Jugendgerechte Netzpolitik: Warum der digitale Wandel die jugendpolitische Agenda berührt

Junge Menschen sind vom Digitalen Wandel besonders betroffen, von seiner politischen Gestaltung aber ausgeschlossen. Jugendverbände, die sich die Vertretung der Interessen junger Menschen auf die Fahnen geschrieben haben, müssen sich deshalb stärker in das netzpolitische Feld einbringen.

Sirotorn Sumpunkulpak unter CC0 via unsplash

Bei der Fachtagung „Digitalisierung in der Kinder- und Jugendhilfe“ am 5. und 6. Dezember 2016 in Berlin habe ich einen Vortrag dazu gehalten, warum wir Jugend- und Netzpolitik zusammen denken sollten. Im Nachgang der Veranstaltung habe ich diesen Gedanken in einem Artikel für das Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe anhand von ein paar konkreten Handlungsbedarfen ausformuliert:

Repräsentationsdefizit und Beteiligungsmissstand

Cybermobbing, Happy Slapping, Grooming, Onlinesucht – wenn es in gesellschaftlichen Debatten um „die Jugend“ und „das Netz“ geht, sind diese Schlagworte schnell bei der Hand. Wenn nicht gerade auf die besondere Kompetenz junger Menschen im Umgang mit dem Digitalen verwiesen wird, wird vor allem über Gefährdungslagen und Bildungsbedarfe gesprochen. Dabei wäre es an der Zeit, die junge Generation bei der Aushandlung von Regeln für die digitale Gesellschaft einzubeziehen.

Als Impulsgeber und Mitgestalter kommen Heranwachsende auch in anderen Politikbereichen kaum zum Zug. In der Netzpolitik fällt dieser Missstand allerdings besonders auf. Einerseits weil die Organisationen und Akteure, die sich sonst für die Einbeziehung junger Menschen in die Politik einsetzen, das Politikfeld kaum auf dem Schirm haben. Andererseits weil das Repräsentationsdefizit junger Menschen bei der politischen Gestaltung des Netzes besonders drastisch ausfällt.

Ohne in den Dualismus von „Digital Natives“ und „Digital Immigrants“ verfallen zu wollen: Auch 2017 wird Netzpolitik zu häufig von jenen bestimmt, für die das Netz ein abstrakter Begriff ist und welche die Konsequenzen ihrer Politik nicht direkt erfahren. Ganz im Gegenteil zur jungen Generation, die als demographisch schrumpfende und politisch marginalisierte Gruppe kaum über Einflussmöglichkeiten verfügt.

„Media Life“ – Dauervernetzt in der Welt

Die Mediatisierung der Lebenswelt von Jugendlichen ist so weit vorangeschritten, wie die keiner anderen Bevölkerungsgruppe: Ihr Alltag ist von digitaler Informations- und Kommunikationstechnologie umfassend durchdrungen. Der niederländische Medienwissenschaftler Mark Deuze nennt diesen Modus des dauervernetzt-in-der-Welt-Seins „Media Life“. Medien sind ihm zufolge keine externen Apparate mehr, mit denen in klaren Grenzen punktuell interagiert wird, sondern konstituieren zusehends unsere Lebenszusammenhänge.

Für alle, die sich in Jugendhilfe, -arbeit und -politik für das Wohl und die Interessen junger Menschen einsetzen, heißt das: Der Digitale Wandel erfordert nicht nur Veränderungen in der pädagogischen Praxis und Organisation, sondern muss auch unsere politische Agenda berühren:

Visionen und Konzepte für das Bildungswesen

Selbst ein klassisch jugendpolitisches Feld wie Bildung wird unter dem Gesichtspunkt des Digitalen Wandels von Jugendlobbyisten bislang kaum beackert. Beschwerden über digitalskeptische Lehrkräfte und die mangelhafte technische Ausstattung von Schulen sind schnell ausgesprochen. Aber es braucht auch Visionen und Konzepte für ein Bildungswesen, das durch die Integration digitaler Medien nicht nur lebensnah ist, sondern auch die zentralen Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben in der Digitalen Gesellschaft schärft: Reflexion und Organisation von Information, Kommunikation und Wissen.

Teilhabe an sozialen Prozessen

Auch die Themen Zugangsgerechtigkeit und digitale Grundversorgung gewinnen an Bedeutung, wenn man sich vor Augen hält, wie wichtig das Netz für die Identitäts- und Gruppenkonstruktion junger Menschen heute ist. Wer zuhause keinen Internetanschluss hat oder zur Mitte des Monats aufgrund des vertraglich beschränkten Datenvolumens nicht mehr von unterwegs kommunizieren kann, ist von der Teilhabe an relevanten sozialen Prozessen ausgeschlossen.

