Open Access, das heißt der freie digitale Zugang zu wissenschaftlichem Wissen, ist gerade in Deutschland ein vernachlässigtes Thema. Anlässlich der internationalen Open-Access-Woche 2014 wollen wir mit einer dreiteiligen Artikelserie in die Debatte um Open Access einführen. Nachdem wir im ersten Teil die Geschichte und Funktionsweise des dysfunktionalen Marktes für wissenschaftliche Zeitschriften beschrieben haben, geht es nun um die Gründungsmythen und Verbreitung von Open Access.
Dies ist ein Gastbeitrag von Jeanette Hofmann und Benjamin Bergemann aus der Projektgruppe Politikfeld Internet am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Der Text basiert auf Recherchen für einen Artikel im Band „Thomas Dreier/Veronika Fischer/Anne van Raay/Indra Spiecker gen. Döhmann (Hrsg.), Zugang und Verwertung öffentlicher Informationen, Nomos Verlag Baden-Baden, 2015.“ (im Erscheinen).
Die Gründungsmythen von Open Access
Die zentrale Idee von OA ist, mit öffentlichen Mitteln finanzierte wissenschaftliche Werke allgemein zugänglich zu machen. Allerdings ist OA selbst wiederum ein Sammelbegriff für verschiedene Programme, Ziele und Verfahren, die sich im Laufe der vergangenen Jahre herausgebildet haben. Explizit definiert wurde OA erstmals 2001 im Rahmen der Budapest Open Access Initiative, die die bis heute bekannteste Begriffsbestimmung vorgelegt hat:
„Open Access“ meint, dass Peer-Review-Fachliteratur kostenfrei und öffentlich im Internet zugänglich sein sollte, so dass Interessenten die Volltexte lesen, herunterladen, kopieren, verteilen, drucken, in ihnen suchen, auf sie verweisen und sie auch sonst auf jede denkbare legale Weise benutzen können, ohne finanzielle, gesetzliche oder technische Barrieren jenseits von denen, die mit dem Internet-Zugang selbst verbunden sind. In allen Fragen des Wiederabdrucks und der Verteilung und in allen Fragen des Copyrights überhaupt sollte die einzige Einschränkung darin bestehen, den Autoren Kontrolle über ihre Arbeit zu belassen und deren Recht zu sichern, dass ihre Arbeit angemessen anerkannt und zitiert wird.
Über die Entstehung von OA kursieren mindestens zwei Erzählungen, die beide mit der Digitalisierung beginnen. Die bekanntere Variante führt die Entstehung von OA auf die Zeitschriftenkrise zurück (vgl. den 1. Teil dieser Serie). Demnach waren es rasch steigende, überhöhte Preise für Zeitschriften und restriktive Nutzungsbedingungen, die die Open-Access-Bewegung begründet haben. Die zweite Erzählung erklärt die Entstehung von OA mit dem Wunsch einiger Forscher, die wissenschaftliche Kommunikation mithilfe des Internets zu revolutionieren.
Vor allem in den Technik- und Naturwissenschaften hatte sich schon in den 1970er Jahren eine „pre-print Kultur“ entwickelt. Um den Kommunikationsprozess zu beschleunigen, zirkulierten die Autoren ihre zur Begutachtung eingereichten Artikel zeitgleich unter Kollegen. Ende der 1980er Jahre ersetzte das Internet den Postverkehr und die ersten Disziplinen begannen, ihre Artikel elektronisch zu archivieren. 1991 richtete Paul Ginsparg „arXiv“, den ersten Pre-Print-Server für Physiker ein, der Vorabdrucke nicht nur archivierte, sondern auch allgemein zugänglich und durchsuchbar machte. Im gleichen Zeitraum entstanden die ersten elektronischen OA-Zeitschriften. 1989 gründete Stevan Harnad das Online-Journal Psycoloquy, das der Idee des „scholarly skywriting“ gewidmet war: Untereinander verbundene Texte, Kommentare und Revisionen sollten für alle sichtbar sein, als wären sie in den Himmel geschrieben.
