte April datiert, bekannt wurde es jedoch am Montag durch einen Bericht des Handelsblatts.

Tatsächlich ist der Beirat ein offizielles Gremium des Ministeriums, das der ehemalige FDP-Wirtschaftsminister Philipp Rösler 2013 eingerichtet hatte. Noch im September des vergangenen Jahres ließ sich der heutige Wirtschaftsminister Peter Altmaier von seiner Behörde damit zitieren, er erhoffe sich von dem Beirat „wertvolle Anregungen“.

Der Beirat empfiehlt laut Positionspapier (PDF) unter dem Punkt „Gewährleistung einer ausgewogenen Berichterstattung über Börsengänge durch Erlass von Regeln zur Vermeidung einseitig diffamierender Artikel, die sich als regelrechtes „IPO-“ und „new economy-bashing“ unter Finanzredakteuren verbreitet haben“:

1. Verpflichtung der Presse zur Berichterstattung auch über kleine IPOs (fallen sonst bei den großen Medien ganz durchs Raster)

2. Disziplinierung der Presse zu sachlicher, richtiger und vollständiger Information, bewehrt durch Pflicht zur unverzüglichen Gegendarstellung bei Fehlinformation

3. Verpflichtung von Internetforen zur Offenlegung von Klarnamen der Blogger, Einführung einer Haftung von Bloggern für Falschbehauptungen und Beleidigungen

Wenn es nach den Startup-Lobbyist:innen (PDF) geht, soll die Presse in Zukunft nicht mehr selbst entscheiden, was sie für relevant hält, sondern über jeden Börsengang beklagenswerter No-Name-Startups verpflichtend berichten.

Also auch über solche Unternehmen, die es in den Jahren ihrer traurigen Existenz nicht einmal geschafft haben, soviel Geld in PR und Marketing zu verbrennen, dass sich irgendein Schwein für sie interessiert.

Bitte nur noch Success Stories

Eine Artikelpflicht genügt den Lobbyist:innen nicht, für die erfolgreichen Börsengänge und die Entstehung neuer deutscher Weltmarktführer sei es nötig, die Presse zu disziplinieren, damit diese sachlich, richtig und vollständig berichtet. Vermutlich finden die Jungen Digitalen, dass man ihre Press Releases, Learnings, Use Cases und Success Stories am End of the Day einfach in Gänze copypasten sollte.

Was soll das denn auch, dass kritisch über die Strategie von Gorillas, miserable Arbeitsbedingungen bei Lieferservices oder die rauen Methoden von N26 gegen Betriebsräte berichtet wird?

Hätten die Spielverderber:innen von der Presse damals „diszipliniert“ und „richtig“ über Wirecard berichtet, dann wären die heute womöglich Weltmarktführer und nicht ein am Boden zerschelltes Skandalunternehmen. Und mit der richtigen Pressedisziplin wird Deutschland Digitalweltmeister und aus Amorelie ein neues Amazon.

Natürlich kann man auf dem Weg zur richtigen Darstellung deutscher Startups nicht nur gegen die Print-Medien vorgehen: Auch Blogger:innen und Foren sind den „wichtigen Impulsgebern“ (Zitat: Altmaier) ein Dorn im Auge. Damit sich niemand mehr anonym oder pseudonym das Maul über das „nächste große Ding“ zerreißen kann, muss eine Klarnamenpflicht her. Logisch.

„Wichtige Impulsgeber“

Dem Handelsblatt sagte das Wirtschaftsministerium übrigens, dass es nicht hinter den Forderungen stehe, sondern die Unabhängigkeit der Presse für ein hohes Gut halte.

Altmaier schrieb auf Twitter, das Papier, drei Monate alt und seit Mitte Juni auf der Website seines Ministeriums, sei ihm leider unbekannt. Man werde jetzt aber „umgehend die Verantwortlichkeiten klären“ und Konsequenzen ziehen – „gegebenenfalls“.

Die Vorsitzende des Beirats Miriam Wohlfahrt, behauptete, bei dem auf April datierten, laut Metadaten im Mai erstellten und im Juni auf der Ministeriumswebsite veröffentlichten Dokument handele es sich bloß um „eine nicht finale Arbeitsversion“. Dem Handelsblatt teilte Altmaiers Ministerium mit, das Papier sei als „Meinungsäußerung“ veröffentlicht worden, am Montagabend ließ es Wirtschaftsminister Altmaier es von der Seite entfernen

Meinungsäußerungen werden übrigens im gleichen Artikel des Grundgesetzes garantiert wie die Pressefreiheit.

Update 16:46 Uhr:
Startup-Investor Christoph Gerlinger übernimmt Verantwortung für das Papier und tritt aus dem Beirat zurück, berichtet das Handelsblatt.

7 Ergänzungen

  1. Es entspricht dem Selbstbild und neofeudalen Herrschaftsanspruch der fuehrenden CDU/CSU/FDP Politiker und deren Klientel: natuerlich sind die eigenen, auch finanziellen, Interessen das Mass aller Dinge und der Staat das Mittel zur Durchsetzung. So gesehen war das einfach ehrlich, hat auch keiner dort Anstoss genommen.

    Bleibt zu hoffen, dass es einigen Medienleuten die Augen oeffnet. Ansonsten kommt die CDU in den „Qualitaetsmedien“ ja mit allem durch, egal wie ehrlich unverschaemt oder glatt gelogen es ist.