Datenspuren beeinflussen Lebenschancen

Durch die Angewiesenheit auf die Infrastruktur digitaler Medien sind Heranwachsende zudem in besonderem Maße von staatlicher wie kommerzieller Überwachung betroffen. Für die Verwendung digitaler Plattformen zahlen die wenigsten Nutzer Geld – dafür werden große Teile ihres Lebens in Datenform festgehalten und diese persönlichen Informationen zur handelbaren Ware, deren Auswertung zukünftige Lebenschancen beeinflussen kann. Das ist umso folgenschwerer, da gerade die Lebensphase der Jugend durch Brüche, Experimente und das Austesten von Grenzen geprägt ist. Noch mehr als bei Erwachsenen hängt die freie Entfaltung der Persönlichkeit bei ihnen davon ab, dass nicht jede Handlung in ihren Konsequenzen durchdacht werden kann und muss.

Urheberrecht kriminalisiert Alltagskreativität

Nirgends ist der mangelnde Einbezug der Lebenswirklichkeit junger Menschen so sichtbar wie bei der Frage nach der Kompatibilität von Digitalkultur und Urheberrecht. Kopieren, Remixen und Teilen sind in den Öffentlichkeiten des Netzes gängige Kulturtechniken. Man muss kein Anhänger des Konzepts „Kulturflatrate“ sein, um anzuerkennen, dass das derzeitige Urheberrecht mit seiner Idee vom „geistigen Eigentum“ vielen Formen dieser kommunikativen Alltagskreativität entgegensteht.

Doch wie sollen politisch Entscheidende, in deren Alltag Remixe, Memes und Links keine Rolle spielen, auch ermessen können, welche Konsequenzen ihre Politik hat? Hier prägen Menschen, für die das Internet und digitale Medien keine große Rolle spielen, die Lebenswelt derer, die sich im Internet zuhause fühlen. Dabei geht es weniger um Expertentum als um eine Verzahnung von Betroffenheit und Repräsentation.

Demokratische Potenziale des Netzes

In Zeiten des fortschreitenden Legitimationsverlusts des etablierten politischen Betriebs kommt diesem letzten Punkt eine besondere Bedeutung zu. Bislang ist es keiner Partei gelungen, das partizipative Potenzial des Netzes für die Herstellung von Politik zu nutzen. Während gerade für Jugendliche die wahrgenommene Nähe zu Stars und Idolen durch Dienste wie Youtube und Snapchat wächst, kommen die Institutionen und Akteure der Politik in diesen Lebenswelten kaum vor.

Und selbst wenn: In medialen Kontexten, in denen persönliche Präsenz und Authentizität alles sind, macht ihre formelle Präsenz den Jugendlichen nur noch deutlicher, wie wenig sie repräsentiert sind. Das Gefühl, von der Politik wahr- und ernstgenommen zu werden, ist jedoch eine zentrale Voraussetzung für das Vertrauen in Demokratie.

Jugend- und Netzpolitik zusammen denken

Es lohnt sich also, Jugend- und Netzpolitik zusammenzudenken. Die jüngste Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums zu Digitalen Medien [PDF] und auch erste Beschlüsse einiger Jugendverbände zeigen, dass die Notwendigkeit von ersten Akteuren erkannt wurde. Doch wenn diese Initiativen mehr sein sollen als bloße Lippenbekenntnisse, wird es größerer Anstrengungen bedürfen.

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3 Ergänzungen

  1. Herzlichen Glückwunsch netzpolitik.org,
    danke Ingo Dachwitz für diesen Artikel.

    Auf die Gefahr hin mich zu weit aus dem Fenster zu lehnen:

    Ich habe netzpolitik.org 2015 im Zuge des „Landesverrats“
    wiederentdeckt. Seitdem lese ich euch regelmässig und bin froh
    und dankbar das es euch und das Thema Netzpolitik gibt.

    Als Vater liegt mir das Thema „Kinder und Jugendliche und Internet“
    sehr am Herzen.

    Ich war sehr erstaunt und enttäuscht, dass nach meiner Wahrnehmung,
    selbst bei euch „Kinder und Jugendliche und Internet“ nur ein Randthema darstellt.

    Letztendlich hat die von mir so wahrgenommene Abwesenheit dieser
    Thematik hier dazu beigetragen, das ich mich noch nicht dazu entscheiden
    konnte netzpolitik.org regelmässig zu unterstützen.

    Ich hoffe bald mehr und regelmässiger „Kinder und Jugendliche und Internet“
    vertreten zu sehen.

    Es würde mich sehr freuen,

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.