Nach dem Urteil: Die Europäische Menschenrechtskonvention auf den Stand der digitalen Revolution bringen

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das Recht auf Privatheit deutlich gestärkt. In einem Gastbeitrag bewertet Patrick Breyer das Urteil zur Massenüberwachung des britischen Geheimdienstes GCHQ. Anlassloser Massenüberwachung hat der Gerichtshof leider keine klare Absage erteilt.

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Patrick Breyer ist Jurist und Pirat. Von 2012 bis 2017 war er Landtagsabgeordneter in Schleswig-Holstein. Bei der Europawahl 2019 ist Breyer Spitzenkandidat der Piratenpartei Deutschland.

Wie Edward Snowden enthüllt hat, betreiben verschiedene Geheimdienste – darunter das britische GCHQ – ein massenhaftes Abfangen und Speichern von Telekommunikation und Internetnutzung. Letzte Woche hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sein Urteil darüber gefällt.

Worüber wir jubeln dürfen

Der Gerichtshof setzt der Verniedlichung von Metadaten oder Verkehrsdaten ein Ende. Das Abfangen von Verkehrsdaten unterwirft er denselben Anforderungen wie das Abfangen von Kommunikationsinhalten. Er zeigt sich „nicht überzeugt“, dass Verkehrsdaten notwendigerweise weniger tief in Grundrechte eingreifen als das Abfangen des Inhalts von Gesprächen. Denn in der Masse erlaubten Verkehrsdaten das Zeichnen eines „intimen Bildes eines Menschen“ durch Abbildung sozialer Netzwerke, Bewegungsüberwachung, Überwachung der Internetnutzung, Analyse von Kommunikationsmustern und Offenlegung der Kontakte einer Person.

Auch die Identität von Telefon- und Internetnutzern, die das Bundesverfassungsgericht als „Bestandsdaten“ bisher kaum schützt, zählt der Gerichtshof zu den Kommunikationsdaten, die ebenso gut zu schützen sind wie Kommunikationsinhalte. Dies könnte meinen Beschwerden gegen den pauschalen und anlasslosen Identifizierungszwang für Nutzer von Prepaidkarten ebenso zum Erfolg verhelfen wie der Sammel-Verfassungsbeschwerde gegen den ausufernden Zugriff auf Bestandsdaten und Passwörter. Seit Jahren argumentiere ich in Karlsruhe, dass die Identität von Anrufern und Internetnutzern integraler Bestandteil des Kommunikationsvorgangs ist und ebenso gut vor Schnüffelei geschützt werden muss wie sonstige Metadaten oder Inhalte.

Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs zur Unzulässigkeit einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung macht sich der Menschenrechtsgerichtshof zu eigen: Was laut EuGH gegen die EU-Grundrechtecharta verstoße, ist auch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar, so das neue Urteil. Dies könnte den Verfassungsbeschwerden gegen das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung zum Erfolg verhelfen (auch ich bin Beschwerdeführer). Bisher zierte sich Karlsruhe noch, die grundrechtsfreundlichere Rechtsprechung des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung zu akzeptieren, doch Urteilen des Menschenrechtsgerichtshofs trägt das Bundesverfassungsgericht traditionell Rechnung.

Was nicht befriedigen kann

Der Menschenrechtsgerichtshof erteilt einer massenhaften Überwachung der Kommunikation unverdächtiger Menschen mit dem Ziel, noch unbekannte mögliche Gefahren präventiv aufzuspüren, aber nicht generell eine Absage. Mit den zweifelhaften Erfolgen eines so ungezielten Vorgehens setzt sich der Gerichtshof nicht wirklich auseinander. Er argumentiert außerdem mit Terrorismusgefahren, ohne die Massenüberwachung auf diesen Zweck zu beschränken.

Die Bürgerrechtler versuchten vergeblich, den Gerichtshof davon zu überzeugen, die heutigen Überwachungstechnologien erforderten eine Beschränkung von Überwachungsmaßnahmen auf Verdächtige. Der Gerichtshof hält ernsthaft dagegen, die gezielte Überwachung einer Person greife tiefer in deren Grundrechte ein als die ungezielte Überwachung vieler Personen. Die Argumentation ist an dieser Stelle kurz und nicht nachvollziehbar. Nicht einmal eine Benachrichtigung überwachter Personen fordert der Menschenrechtsgerichtshof. Das wird der Situation nicht gerecht.

Auch dem internationalen Datenhandel der Geheimdienste setzt der Menschenrechtsgerichtshof keine Grenzen. In den USA etwa existiert kein angemessenes Grundrechtsschutzniveau, Menschenrechte werden systematisch verletzt und jeder dorthin weitergeleitete Datensatz kann zur extralegalen Folterung oder Drohnentötung von Personen führen. Außer im Notfall sollte es daher keine Zusammenarbeit mit Menschenrechtsverletzern geben dürfen. Doch kein Wort davon findet sich im Straßburger Urteil.

Massenüberwachung anders stoppen

Die Politik muss die Europäische Menschenrechtskonvention auf den Stand der digitalen Revolution bringen und Massenüberwachung international ächten. Ohne angemessenes Grundrechtsschutzniveau darf es im Grundsatz keine Datenweitergabe geben.

Eine gesellschaftliche Debatte in Verbindung mit direkter Demokratie kann helfen, Massenüberwachung und Datenauslieferungen zu stoppen – Vorbild Niederlande und Schweiz.

Die Technik muss unsere Privatsphäre endlich vor internationaler Massenüberwachung schützen. Jeder muss verhindern können, dass rein nationale Kommunikation über das Ausland geleitet und dort abgefangen wird (Stichwort Routing). Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von Inhalten und Transportverschlüsselung von Verbindungen muss zum Standard werden. Dienste und Geräte müssen verpflichtend Anonymisierung anbieten und unterstützen. Wir brauchen einen Snowden-Plan!

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4 Ergänzungen

  1. „Eine gesellschaftliche Debatte in Verbindung mit direkter Demokratie kann helfen, Massenüberwachung und Datenauslieferungen zu stoppen – Vorbild Niederlande und Schweiz.“

    Lieder hat das in der Schweiz bis an hin nicht wirklich funktioniert, siehe BÜPF und NDG.

  2. Es heisst: „Der Gerichtshof hält ernsthaft dagegen, die gezielte Überwachung einer Person greife tiefer in deren Grundrechte ein als die ungezielte Überwachung vieler Personen.“
    Insgesamt gilt doch in beiden Fällen die Unschuldsvermutung, oder? Das sollte doch in der Masse und für eine Person gleich schutzbedürftig sein?
    Sonst könnte ich ja präventiv für alle Haftstrafen aussprechen, dass ist weniger grundrechtsverletzend als nur einen einzuknasten…

    Und solange die Mehrheit die Tools der Trackingindustrien benutzt (,und wie Facebook, Instagram, Twitter und co), die es eben vor allem auf die Metadaten abgesehen haben, solange lachen sich die Überwachungsbehörden über uns kaputt!

    1. Unschuldsvermutung ist ein Begriff aus dem Strafrecht. Er besagt, dass auch wenn gegen jemanden ermittelt wird, er solange als unschuldig gilt, bis er von einem Gericht verurteilt wurde. Das bedeutet ja, es gilt die Unschuldsvermutung- sie ver hindert aberkeine Ermittlungen. Allerdings bedürfen sie – nach deutschem Recht – einer Eingriffsgrundlage.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.