Die treibende Kraft hinter den ersten Initiativen zur Selbstarchivierung, später als „Grüner Weg“ bezeichnet, und Online-Journalen waren also nicht primär hohe Preise oder die Macht der Verlage, sondern die Faszination über die neuen Möglichkeiten, die das elektronische Kommunizieren bot:
Although I knew about the price of subscriptions and the serials crisis at the time, that was not my primary motivation: open online access and interaction was (and still is). (Harnad)
Die verschiedenen Gründungsmythen von OA sind bis heute relevant, denn sie verweisen auf unterschiedliche Zielsetzungen und Lösungspfade. So können die Zeitschriftenkrise und das Problem der Finanzierbarkeit im Prinzip durch Big Deals (vgl. den 1. Teil dieser Serie) großer Bibliothekskonsortien und Nationallizenzen abgemildert werden. Der Verwirklichung von „Skywriting“ kommt man durch Big Deals nicht näher. Weder dehnen diese den Zugang zu wissenschaftlichen Werken auf alle Bürger aus, noch erlauben sie eine Nachnutzung von Texten und Daten. Die wissenschaftliche Kommunikation wird auch weiterhin durch die Lizenzpolitik der Verlage bestimmt.
Die OA-Erzählung, die in den Selbstarchivierungs- und Kooperationspraktiken der 1980er und 1990er Jahre wurzelt, begnügt sich also nicht mit einem lizensierten Zugang für WissenschaftlerInnen, sondern sie führt über den Grünen Weg zu „Libre OA“ (siehe unten) und von dort aus weiter zu „Open Science“.
Als wissenschaftliche Graswurzelbewegung beschränkte sich OA zunächst auf wenige Disziplinen wie Physik, Kognitionsforschung und Biologie bzw. Biomedizin. Ein „subversive proposal“, das dazu aufforderte, Publikationen künftig grundsätzlich online zugänglich zu machen, fand kein breites Echo. Allerdings entstanden im Laufe der 1990er Jahre immer mehr Repositorien und Literaturdatenbanken und gegen Ende der 1990er Jahre gewann der Unmut über die Preispolitik der Verlage allmählich Momentum. Neben Kampagnen, Deklarationen, Manifesten und Boykottaufrufen kam es zu Rücktritten ganzer Zeitschriftenredaktionen und Neugründungen von OA-Journalen. Gleichzeitig zeigten sich Institutionalisierungstendenzen, die die OA-Mythen bzw. Ansätze miteinander verknüpften und auf Dauer stellten.
Open Access etabliert sich
1999 gründete sich die Open Archives Initiative, die plattformübergreifende Metadaten für die Suche von OA-Publikationen entwickelt. Einen weiteren wichtigen Schritt zu mehr Interoperabilität bildete die Entwicklung der EPrints Software im Jahr 2000, mit der Forschungseinrichtungen OA-Repositorien schaffen können. Im Jahr 2003 entstand das Directory of Open Access Journals und damit zugleich Mindeststandards für die Definition von OA-Zeitschriften. Zugleich dehnte sich der OA-Gedanke auf weitere Bereiche aus. So führte das MIT 2002 das OpenCourseWare Projekt ein, um Lehrmaterialien kostenlos zugänglich zu machen. Im gleichen Jahr startete eine Gruppe um Lawrence Lessig die Creative Commons Initiative. Die modularen Lizenzen sind im Kontext von OA wichtig, um (Nach)nutzungsmöglichkeiten für Texte, Daten und andere wissenschaftliche Erzeugnisse festlegen zu können. Davon kann etwa abhängen, ob Textmining oder Übersetzungen ohne Weiteres möglich sind.
Um die Jahrtausendwende hatte sich OA soweit etabliert, dass erste OA-Verlage entstanden und eine Ausdifferenzierung von Geschäftsmodellen einsetzte. Wiederum bildeten die Biomedizin sowie die Natur- und Technikwissenschaften die Vorreiter. Zwei ikonische Beispiele sind der im Jahr 2000 gegründete britische Verlag Biomed Central und der gemeinnützige US-Verlag Public Library of Science (PLoS), die beide als Wegbereiter in der von OA gelten.
Biomed Central gilt als der erste erfolgreiche kommerzielle OA-Verlag. Sein Gründer, Vitek Tracz, experimentierte mit Geschäftsmodellen für OA-Verlage und führte im Jahr 2002 das „author pays“ Prinzip ein:
So we said: „OK, we will turn the current model upside down and offer the research articles free to readers and charge for services to authors.
Im Jahr 2008, als sich Biomed Central als weltweit größter OA-Verlag etabliert hatte und knapp 200 Zeitschriften herausgab, kaufte Springer das Unternehmen – ein Beleg nicht nur für den Gesinnungswandel der Wissenschaftsverlage, die OA bis dato bekämpft hatten, sondern auch für die Erfolgsaussichten des Geschäftsmodells.
