An einem schönen Herbstabend saß ich mit einer Frau in einem Café. Wir tranken Tee und rauchten selbstgedrehte Zigaretten. Die Frau sollte schon bald in ein Flugzeug steigen und das Land verlassen. Hätten wir uns verliebt, wenn wir ein wenig mehr Zeit gehabt hätten? Oder verliebten wir uns gerade deshalb, weil unser Ende bereits feststand? Wir wussten keine Antwort darauf, also schwiegen wir, bis aus einem Gedanken der Satz wurde, den doch alle schon einmal gedacht oder ausgesprochen haben: „Das ist wie im Film.“
Immer dann, wenn unsere Vorstellungskraft ihre Grenze erreicht, drängt sich der Filmvergleich auf. Es sind Bilder aus der Popkultur und den sozialen Medien, die uns in solchen Momenten als Referenz dienen. So wie viele Menschen beim Anblick des Besonderen gedankenlos ihr Smartphone zücken, um sich ein Bild zu machen, schiebt sich beim Gefühl des Besonderen ein fremdes Bild vor die Realität. In beiden Fällen entsteht eine Distanz zur Gegenwart.
Laut dem Markenstrategen Eugene Healey spielt der „Life as a Movie“-Trend in den sozialen Medien dabei eine essenzielle Rolle. Durch das dauerhafte Beobachten und Beobachtetwerden beginnen die Nutzer auch im analogen Leben, sich selbst in der dritten Person wahrzunehmen. Healey vergleicht diesen dissoziativen Effekt mit der Wirkung der Droge Ketamin.
Fiktionalisierende Begriffe
Das Leben als seinen persönlichen Film zu begreifen, bedeutet gleichzeitig sein eigener Regisseur, Hauptdarsteller, Maskenbildner, Skriptschreiber und Bühnenbildner zu sein. Neu ist dieser Gedanke nicht. Das Barock gilt als theatrales Zeitalter, indem sich die Vorstellung der Welt als Theaterbühne entwickelt. Im 19. Jahrhundert proklamiert der „Ästhet der Ästheten“ Oscar Wilde, dass das Leben die Kunst weit mehr nachahme als die Kunst das Leben.
Auch eine lange Reihe von Denkern und Kulturkritikern kommt seit vielen Jahrzehnten zu dem Schluss, dass das Fiktionale die Realität dominiere. Allerdings hat die Herrschaft der Bilder durch die sozialen Medien ihre bislang durchschlagskräftigste Waffe erhalten.
Darauf weist auch die Beliebtheit der zeitgenössischen Netzbegriffe „Main Character“, „Lore“, „Plot“, oder „Aura“ hin, die alle zum „Life as a Movie“-Kosmos gehören. Wer „Main Character Energy“ besitzt, handelt wie der Protagonist einer Geschichte. Um den Main Character dreht sich die Erzählung, er steht im Rampenlicht beziehungsweise sieht er sich dort am liebsten. Die „Lore“ fasst das gesamte Wissen über eine fiktive Welt zusammen. Auf sozialen Medien finden sich knackige Sprüche wie „U can steal my swag but you can’t replicate my lore“, zu Deutsch etwa: „Ihr könnt meinen Style kopieren, nicht aber meine Story erleben.“
Unternehmen bestimmen die Geschwindigkeit
Die Begriffe dienen allesamt dem Worldbuilding, ein Prozess aus der Erzähltheorie, das den Aufbau einer fiktiven Welt beschreibt. An einer umfassenden Kultur der Fiktionalisierung wäre prinzipiell nichts auszusetzen, wenn sie nicht der maßgeblichen Unterwanderung und Beeinflussung durch Unternehmensinteressen unterliegen würde.
Für Facebook, Instagram, TikTok und Google steht das Geld ihrer Kunden über dem Wohlbefinden ihrer Nutzer. Das Design der Plattformen – darunter fallen die Empfehlungen auf den For-You-Pages, Algorithmen, Bewertungssysteme wie Likes und Klickzahlen sowie penetrante Benachrichtigungen – treibt die Nutzer dazu an, sich selbst in einer unmenschlichen Geschwindigkeit zu reproduzieren, ihre Identität zu performen und so viel Zeit wie möglich am Smartphone zu verbringen.
Die sozialen Medien lenken die Geschwindigkeit, mit der ihre Nutzer Content erstellen und sehen. Quantität wird algorithmisch belohnt. Dementsprechend können wir einen Großteil des Contents als Massenprodukt verstehen. Qualität steht für Wachstum und Bedürfnissteigerung meist an hinterer Stelle, insofern sie überhaupt einen Stellenwert besitzt. So entstehen billige Bilder, billige Memes und billige Atmosphären, denen wir täglich ausgesetzt sind und die unsere Vorstellungskraft mit großer Autorität besetzen.
