„[Praktiker], die sich frei wähnen von jeglichem intellektuellem Einfluss, sind für gewöhnlich Sklaven irgendeines längst verblichenen Ökonomen.“ – John M. Keynes
In der Serie „netzpolitische Dimension“ habe ich vor gut einem Jahr bereits einmal an dieser Stelle über die Studierendeninitative für Pluralismus in der Ökonomie geschrieben – damals anlässlich eines Streits um ein herbeilobbyiertes Vertriebsverbot des Sammelbands „Ökonomie und Gesellschaft“ der Bundeszentrale für politische Bildung (das Buch ist dort trotz Aufhebung des Vertriebsverbots nicht mehr erhältlich). An der damals geschilderten paradigmatischen Konstellation in der (Lehrbuch-)Ökonomie hat sich seither kaum etwas geändert: Noch immer prägen ausschließlich Lehrbücher neoklassischer Prägung das Studium, noch immer finden alternative theoretische Ansätze („Hetorodoxe Ökonomie“) keinen Eingang in das Standard-Curriculum und noch immer stehen ausschließlich quantitativ-ökonometrische Ansätze am Methodenlehrplan (vgl. einen einführenden Vortrag von mir zum fehlenden Pluralismus in der Ökonomie).
Plattform „Exploring Economics“
Nicht untätig geblieben ist jedoch die wachsende, vor allem von Volkswirtschaftsstudierenden getragene Gruppe an KritikerInnen der vorherrschenden Lehrbuchökonomie. Aufbauend auf diversen dezentralen, an verschiedenen Universitäten organisierten Ringvorlesungen des Netwerks Plurale Ökonomik e. V. wurde diese Woche mit der Plattform „Exploring Economics“ eine umfassende Sammlung aus Texten und Videos zu ökonomischen Ansätzen jenseits neoklassischer Lehrbuchökonomie veröffentlicht.
Die kostenlos und offen zugänglichen – leider jedoch nicht durchgängig offen lizenzierten – Materialien sollen Studierende dazu ermuntern bzw. es ihnen möglichst einfach machen, sich mit ökonomischen Theorien jenseits des Standard-Curriculums auseinanderzusetzen. Hinzu kommen ansprechend visualisierte und interaktive Theorievergleiche zwischen verschiedenen ökonomischen Schulen. Geplant ist, die Plattform kontinuierlich um weitere Inhalte zu ergänzen.
„Wirtschaft neu denken“
Eines der aktuellsten auf der Plattform verlinkten Bücher wiederum ist der im November erschienene und im Volltext (PDF) unter einer Creative-Commons-Lizenz verfügbare Band „Wirtschaft neu denken: Blinde Flecken der Lehrbuchökonomie“, herausgegeben von Till van Treeck (Uni Duisburg-Essen) und Janina Urban (FGW NRW).
Der Band besteht im Wesentlichen aus Beiträgen, die prominente ökonomische Standardlehrbücher wie „Grundzüge der VWL“ von Mankiw und Taylor gegen den Strich lesen. Analysiert werden neben grundlegenden Themen wie Menschenbild und erkenntnistheoretischer Unterbau der Lehrbücher auch eine Reihe spezifischer Themen wie jene nach den (fehlenden) Lehren aus der Finanzkrise, der (irreführenden) Konzeption von Kredit und Geld oder der (ideologischen) Diskussion von Mindestlöhnen.
In der Einleitung machen die beiden HerausgeberInnen deutlich, dass die paradigmatische Enge der Ökonomie untypisch für sozialwissenschaftliche Disziplinen ist:
Im deutlichen Gegensatz zu anderen Sozialwissenschaften wie der Soziologie oder der Politikwissenschaft ist die volkswirtschaftliche Hochschulausbildung heutzutage von einer starken paradigmatischen Vereinheitlichung der Lehrinhalte geprägt. In vielen Lehrbüchern geht es nicht darum, konkurrierende Paradigmen mit unterschiedlichen Perspektiven auf wirtschaftliche Zusammenhänge zu würdigen, sondern den Leserinnen und Lesern wird suggeriert, es gebe eine einheitliche ökonomische Denkweise, eine allgemein gültige ökonomische Methode, die auf alle wirtschaftswissenschaftlichen – und prinzipiell alle sozialwissenschaftlichen – Themenbereiche gleichermaßen angewendet werden kann und sollte.
Ihren Fokus auf Lehrbücher rechtfertigen sie unter anderem mit Verweis auf den berühmten Ausspruch des US-amerikanischen Ökonomie-Nobelpreisträgers und Lehrbuchautors Paul A. Samuelson: „Es ist mir egal, wer die Gesetze einer Nation schreibt – solange ich ihre Volkswirtschaftslehrbücher schreiben kann!“ Und konsequenterweise wird das Lehrbuch „Volkswirtschaftslehre“ von Samuelson und Nordhaus gleich in 8 der 20 Beiträge kritisch hinterfragt. Ganz allgemein dient der Fokus auf Lehrbücher der Lesbarkeit und macht das Buch auch für Nicht-ÖkonomInnen gut verständlich.
Fazit
Angebote wie die Plattform „Exploring Economics“ machen es einfacher für ökonomisch Interessierte aller Fachrichtungen, sich zumindest mit den Grundlagen alternativer Denkschulen jenseits neoklassischer Lehrbuchökonomik auseinanderzusetzen. Vor allem an Ökonomie-Studierende richtet sich der Band von van Treeck und Urban, die damit ein starkes Gegengift gegen die einseitige Behandlung ökonomischer Fragestellungen in den in Deutschland verbreiteten Lehrbüchern liefern. Wermutstropfen ist bei beiden Angeboten, dass diese zwar kostenlos, aber nicht (sehr) offen lizenziert zugänglich sind – so erlaubt die Lizenz von „Wirtschaft neu denken“ keine Adaption der Texte und erschwert so die Einbettung in darauf aufbauende Lernunterlagen.
Tolle Arbeit!
Ist mal bei dem Diskurs daran gedacht worden, dass die Physiker in den 1920er Jahren auf die Problematik trafen, verschiedene Phänomene am selben Objekt nur mit verschiedenen Theorien erklären zu können (Welle vs. Teilchen; Schrödinger vs. Heisenberg)? Möglicherweise ergeben sich ja in der VWL ähnliche Effekte statt einheitlicher Theorie.
Und dann stellten sie fest das sie keine Wissenschaftler waren,
sondern Priester und Gläubige einer Religion.
– „Ich aß von der verbotenen Frucht“ – Datalinks
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