Ohne EinverständnisDein Bild als Beute

Das heimliche Filmen in der Öffentlichkeit hat sich zu einem eigenen Genre in den sozialen Medien entwickelt. Auf der Jagd nach authentischen Inhalten setzen sich Content Creator:innen über die Privatsphäre und Rechte ihrer Mitmenschen hinweg. Eine neue Form der Überwachung entsteht.

Frau filmt durch ein Fenster.
Content Creator:innen verwandeln die zufällige Schönheit eines besonderen Moments in visuelles Kapital. – Public Domain generiert von Vincent Först mit Midjourney

Lennart* sitzt im Fenster seiner Berliner Wohnung und raucht. Aus einem Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite richtet ein unbekannter Musiker die Linse seiner Handykamera auf den jungen Mann und beginnt zu filmen. Lennart nimmt einen Zug von seiner Zigarette, schüttelt sachte den Kopf, als würde er einen unliebsamen Gedanken verscheuchen und blickt verträumt die Straße hinunter. Der Musiker stoppt die Aufnahme. Er legt seine neue Single unter das Video und veröffentlicht den Clip auf Instagram. Lennarts Cousine ist die erste einer ganzen Reihe von Freund:innen, Familienmitgliedern und Bekannten, die sich mit einem Link zum Video meldet: „Hier, deine fünfzehn Sekunden Fame.“ Lennart antwortet schockiert: „What the fuck“. Innerhalb weniger Tage sehen über zwei Millionen Menschen das Video.

In den Kommentaren häufen sich derweil kritische Stimmen: „New Fear unlocked: those days while you’re sitting on window smoking as you wanna process your shitty day someone else is also watching and recording like leave ppl alone“. Knapp zwanzigtausend Likes gibt es für den Beitrag „A ***** can’t even sit out his window and have a cig in peace anymore smh (Abk. für shake my head)“. Eine empörte Nutzerin fragt: „Can we stop normalising filming strangers?“

Mitmenschen als Content

Das Verhalten ist bekannt: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit zücken Menschen ihr Smartphone und beginnen zu filmen oder zu fotografieren. Sie verarbeiten ihre Umwelt dabei zu „Content“, sprich in digitale Inhalte, die sie online teilen. Da sich beinahe die gesamte westliche Gesellschaft auf sozialen Medien bewegt, konsumieren und produzieren ihre Akteur:innen unablässig Content. Das gilt sowohl für Unternehmen von Duolingo bis Ryanair, Personen des öffentlichen Lebens wie Leichtathlet:innen oder Pornostars, Prominente, Künstler:innen und die, die es werden wollen, sowie für eine stetig wachsende Zahl an Privatpersonen.

Aus dem Kreieren und Teilen von digitalen Inhalten respektive Content durch Nutzer:innen sozialer Medien ist unlängst ein eigener Wirtschaftszweig entstanden. Die sogenannte „Creator Economy“ setzt um die 250 Milliarden Dollar pro Jahr um, Tendenz steigend. Es soll inzwischen über 200 Millionen Content Creator:innen auf dem Planeten geben. Davon verdienen nur etwa ein Prozent ihren Lebensunterhalt mit der Erstellung von Content.

Die Architektur und Funktionsweise sozialer Medien gibt eine auf Masse ausgelegte Postingfrequenz vor, die Creator:innen dazu ermuntert, so viel Content wie möglich zu produzieren. Um für das Publikum eine Projektionsfläche zu bieten, versuchen Creator:innen ihren Content „relatable“ zu gestalten. Relatable sind Inhalte dann, wenn sich die Nutzer:innen sozialer Medien mit ihnen identifizieren können.

Dazu gilt auf Instagram, TikTok und Co. vermeintliche „Echtheit“ als wertvolles Gut. Heimliche Aufnahmen versprechen Authentizität, da sich die Gefilmten „natürlich“ verhalten. Symbolträchtige und stark emotionalisierte Handlungen und Bilder sind besonders beliebt. Diese Art von Content funktioniert so gut auf den sozialen Medien, dass sich um das heimliche Filmen in der Öffentlichkeit inzwischen eigene virale Genres gebildet haben.

Frau filmt Mann durch Fenster
Heimliche Aufnahmen versprechen Authentizität, da sich die Gefilmten „natürlich“ verhalten. - Public Domain generiert von Vincent Först mit Midjourney

Aufnahmen ohne Zustimmung der Gefilmten

Für den Trend „what people are wearing“ filmen Beobachter:innen aus Cafés, Restaurants, Bars oder den eigenen vier Wänden vorübergehende Passant:innen mit ausgefallenen Outfits – ohne vorher zu fragen. Die Zusammenschnitte der Aufnahmen werden später auf TikTok und Instagram geladen.