Die Ursprünge von Public Library of Science (PLoS) liegen in einer erfolglosen Initiative von Wissenschaftlern im Umfeld der Biomedizin. Im Jahr 2000 hatten sie die Wissenschaftsverlage aufgefordert, Forschungsliteratur in öffentlichen Repositorien wie PubMed Central zugänglich zu machen und zudem angedroht, künftig nur noch in OA-Journalen zu publizieren. Nachdem die von mehr als 30.000 WissenschaftlerInnen unterstützte Petition weitgehend folgenlos blieb und der Boykott mit Durchsetzungsproblemen zu kämpfen hatte, entschieden sich die Initiatoren, PLoS zu einem nicht-kommerziellen OA-Verlag auszubauen. Den Gründern von PLoS ging es neben dem Zugang vor allem auch um die Verfügbarkeit öffentlich finanzierter Forschung:
Should the reward for the publishers’ small contribution be permanent, private ownership of the published record of scientific research, and monopoly control over how, when and by whom a paper can be read or used and how much this access will cost? No!“ (Eisen & Brown, Gründer von PLoS).
Die seit 2003 bei PLoS erscheinenden Journale veröffentlichen ihre Artikel unter der Creative-Commons-Lizenz CC-BY. Die Finanzierung von PLoS orientiert sich jedoch interessanterweise am „author pays“ Modell des kommerziellen BioMed Central Verlags.
Grün, Gold, Freiheit oder Freibier: Die Spielarten von OA
Spätestens mit der Etablierung von Verlagen gabelten sich die OA-Strategien. Auf der einen Seite breiteten sich Repositorien für die öffentliche Selbstarchivierung aus. Auf der anderen Seite entwickelte sich eine Zeitschriften- und Verlagslandschaft, die unter dem Vorzeichen unterschiedlicher Ziele mit kommerziellen bzw. nicht-kommerziellen Publikationsmodellen experimentierte. Um 2004 haben sich für diese zwei wichtigsten Verbreitungsmodelle die Bezeichnungen „Grüner“ und „Goldener“ Weg durchgesetzt. Der Grüne Weg bezeichnet die Archivierung von Beiträgen in Repositorien (öffentlichen Dokumentenservern). Die Veröffentlichung in OA-Zeitschriften entspricht dem Goldenen Weg.
Eine weitere wichtige Unterscheidung betrifft die Art und den Umfang der Offenheit. „Gratis OA“ signalisiert das Fehlen von Preisbarrieren; „Libre OA“ steht für den Verzicht zumindest eines Teils der urheberrechtlichen Nutzungsrestriktionen. Diese Unterscheidung entspricht jener zwischen „free beer“ und „free speech“ in der Debatte um freie Software.
Orientiert an diesen vier Grundtypen haben sich einige Mischformen von OA entwickelt. An erster Stelle ist hier das zeitverzögerte („delayed“) OA zu nennen, das AutorInnen erst nach einer Embargophase die Selbstarchivierung ihrer Artikel erlaubt. Ferner sind viele Verleger zu Hybridlösungen übergegangen. Sie bieten ForscherInnen an, ihre Beiträge, die sie in konventionellen Journalen veröffentlichen, für durchschnittlich 3000 USD „freizukaufen“. Dieses Hybridmodell steht im Ruf des „double dipping“, eine Praxis bei der Verlage gleichzeitig Subskriptions- und Publikationsgebühren erheben. Open Access wird auf diesem Wege zur Zusatzeinnahmequelle der Verlage, während das dysfunktionale wissenschaftliche Publikationssystem auf Basis von Subskriptionsgebühren unangetastet bleibt (vgl. den 1. Teil dieser Serie).
Ein Tropfen im Ozean: Zur Verbreitung von Open Access
Auf den ersten Blick weisen die Zahlen zur Verbreitung von OA seit vielen Jahren kontinuierlich nach oben. Obwohl die Mehrzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen nach wie vor nicht allgemein zugänglich ist, liegt der Anteil von OA schätzungsweise zwischen 10 und 20%. Eine aktuelle Studie im Auftrag der EU-Kommission stellt eine noch höhere OA-Verbreitung fest. Ihr zufolge liegt der OA-Anteil bei neueren Veröffentlichungen bei bis zu 50%. In einigen EU-Mitgliedsstaaten wie Großbritannien scheint der Umschlagpunkt inzwischen sogar überschritten zu sein, so dass mehr als 50% aller neueren Artikel in irgendeiner Form frei zugänglich sind.