  2. Das geht jetzt zwar etwas in Richtung Alu-Hut, aber dieser Punkt ist schon höchst erstaunlich:

    „3. Verpflichtung von Internetforen zur Offenlegung von Klarnamen der Blogger, Einführung einer Haftung von Bloggern für Falschbehauptungen und Beleidigungen“

    War da wirlich jemand derart jenseits jeder Realität, dass er das einfach für sein kleines Reich so haben wollte?

    – oder –

    Hat da jemand versucht, die oft im Großen geforderte Klarnamenpflicht schon mal ‚im Kleinen‘ vorzubereiten?

  3. Der Vorsitzende des Beirats, Christian Vollmann, selbst keiner der Autoren des Papiers, äußerte sich beim Netzwerk LinkedIn: „Leider kein Aprilscherz, sondern „nur“ ärgerlicher Fehler unsererseits. Wir haben eine vorläufige Arbeitsversion des Papiers veröffentlicht, anstatt der finalen.“ Weiter: „Natürlich ist dies nicht die Position des Beirats. Wir bekennen uns vollumfänglich zur Pressefreiheit.“

    So rudert man zurück, wenn man eigenes Handeln nicht mehr rechtfertigen kann, und der öffentliche Druck zu groß geworden ist: Man deklariert unhaltbares Gefasel um als „Arbeitsversion“ und nimmt die Datei vom Server.

    Was aber nicht mehr eingefangen werden kann ist, wie man so „tickt“ in solchen Kreisen, und welches Verständnis von Journalismus und Demokratie dort herrschen. Offenbar ein Verständnis, dessen man sich schämen müsste, wenn man die Werte, die in Sonntagsreden hochgehalten werden, auch auf sich selbst anwenden würde.

    Da was in diesem „Arbeitspapier“ immer noch zu lesen ist, ist der Originalton, den Lobbyismus im Verborgenen so pflegt. Für die öffentliche Galerie werden dann sozialverträgliche Versionen ins Schaufenster gehängt, um sich vermeidbare Kritik vom Hals zu halten. So funktioniert nun mal die Wirtschaftsrepublik Deutschland. Was wir sehen duften war ein kurzer Blick in den Maschinenraum treibender Kräfte.

  4. Zitat: „Die Forderung zeigt, wie verkommen das Selbstbild der Branche ist.“

    Absolut richtig. Doch so geht es nicht nur in dieser Branche zu. Das was bei diesem Fall öffentlich wurde, gehört zum allgemeinen Umgangston im Fachbereich Wirtschaftspolitik. Wer in diesem Umfeld um Geld und Macht ringt, bleibt naturgemäß nicht zimperlich.

    Die Tatsache, dass es Monate braucht, bis ein „ehrliches“ aber skandalöses pdf vom Server genommen wird, zeigt mindestens zweierlei:

    Erstens, dorthin verirren sich offenbar nur extrem wenige Leser, die solche Texte als anstößig rezipieren. Vermutlich gibt es noch weitere Texte mit ähnlichem Schreibstil und mindestens fragwürdigem Inhalt. Es dürfte lohnenswert sein, automatisiert auf Servern nach ähnlichem Material zu suchen.

    Zweitens. Jene, die solche Texte auf den Webserver eines Ministeriums stellen, lesen entweder die Texte nicht, oder sie verstehen ihre eigenen Texte nicht. Natürlich ist es auch möglich, dass keiner aus dem Wirtschaftsministerium an solchen Texten stört, weil man selbst so denkt und handelt. Letzteres dürfte wohl am ehesten zutreffen und zeigt, wie weit man sich entfernt hat von dem, was man in der Öffentlichkeit noch als anständig bezeichnen kann.

    Wer beschämt seine eigenen Publikationen vom Server nehmen muss, den kann man kaum noch als regierungsfähig betrachten. Wäre diese Legislatur nicht ohnehin schon an ihrem (zeitlichen) Ende, müsste man den Rücktritt des Ministers fordern.

    Was die schreibenden“Startup-Lobbyisten“ anbelangt, so sollten diese unter verschärfter journalistischer „Aufsicht“ bleiben. Wer so schädliches Verhalten zeigt, den kann man trotz aller Beschwichtigungsmantras nicht mehr über den Weg trauen. Es ist nicht „das Selbstbild dieser Branche“, das verkommen ist, es ist das verkommene Denken, das dort kultiviert und befördert wird.

  5. Leider ist Zensur nicht nur Position dieses Beirats.

    Wirecard konnte nur deshalb so lange Anleger und Kunden betrügen, weil Merkels Aussichtsbehörden Presse und Whistleblower in Schach gehalten haben.

  6. Der Zeitpunkt wirft natürlich die Frage auf, ob die Macher einer gewissen Check-In-App diesen Beirat angehören.

  7. Lasst uns diesen „Sympathie-Trägern“ genauer auf die Finger schauen. Im Schreiben äußern sie auch ihre Ansichten zum Thema Rente. Und über die dot.com-Blase wird am besten gar nicht mehr geredet, schadet nur, so eine Art Wehrkraftzersetzung. Ich kenne niemanden von diesen „Vordenkern“ persönlich, aber mein inneres Auge zeigt mir Bilder von Menschen, deren Eltern alles mögliche andere zu tun hatten als den Kindern Anstand und humanistische Werte beizubringen.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.