Unter den Suchbegriffen „NPC encounter“ oder „NPC conversations“ finden sich Aufnahmen von Menschen, die sich in der Öffentlichkeit „abnormal“ bis aggressiv verhalten. Der Begriff „NPC“ stammt aus der Videospielkultur. Die Abkürzung steht für „Non-Player-Character“ und beschreibt computergesteuerte Charaktere, die sich nach einem von den Spiele-Entwickler:innen vorgegebenen Handlungsmuster verhalten. Ihre repetitiven Monologe und Bewegungen sind oft unfreiwillig komisch.

Die Filmenden machen die Interaktionen mit den menschlichen „NPCs“ zu einem Spektakel, das ein Millionenpublikum über den Smartphone-Bildschirm begafft und verhöhnt. Wer „NPC berlin“ in der Suchleiste von Tiktok eingibt, bekommt unter anderem Videos von schlafenden Obdachlosen und Junkies beim Drogenkonsum in Berliner U-Bahnstationen angezeigt.

Im Rahmen des „random act of kindness“ Trends filmen sich Menschen dabei, wie sie anderen Menschen vorgeblich etwas Gutes tun, um die Videos dann auf ihren Kanälen hochzuladen. Dafür überreichen Creator:innen vor laufender Kamera Blumensträuße an alte Damen oder schenken Bettler:innen ein Mittagessen.

Die Verlockung der Reichweite

Auch wenn TikToker:innen an Bahnhöfen und in Fußgänger:innenzonen Trends nachtanzen, im Fitness-Studio schwitzen, oder sich als Tube-Girls in U-Bahnen inszenieren, geraten dabei zwangsläufig andere Menschen ins Bild. Eine Verpixelung der Gesichter findet dabei nur in den seltensten Fällen statt. Im Gegenteil heben Creator wie ducuri.gmv oder babalagrande unfreiwillige Interaktionen sogar mit Texteinblendungen über den Köpfen der Gefilmten hervor.

Wenn sich die Nutzer:innen über Inhalte empören und wie in Lennarts Fall ihren Ärger in kritischen Kommentaren ausdrücken, dient das der algorithmischen Verbreitung des Videos. Denn negative Gefühle erregen mehr Aufmerksamkeit – ein Katalysator für „streitbaren“ Content. Der Bruch der Privatsphäre lohnt sich.

Obwohl ein virales Video noch keine Goldgrube für Creator:innen darstellt, hat die Verlockung der Reichweite eine starke Anziehungskraft entwickelt, hinter der Bedenken über Privatsphäre und mögliche Folgen für Gefilmte verblassen. Für die Betroffenen besteht die latente Gefahr, später als Meme durch das Netz zu geistern.

Unternehmerischer Blick

Selbstverständlich sind Smartphone-Kameras auch Waffen gegen Machtmissbrauch und Empowerment-Instrumente. Die Aufdeckung unzähliger Straftaten ist der Zivilcourage von Filmenden zu verdanken. Durch ihre Reichweite verschaffen Influencer:innen und Filmende wichtigen Themen die nötige Aufmerksamkeit. Wenn ein Künstler betrunkene Business-Männer auf Tokios Straßen fotografiert, sagt das immerhin etwas über die Arbeitskultur der japanischen Gesellschaft aus. Der umstrittene Rüpelfotograf Bruce Gilden, der Fußgänger:innen auf den Straßen New Yorks regelrecht auflauert und Portraits ohne deren Einwilligung schießt, ist mit seinem tragbaren Blitz und der analogen Kamera wenigstens als Fotograf identifizier- und ansprechbar. Den Aufnahmen der unsichtbaren Creator:innen liegt dagegen oft kein künstlerischer oder aktivistischer Impuls zugrunde.

Es geht um Masse, Clicks und Reichweite, die harte Währung der sozialen Medien. Linoya Friedman, die selbsternannte Erfinderin von „what people are wearing“, hat um den Trend eine Marke aufgebaut. Fans können die Outfits der gefilmten Menschen schnell und unkompliziert über Affiliate-Links nachshoppen. Friedman kassiert dafür Provisionsgebühren.

Eine französische Bloggerin filmt von ihrem Büro aus Pariser Bürger:innen, lädt die Videos unter dem Hashtag #stylespy auf Instagram hoch und geht damit regelmäßig viral. Die dadurch gewonnene Reichweite hilft beim Verkauf der selbstgeschriebenen Reiseführer.