Zahlen zu OA – nicht nur jene aus der EU-Studie – sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Wie oben gezeigt, gibt es mehrere mögliche Definitionen von OA. Was die jeweiligen Studien unter „frei zugänglich“ verstehen und subsumieren, differiert stellenweise enorm. Das führt zu unterschiedlichen Ergebnissen und Schlussfolgerungen. Kurzum, wird mit diesen Zahlen auch Politik gemacht. So heißt es in der erwähnten EU-Studie:
Auch die Anzahl der OA-Journale ist im Wachstum begriffen. So weist das Directory of Open Access Journals augenblicklich knapp 10.000 Zeitschriften und rund 1.7 Millionen Artikel aus. Diese Erfolgsmeldungen täuschen allerdings darüber hinweg, dass die Bedeutung der etablierten Core Journale in den meisten Disziplinen ungebrochen und die Mehrzahl wichtiger Artikel weiterhin hinter Bezahlschranken verschlossen ist. Nur in den Disziplinen Biologie, Physik und Gesundheitswissenschaften haben sich OA-Journale als ernsthafte Alternative etablieren können.
Ob Gold oder Grün: Ein US-amerikanischer Biologe profitiert bislang ungleich mehr von Open Access als eine deutsche Sozialwissenschaftlerin. Im EU-Vergleich gehört Deutschland nämlich zu den Schlusslichtern und die Human- und Sozialwissenschaften zählen wiederum zu jenen Fächern, in denen sich OA bis heute nicht durchgesetzt hat. OA stellt in den meisten Disziplinen nach wie vor ein Randphänomen dar; die große Masse der akademischen Veröffentlichungen ist nicht frei zugänglich. Man setze sich an seinen Rechner und versuche die relevante Literatur zu einem Forschungsproblem im Internet zu recherchieren, ohne auf eine Universitätsbibliothek zurückgreifen zu können. Auch um diesen Artikel zu schreiben, mussten wir auf Informationen zurückgreifen, die nur Angehörigen gut situierter Wissenschaftseinrichtungen zugänglich sind.
In diesem Teil unserer Serie haben wir die Geschichte und Spielarten von Open Access beleuchtet. Es zeigt sich, dass Open Access nicht gleich Open Access ist. Die Fragen, was als OA gilt, wie der künftige Kurs von OA aussehen soll und welche Rolle die Verlage dabei spielen, sind immanent politisch. Der dritte Teil unserer Serie wird sich daher der politischen Dimension von OA widmen.
Einige (frei verfügbare) Referenzen
Zur Geschichte von Open Access:
Zeitleiste zur Geschichte von OA von Peter Suber (bis 2009)
Poynder, Richard (2014): The Subversive Proposal at 20. Open and Shut?
Zu den Spielarten von Open Access:
Suber, Peter (2012): Open access (Kapitel 3). Cambridge, Mass: MIT Press.
Zur Verbreitung von Open Access:
Macilwain, Colin (2013): Is Open Access Finally on the Ascendancy?: This May Be the Year for Reality to Catch up with Rhetoric. In: BioScience, 63 (1), 7–11.
Europäische Kommission (2013): Freier Zugang zu Forschungsveröffentlichungen steht vor dem Durchbruch (Zusammenfassung mit Links zu den Studien).
Danke für die Übersicht.
Gibt es eigentlich mittlerweile irgendeine Terminologie um zwischen Subskriptionsgebührbasierten oder Publikationsgebühr basierten Veröffentlichungen zu unterscheiden? Offensichtlich hatte ich mir nämlich „gold access“ tatsächlich offensichtlich fälschlicherweise als publikationsgebührenerhebenden Access gemerkt gehabt:
Aber vielleicht war das ja auch ursprünglich so, aber dann führten die Verlage das Hybridmodell ein.
Kurz gesagt: Goldener Weg = Autorengebühren; Hybrid OA (vulgo: double dipping) = Kaufen einer OA-Option in einem Journal mit Subskriptionsgebühren. Der Grüne Weg hat immer neben anderen Optionen (Subskription; Golden OA) bestanden und kann das auch in Zukunft tun – günstiges politisches Klima vorausgesetzt ;)
Naja ein OA könnte natürlich im Prinzip auch mit Subskriptionsgebühren existieren. Dh Bibliotheken etc. unterstützen einen Verlag zb per Abo oder ähnlichem, letztendlich funkionieren ja die nicht gepeerreviewten Repositories in der Regel so. Ob das auch mit den bei OA’s entstehenden höheren Kosten so funktioniert ist eine andere Sache, ich wollte hier erstmal nur die Terminologie auseinanderdröseln.
sowas wie subfee oder pubfee based?