„Offener Zugang hilft“: Christian Heise im Interview über die offenste Doktorarbeit der Welt

Vor kurzem hat Christian Heise, ehrenamtlicher Vorstand von Open Knowledge Deutschland, seine Doktorarbeit zum Thema „Von Open Access zu Open Science: Zum Wandel von wissenschaftlicher Kommunikation“ abgegeben. Besonders bemerkenswert ist, dass Heise den gesamt Prozess des Schreibens inklusive Daten unter offene-doktorarbeit.de komplett offengelegt hat.

Christian Heise (Foto: CC-BY)

Lieber Christian, du bist nicht nur ehrenamtlicher Vorsitzender des Vereins Open Knowledge Deutschland, sondern hast Dich auch in den letzten 4 Jahren wissenschaftlich mit dem Thema Offenheit auseinandergesetzt. Worum genau ging es in Deiner Doktorarbeit?

Christian Heise: Ziel der Arbeit war die Darstellung, Analyse und Verhandlung der Annahmen und Definitionen rund um offene wissenschaftliche Erkenntnisprozesse. Eine der Annahmen, unter denen ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt habe war, dass sich die Öffnung des Zugangs zu wissenschaftlichen Erkenntnissen für die Gesamtgesellschaft (Open Access) in einer andauernden Übergangsphase zur Öffnung des Zugriffs auf den gesamten wissenschaftlichen Erkenntnisprozess (Open Science) befindet. Kurz gesagt: Ich wollte untersuchen, ob – und wenn ja, wie und inwieweit – Offenheit in der wissenschaftlichen Kommunikation möglich ist und wie andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darüber denken.

Du hast Dich aber nicht nur inhaltlich mit Open Science beschäftigt, sondern wolltest auch selbst mit Deiner Doktorarbeit Open Science praktizieren?

Christian Heise: Richtig, neben der theoretischen Auseinandersetzung und der Befragung von über 1.100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sollte meine Doktorarbeit jederzeit online nachvollziehbar sein unter offene-doktorarbeit.de. Seit 2013 war die jeweils aktuelle Entwurfsversion der Arbeit im Internet einsehbar, das Vorgehen wurde im Blog dokumentiert und auch die Datensätze meiner Arbeit standen unmittelbar nach Erhebung und Anonymisierung frei zum Download bereit. Im Verlauf der Erstellung der Arbeit wollte ich so meine Vorannahmen den praktischen Gegebenheiten im wissenschaftlichen Alltag gegenübergestellen und diese in einer Art Selbstexperiment untersuchen. Die gesamte Arbeit und all ihre Anhänge standen dafür unter einer offenen Lizenz (CC-BY-SA), durch die jede Person die Inhalte für eigene Zwecke weiterverwenden kann, wenn der Urheber genannt wird. Etwas später habe ich die Daten und den Text auf die Entwicklerplattform „GitHub“ übertragen und auf einer Webseite einfach und nachvollziehbar dargestellt. Seitdem sind auch alle einzelnen Änderungen an der Arbeit als Revisionen online nachvollziehbar.

Das klingt ambitioniert – gab bzw. gibt es irgendwelche internationalen Vorbilder, die das schon so ähnlich gemacht haben wie Du und an denen Du Dich orientiert hast?

Christian Heise: Nicht wirklich. Mir ist kein vergleichbares Vorhaben bekannt.

Rückblickend, was waren die größten praktischen Schwierigkeiten dabei, eine wirklich offene Doktorarbeit zu schreiben?

Christian Heise: Ich hatte immer wieder technische Herausforderungen und ohne programmiertechnische Grundkenntnisse wäre ich nicht in der Lage gewesen, dem eigenen Anspruch an das offene Verfassen der Doktorarbeit gerecht zu werden. Zum Beispiel war meine Doktorarbeit für GoogleDocs schnell zu lang und selbst professionelle, wissenschaftliche Schreibplattformen wie authorea.com kamen mit dem Umfang des Textes nicht mehr klar, also musste am Ende eine eigene Lösung her. Seit Beginn der Erstellung der Arbeit haben sich die Möglichkeiten für das digitale wissenschaftliche Publizieren aber stark verbessert. Vor allem in den letzten zwei Jahren sind eine Vielzahl an Tools und Applikationen entwickelt und veröffentlicht worden, die die digitale Veröffentlichung von wissenschaftlichen Inhalten im Internet vereinfacht haben.

Gab es sonst noch unerwartete Hürden, also jenseits von Softwareproblemen?