Dazu folgen zahlreiche Amateur-Accounts dem Erfolgsrezept des heimlichen Filmens in der Hoffnung, einen viralen Hit zu landen. Sie geben sich als versteckte Dokumentarfilmer:innen aus, wenn sie beispielsweise mit „love at every age“ betitelte Videos von einer zu Straßenmusik tanzenden Mutter mit Kind auf dem Arm hochladen oder einen gutaussehenden jungen Mann wie Lennart filmen, der verträumt in den Berliner Himmel blickt und bewerben gleichzeitig eigene Produkte. Die Creator:innen ignorieren dabei, dass in Deutschland ein Recht am eigenen Bild existiert.

Menschen mit Smartphones
Die dauerhafte Präsenz von hochauflösenden Kameras hat die Welt verändert. - Public Domain generiert von Vincent Först mit Midjourney

Heimliches Filmen kann strafbar sein

Die heimliche Anfertigung von Videoaufnahmen von Privatpersonen sei häufig rechtswidrig, sagt Nima Valadkhani, Rechtsanwalt und Experte für Urheber-, Medien- und Kartellrecht der Kanzlei Advant Beiten. Im Fall von Lennart gelte dies umso mehr, da er sich innerhalb seiner Wohnung befinde. Eine Wohnung unterliegt, ähnlich wie ärztliche Behandlungszimmer oder Umkleidekabinen, einem besonderen rechtlichen Schutz gegen Einblicke. Hinzu komme, dass der Musiker Lennart im Rahmen einer geschäftlichen Handlung dazu „benutzt“, um seine neue Single zu bewerben.

Betroffene hätten Anspruch auf Schadenersatz, die Löschung des Videos, Auskunft, wo das Video überall hochgeladen wurde und gegebenenfalls auch darüber, wie viel Gewinn der Urheber mit dem Video erzielt hat. Dass gegen Täter:innen juristische Mittel eingelegt werden, passiert in Deutschland aber nur selten, auch weil die gefilmten Personen keine Kenntnis über die Veröffentlichung erlangen.

Schlafende und hilflose Menschen zu filmen sei ein massiver Eingriff am Recht am eigenen Bild und kann sogar strafrechtlich relevant sein, da sich die Betroffenen in einem Zustand der Ohnmacht befinden. Ein Gericht könne hier Geld- oder gar Haftstrafen verhängen. Laut Valadkhani komme es für die zivil- und strafrechtliche Bewertung jedoch immer auf den Einzelfall und die Rechtsanwendung durch die zuständigen Richter:innen an.

Symbol der Oberflächlichkeit

Nach einem Treffen mit Lennart und den Hinweis auf die Rechtswidrigkeit der Veröffentlichung hat der Musiker das virale Video entfernt. Der Vorfall hat sich für ihn trotzdem gelohnt: Immerhin haben zwei Millionen Menschen, die das Video auf Instagram gesehen haben, seine Musik gehört – mehr als jemals zuvor. „Eine gewisse Genugtuung gab es da trotzdem“, sagt Lennart im Gespräch mit netzpolitik.org. „Einige Leute haben in mir wohl Dinge gesehen, mit denen ich mich teilweise auch identifizieren kann. Das beweist ja, dass ich eine gewisse Ästhetik transportiert habe.“

Die Interpretationen des Videos in der Kommentarspalte lieferten dafür ein falsches Bild von der Situation. Dabei stört Lennart ganz grundsätzlich das Täuschungspotential sozialer Medien: „Als virale Persona werde ich gewissermaßen zu einem Symbol für diese Oberflächlichkeit. Denn ehrlich gesagt hatte ich in diesem Moment keine besonders tiefen Gedanken. Ich saß einfach da und war ich selbst.“ Für Lennart bleibt das unbehagliche Gefühl, im Fenster der eigenen Wohnung jederzeit beobachtet werden zu können. Seitdem hat sich seine Selbstwahrnehmung verändert. „Eigentlich will ich mir keine Gedanken über mein Aussehen machen, wenn ich in meinem Fenster oder auf meinem Balkon sitze“, sagt Lennart. Damit sei es seit der Veröffentlichung des Videos vorbei.

