„yoUturn“ – ein gelungenes Überwachungs-Experiment

Eine Hauptstraße mitten in Berlin an einem regnerischen Oktoberabend. Nieselregen schleicht sich in den Kapuzenpulli, während ich gespannt am Treffpunkt warte. Plötzlich klingelt das Handy, eine Stimme bellt mich an: „Hinweis hinter dem Schild!“ – aufgelegt. Ich sehe nach und finde eine Plastiktüte mit einer Taschenlampe und Fotokopien: Auszüge aus der Akte, die das Bundesamt für Verfassungsschutz über den Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivisten Rolf Gössner fast 40 Jahre lang geführt hat. Illegal, wie inzwischen gerichtlich festgestellt wurde. Ich lese Gössners Schilderungen, wie er die allzu offensichtliche Beschattung auf der Straße erlebt hat, die vor seinem Haus parkenden Wagen, die Befragungen seiner Nachbarn. Die nächtliche Szenerie, die Einsamkeit allein auf der Straße, umgeben nur von vorbeihuschenden Fremden, die Dokumente geheimdienstlichen Machtmissbrauchs verfehlen ihre Wirkung nicht. Ich beginne zu ahnen, wie es sich anfühlen mag, wenn ein „Dienst“ sich entschließt, das eigene Leben minutiös zu Berichten zu kondensieren.

Überwachung. Sofern man nicht selbst wie Gössner zum Opfer wird, kann man sich kaum vorstellen, wie sie sich anfühlt, konkret und im Alltag. Doch Regisseurin Christiane Mudra (bei Twitter) gelingt es, den Teilnehmern ihrer Performance „yoUturn“ jedenfalls eine Ahnung davon zu vermitteln, was Menschen empfinden mögen, die ins Visier geraten. Viel zu oft nicht etwa, weil sie tatsächlich etwas Unrechtes tun oder gar die Verfassung gefährden, sondern sich nur Gedanken abseits des Mainstreams machen, unbequem sind, kritische Fragen stellen – oder auch nur im Internet surfen und von der Massenüberwachung des Netzes erfasst werden. Mudra nimmt die Teilnehmer mit auf eine Art Schnitzeljagd durch das nächtliche Berlin und führt sie durch sorgfältig platzierte, gleichsam „konspirative“ Hinweise auf drei thematischen Parcours an das Thema Überwachung heran. Dabei vermeidet sie geschickt eine politische Positionierung oder Bewertung: Bespitzelung durch DDR-Behörden, Willkür westdeutscher Stellen und die gegenwärtige Massenüberwachung u.a. durch die NSA werden je nach Tour mit unterschiedlichem Schwerpunkt vor Augen geführt. Doch die Teilnehmer machen sich stets ihr eigenes Bild, die Regisseurin gibt ihnen keine Sicht vor.

Mudra achtet zugleich darauf, dass der Charakter einer Performance erhalten bleibt: Ihre Touren kombinieren die ausgewählten Textpassagen mit geschickt inszeniertem unmittelbaren Erleben. Schauspieler tauchen aus dem Nichts auf, drücken mir Dokumente in die Hand, verschwinden wieder. In der U-Bahn bekomme ich Warnungen zugeraunzt, bald beginne ich, alle Menschen um mich herum zu scannen: Ist der da einer von „denen“? Als ich im Invalidenpark stehe, einem ungemütlichen Stück Alibi-Natur inmitten von Ministerien und Plattenbauten, reißt mich das Telefon wieder einmal aus meinen Gedanken. Am anderen Ende der Leitung „Funksprüche“ zwischen „Agenten“: „Das Büro der Zielperson in der Turmstraße 91 ist operativ bearbeitet … Zielperson befindet sich im Invalidenpark. Schwarze Kleidung.“ Klick.

Sie haben mich im Blick. Wer sind „sie“? Wer weiß das schon. Doch sie sind da, und wenn sie wollen, wissen sie fast alles über mich. Dank „yoUturn“ habe ich einen Eindruck davon bekommen. Hoffentlich war das alles nur ein Spiel.