Christian Heise: Es war recht lange unklar, ob diese offene Erstellung überhaupt rechtlich erlaubt und mit der Promotionsordnung vereinbar ist. So darf eine Doktorarbeit bei Abgabe zum Beispiel noch nicht veröffentlicht sein, „zum Glück“ gilt in meinem Fall das Internet noch nicht ohne weiteres als formell anerkannter Veröffentlichungsort für wissenschaftliche Kommunikation. Diesen und anderen rechtlichen Herausforderungen im Rahmen der Vereinbarkeit mit dem auf den Druck der finalen Publikation ausgelegten Prozess der Erstellung einer Doktorarbeit konnte ich erst nach einiger Zeit der Prüfung durch meine Universität mit einer schriftlichen Ausnahmeregelung der Promotionskommission begegnen.

Und umgekehrt, was hat besser funktioniert, als Du es erwartet hattest bzw. gab es auch positive Überaschungen?

Christian Heise: Letztendlich, so das Ergebnis des eigenen Experiments der offenen Erstellung meiner Doktorarbeit, sind durch die offene Schreibweise bisher weder fundamentale Vorteile noch unlösbare Hürden für den publizierenden Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin erkennbar. Und das ist gut. Die konkreten positiven Folgen der offenen Publikation von Inhalten und Daten sowie deren Nachnutzung konnten im Rahmen dieser Arbeit noch nicht betrachtet werden. Dennoch, die Reichweite dieser Arbeit und der dazugehörigen Daten übersteigt schon jetzt die von Arbeiten, die geschlossen erstellt wurden. Außerdem habe ich viel Zuspruch und emotionale Unterstützung erhalten, die Arbeit fertigzustellen. Weitere Experimente mit offener Forschungsarbeit sind allerdings notwendig, um zu evaluieren, welche weiteren fundamentalen Vorteile und welche weiteren Herausforderungen, neben den in der Arbeit genannten, die Öffnung der Kommunikation für die Wissenschaft und die Öffentlichkeit mit sich bringt.

Wie sehr ist Deine Herangehensweise verallgemeinerbar und in welchen Bereichen und Disziplinen hältst Du derart offene Arbeitsweise für besonders produktiv?

Christian Heise: Grundsätzlich ist meine Herangehensweise verallgemeinerbar. Ziel des Experiments war auch die Ableitung konkreter Handlungsempfehlungen aus den Erfahrungen beim offenen Verfassen wissenschaftlicher (Qualifikations-)Arbeiten. Ich hoffe damit einen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit der wissenschaftlichen Kommunikation im Rahmen digitaler Möglichkeiten experimentieren und den Wandel digitaler Kulturen der wissenschaftlichen Kommunikation aktiv mitgestalten. Sicher gibt es dabei Unterschiede in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und sicher ist diese Arbeitsweise auch unterschiedlich produktiv, dennoch würde ich mir wünschen, dass es in Zukunft mehr solcher Experimente gibt, um genau das herauszufinden.

Eine wissenschaftliche Arbeit dermaßen offen zu schreiben ist erstmal mit Mehraufwand verbunden. Glaubst Du, das wäre auch im Bereich von kleineren Projekten, also einzelnen Aufsätzen machbar und sinnvoll?

Christian Heise: Stimmt, aber ich bin der festen Überzeugung, dass das bei fast allen wissenschaftlichen Erkenntnissprozessen erstrebenswert, machbar und sinnvoll ist. Der offene Zugang zum wissenschaftlichen Erkenntnissprozess erhöht meines Erachtens nicht nur die Möglichkeiten der Validierung, Reproduzierbarkeit, Effizienz und Verwendbarkeit der wissenschaftlichen Informationen. Offener Zugang hilft auch dabei, dass Wissenschaft und Forschung ihrem Anspruch an Falsifizierbarkeit gerecht werden und zum Beispiel mehr negative, widerlegende oder nicht-erfolgreiche wissenschaftliche Ergebnisse veröffentlichen. Leider verhindern bisher fehlende Anreizsysteme eine nachhaltige Auseinandersetzung mit diesen Themenfeldern und es gibt bisher nur ein geringes Interesse in der wissenschaftlichen Gemeinschaft mit den neuen Möglichkeiten des wissenschaftlichen Kommunizierens zu experimentieren, das Konzept von Offenheit bei der wissenschaftlichen Kommunikation konstruktiv-kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls Grenzen zu definieren.

Wie sieht Deine Zukunft aus – möchtest Du in der Wissenschaft bleiben und hast Du vor, auch die Habilitation auf diese Weise anzugehen?

Christian Heise: Da bin ich mir noch nicht sicher, im Moment bin ich erstmal wieder in einem nicht-wissenschaftlichen Job gelandet. Ich lehre aber weiterhin an der Leuphana Universität und der Hamburg Media School. Eine Rückkehr in die Wissenschaft ist somit nicht ausgeschlossen.

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