Die neue Traumfabrik
Gleichzeitig haben Content Creator die alte Traumfabrik Hollywood abgelöst. Ihre Bilder sehen in kürzester Zeit mehr Menschen, als zu analogen Zeiten in alle Kinos Deutschlands gleichzeitig hineinpassten.
Zur Zeit des Fernsehens waren die Rezipienten den großen Emotionen des Films und den zugehörigen Werbeblöcken zum abendlichen Fernsehen nur wenige Stunden ausgesetzt. Heute aber fluten die Bilder bereits wenige Minuten nach dem Aufstehen über uns. Und dieser Strom versiegt bis zum Schlafengehen nicht.
Ein Entzug ist beinahe unmöglich – mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung nutzt soziale Medien. Wer sich von ihnen fernhält, läuft Gefahr, eine wichtige Verbindung zur Gesellschaft zu verlieren. Für das Marketing ergibt das die einmalige Gelegenheit, zu jeder Zeit Botschaften und Produkte neben Nachrichten und Bildern von geliebten Menschen und weiteren Herzensangelegenheiten zu platzieren.
Aneignung von Trends
Selbstverständlich sind kommerzielle Marken schon auf den „Life as a Movie“-Trend aufgesprungen. Sie wollen die Requisiten für die Inszenierung des eigenen Lebens liefern. Denn wer oft in neue Hauptrollen schlüpft, braucht entsprechend viele Kostüme.
Jede Art der Inszenierung, und sei sie noch so kleinteilig, bekommt ein Label, das mit einer Palette an Produkten verknüpft ist. Aus der „Vorliebe“ für Pasta, Aperol Spritz und die Farbe Rot entsteht ein Mikrotrend auf sozialen Medien namens „Tomato-Girl-Summer“, der als Schablone dient. Der „Tomato-Girl-Summer“ führte laut Vogue Business zu einem gut sechsfachen Anstieg der Suchanfragen nach roten Leinenhosen auf der Verkaufsplattform Depop. Die Kunsthistorikerin Agnieszka Wodzińska beschreibt das „als die Kommerzialisierung jedes noch so kleinen Aspektes unseres Lebens durch Labeling“.
Die Dating-App Tinder wirbt mit dem Bild eines Pärchens, das sich auf einem Bahnsteig zum Abschied küsst. Aus den Zugfenstern starren die Passagiere mit eingefrorenem Lächeln auf die beiden. „Having a Main Character Moment“ lautet der Werbeslogan. Spotify schlägt mir eine personalisierte „my life is a movie“ Playlist vor, denn nach dem Musikstreaming-Dienst „brauche jeder Main Character seinen Soundtrack“.
Ästhetik als Grundbedürfnis
Das Marketing hat durch den Zugang zu sozialen Medien und den Bildern eine schier unerschöpfliche Steigerungsmöglichkeit erhalten. Ironischerweise prophezeit der Markenstratege Healey deshalb die Erstickung von Kultur durch Marken. Sie würden sich jede digitale Subkultur kurz nach deren Entstehung aneignen, aus der Nische in den Mainstream holen und damit verflachen.
Dabei ist der Transfer der analogen Welt ins Digitale nicht mehr aufzuhalten. Im theatralischen Zeitalter der sozialen Medien erreicht die Inszenierung einen neuen Höhepunkt. Wir müssen uns in dieser Atmosphäre der Überreizung und Beschleunigung zurechtfinden und entfalten dürfen.
Requisiten eines Schauspiels oder Ausdruck echten Gefühls?
Der winterliche Gang zum Mülleimer, das von leiser Jazzmusik untermalte Schweigen in einer Bar oder der Genuss eines sommerlichen Spritz dürfen sich anfühlen wie ein Film – sie sollten nur nicht zwangsläufig mit einem Modelabel wie Balenciaga oder einer teuren Leinenhose verknüpft sein. Und alle „Main Characters“ können sich hin und wieder fragen, ob ihr „Life as a Movie“ Teil einer oberflächlichen Inszenierung oder der Ausdruck echter Emotionen ist.
Vom Abschied im Café blieb mir nur eine Plastiktüte mit zurückgelassenen Habseligkeiten – und eine wichtige Erkenntnis aus der Literatur. Was ein bereits verstorbener Schriftsteller zu Lebzeiten über seine Zunft sagte, trifft wohl noch heute auf die digitalen Geschichtenerzähler, Werbefachleute und viele „Main Characters“ zu: „Sie bereiten eine Bühne für die großen Gefühle vor. Aber wenn es dann Zeit für die großen Gefühlen ist, passiert einfach nichts.“
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