Frau filmt aus dem Fenster
Es entsteht eine neue Form privater Überwachung. - Public Domain generiert von Vincent Först mit Midjourney

Eine neue Form der Überwachung

„Das Bedürfnis nach Bestätigung der Realität und Ausweitung des Erfahrungshorizonts durch Fotografien ist ein ästhetisches Konsumverhalten, dem heute jedermann verfallen ist. Die Industriegesellschaften verwandeln ihre Bürger in Bilder-Süchtige; dies ist die unwiderstehlichste Form von geistiger Verseuchung“, hielt Susan Sontag in ihrem 1977 erschienenen Buch „Über Fotografie“ fest. Laut Sontag lehren uns Bilder einen neuen visuellen Code, der die Vorstellung davon verändert, was wir für anschauenswert und beobachtbar erachten. Was damals noch allzu dystopisch klang, bedarf durch die dauerhafte Präsenz von hochauflösenden Kameras und der Möglichkeit jedes Bild in Echtzeit zu teilen einer gedanklichen Revision.

Wenn virale Trends wie „what people are wearing“, „NPC encounter“ oder die „random acts of kindness“ regelmäßig in den Feeds und For-You-Pages auftauchen, radikalisiert sich durch deren Rezeption der Blick der Nutzer:innen. Das heimliche Filmen von Menschen wird normalisiert, die aggressive Aneignung ihrer Erfahrungen zum Tagesgeschäft. Durch das Zusammenspiel der weitgehend zügellosen Empfehlungsmechanismen sozialer Medien wie TikTok und der Allgegenwart von Smartphones kann ein Beobachtungsdruck für alle anderen entstehen, was wiederum das Verhalten im öffentlichen Raum beeinflusst.

Selbst diejenigen, die sich den sozialen Medien entziehen, laufen Gefahr, von Creator:innen zu Subjekten ebendieser gemacht zu werden. So entsteht eine neue Form der privaten Überwachung. Dahinter stehen nicht wie üblich datenhungrige Konzerne oder Sicherheitsbehörden, sondern Menschen mit gezückten Smartphones, die jederzeit auf „Record“ drücken können, um uns ihrem „Content Gaze“ zu unterwerfen.

Doppelte Ausbeutung

Diese ästhetische Ausbeutung durch die Creator:innen wiegt dabei doppelt schwer: Sie nehmen uns das Recht am eigenen Bild, um es dann als digitale Ware zu vermarkten und ihrem jeweiligen Geschäftsmodell, sei es im Dienste von Clicks, Reichweite, Aufmerksamkeit oder Einnahmen durch Werbung, zuzuführen.

Sie verwandeln die zufällige Schönheit eines besonderen Moments, wie er sich beispielsweise in der innigen Umarmung zweier Verliebter auf einer Parkbank zeigt, in visuelles Kapital. Wer heute in der Öffentlichkeit die Kontrolle verliert, in der U-Bahn einschläft, sich außerordentlich gut oder wahlweise schlecht anzieht, stilvoll Zigaretten raucht, „Main Character Energy“ ausstrahlt, szenisch küsst, lacht, weint oder sich auf jede andere erdenkliche Weise erzählenswert verhält und so ein narratives Potential für soziale Medien schafft, muss damit rechnen, heimlich fotografiert oder gefilmt zu werden und später ungefragt im Netz zu landen.


* Name geändert

32 Ergänzungen

  1. Vincent, danke dir für diesen interessanten und aufschlussreichen Artikel!

    Wo ziehst du die moralische Grenze zum Genre der künstlerischen Street Photography, à la Henry Cartier-Bresson u.a.?
    Sie lebt ja vor allem von der ungestellten/nicht inszenierten Situation.
    Und ein „Model Release Vertrag“ kann nachträglich bei der meist flüchtigen und kurzen Art der der Situation nicht erfragt werden.
    Auch diese Bilder werden u.U. veröffentlicht (Online/Ausstellung) oder als Druck oder in einem Buch verkauft.

    1. da gibt es keine moralische Grenze, in Deutschland setzen Gesetze da relativ klare Grenzen. Auch wenn es es die Photography Künstler gerne ignorieren und auf Bresson verweisen und was der Kunstwelt entgangen wäre.

      1. Wir brauchen Strafen für solche „Künstler“ bis zu 50.000€ oder mehr damit es auch fruchtet und bei mehreren verstößen Schließungen von Konten etc.

        1. Es sollte aus meiner Sicht einen Unterschied geben, ob es nur für künstlerische Zwecke verwendet wird, was aus meiner Sicht nicht einzuschränken, sondern im öffentlichen Raum gänzlich freizugeben wäre, oder ob auch biometrische Daten etc an Datenhändler o.Ä. gelangen können. D.h. wenn ein Fotograf Streetphotography macht und auf seinem Computer lokal speichert oder in einer eigenen Cloud verschlüsselt hat oder eine Fotoausstellung in einem Museum macht, wäre das dann nicht zu bestrafen, aber wenn er es auf soziale Medien großer Konzerne lädt, die das Material gemäß AGBs weiterverwenden dürfen wie sie möchten, wäre der rein künstlerische Zweck nicht mehr aufrecht und es wären in klaren Fällen (Personen sind Hauptmotiv) dann tatsächlich Strafen gerechtfertigt.