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5 Ergänzungen

  1. Was Herr Buermeyer hier beschreibt, erlebt mein Freund seit Jahren. Er ist kein Verbrecher, er ist Demokrat. Doch leider gefällt manchen Behörden nicht, welche politischen Überzeugungen er vertritt. Lange habe ich meinen Freund für paranoid gehalten, wenn er mir die wahrscheinlichen Gründe für die Merkwürdigkeiten in unserem Alltag erklärt hat. Wenn in Deinem Leben Vieles schief läuft, muss es nicht daran liegen, dass Du ein Unglücksrabe bist. Zersetzung und Zermürbung funktionieren subtil und schleichend. Gerade weil die Behörden meinem Freund strafrechtlich nicht beikommen können, wird mit solchen üblen Methoden gearbeitet. Da ich die engste Kontaktperson meines Freundes bin, bin ich natürlich automatisch auch im Visier. Deshalb habe ich schon oft mit dem Gedanken gespielt, meinen Freund zu verlassen. Ist dieser ganze Stress, fast jeden Tag, es wert? Will ich wirklich für die nächsten Jahre in diesem Panoptikum leben? Bislang habe ich mich jedes Mal für meinen Freund entschieden. Unsere Liebe ist zu stark, als dass irgendwelche menschenverachtenden Behörden unser Leben zerstören könnten. Jeder Tag, an dem wir uns von den Überwachern und Spitzeln nicht brechen lassen, ist ein Sieg.

    Jedem, der in ähnlicher Überwachungssituation wie wir steckt, möchte ich zurufen:
    Bleibt stark! Bleibt mutig! Lasst Euch nicht brechen! Die Liebe zwischen Menschen, die Liebe zu unserer Demokratie und unserer Freiheit sind stärker!

    Am Ende meines Lebens möchte ich am Sterbebett sagen können: Ja, es war hart. Ja, Du hättest auch den Weg des geringsten Widerstandes gehen können. Aber Du hast Deine Werte nie aufgegeben. Du hast gekämpft. Du hast Haltung gezeigt. Du hast Dir Deine Würde bewahrt. Die Würde in dieser dunklen Welt nicht zu verlieren, gehört zu den größten Erfolgen, die ein Menschen im Leben erreichen kann.

    1. @Jana L.:

      Großer Respekt und Anerkennung, dass Sie Ihrem Freund nicht den Rücken kehren, auch wenn es für Sie persönlich mögliche Einschränkungen gibt!

      Ich bin persönlich (zum Glück) nicht von solchen subversiven Dingen betroffen, wie Ihr Freund. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis auch ich mir mittlerweile gut vorstellen kann und auch von Betroffenen weiß, was alles in unserem demokratischen Rechtsstaat unter der Hand möglich ist, um Bürger mit Zivilcourage auszubremsen und „aufzuhalten“.

      Bleiben Sie stark!

    2. @ jana

      wow, ich möchte nicht in deiner haut stecken. auch von mir respekt, dass du dir deine große liebe nicht vom staat kaputt machen lässt. es gibt tage, da wünsche ich mir, dass ich gerade nur schlecht träume und wenn ich aufwache, wäre alles wieder in ordnung. leider leben wir in einem immerwährenden alptraum. ich würde so gerne vor dieser ganzen scheiße fliehen, aber wohin? egal wohin man schaut, ein ort auf der welt schlimmer als der andere. gibt es hier irgendwo neue planeten zu kaufen? anyone?

  2. So eine „Erlebnismöglichkeit“ sollten wir überall haben! Gratiskarten für die „ich hab doch nix zu verbergen“-Zeitgenossen.

    Sollte eigentlich nicht so schwer sein, sowas selbst vor Ort zu planen …
    Nur ein paar Interessierte müssten sich überall finden.

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