          1. Das kann nicht dein erst sein! Was glaubst du, was dann in den Gerichten los ist. Es gilt dann wie immer, wer den besseren Anwalt hat, hat gewonnen!
            Wir brauchen hier eine klare für alle deutlich gezogene Grenze.

  2. > Das Verhalten ist bekannt: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit zücken Menschen ihr Smartphone und beginnen zu filmen oder zu fotografieren.

    Es hat ein Ausmaß angenommen, das mir den Aufenthalt in der Stadt verleidet. Bei mir hat es zu einschneidenden Verhaltensänderungen geführt, denn ich vermeide es strikt fotografiert oder gefilmt zu werden. Mein Raum in der Welt wurde immer kleiner.

    Vor zehn Jahren war der sichere Platz noch hinter dem Fotografen. Heute ist es nicht selten, dass man dabei von einem dritten oder vierten gefilmt wird.

    Keine großen Familienfeiern mehr, keine Veranstaltungen, kein Verein, keine Gaststätte, kein kein kein …

    1. Die Gedanken kann ich gut nachvollziehen. Manchmal hilft da auch Eigeninitiative (hängt aber auch von den beteiligten Personen ab). Bei der letzten großen Familienfeier habe ich z.B. meine eigene Digitalkamera (ohne Anbindung ans Internet!) mitgenommen und darum gebeten, dass Personenfotos nur mit dieser Kamera gemacht werden. Dies wurde respektiert. Und beim späteren Verteilen der Fotos auf sicher verschlüsseltem Weg kam es dann auch nochmal zu einem schönen Austausch der Erinnerungen.

      1. Nein, es geht nicht um Angst. Es geht um Selbstbestimmung und um Achtung des Wohlbefindens anderer.
        Zum Respekt gehört auch der Verzicht von dumpfen Sprüchen.

        1. Das war kein dumpfer Spruch, diese Angst gab’s wirklich.

          Die Welt aendert sich nunmal,und einige Dinge lassen sich werder verhindern noch kontrollieren. Die Normalitaet aendert sich damit, und Gesellschaften passen die Konventionen und Problemdefinitionen daran an.

          Deutschland hat halt das Problem, dass grosse Teile der Gesellschaft jegliche Aenderung, und damit auch jegliche aktive Gestaltung von Gegenwart oder gar Zukunft, vehement ablehnen und damit halt immer die schlechteste Entwicklung erwarten und bekommen. Zu dumm(sic!) auch.

          1. Das musst Du konkretisieren. Worauf beziehst du das? Wenn es zur „Normalität“ oder „Veränderung“ gehören soll, dass man nicht mehr Herr über seine Daten, sein „persönliches Erscheinen wo auch immer“ usw. sein soll, dann kann man „nichts mehr gestalten“, denn dann gestalten andere einen und das wäre bzw. ist schon die „schlechteste Entwicklung“ bzw. eine von vielen.

            Wenn Du das aber so meinst, dass wir uns allem bedingungslos hingeben, was die sogenannte digitale Welt an Negativentwicklungen bietet (und im Artikel wird eine solche thematisiert), anstatt diese zu unterbinden und „jegliche Änderung“ an diesen Negativzuständen ablehnen, dann bin ich Deiner Meinung, dass es geändert werden muss.

          2. Das ist Unsinn und, ja, diese Angst gab es früher wirklich: bei Naturvölkern, die das Konzept der photographischen Abbildung nicht kannten und erstmals Kontakt mit der „Zivilsation“ hatten. Insofern war das nicht nur ein dumpfer Spruch, sondern eine handfeste Verunglimpfung, die den Angesprochnen im besten rassitischen Sinne als „Wilden“ im kolonialen Verständnis brandmarkt.

            Der Rest der Argumentation ist, euphemistisch gesprochen, „hinterfragbar“, denn es handelt sich bei dem Thema nicht um eine Aenderung in der Gesellschaft, sondern um die Rücksichtslosigkeit und den Egoismus Einzelner, die weder erkennen, noch zu akzeptieren bereit sind, dass jeder Mensch ein Recht auf sich selbst und seine Privatsphaere hat. Denn dieses Recht wird hier empfindlich verletzt. Dabei muss klar gestellt werden, dass es weniger um das heimliche Filmen, oder Photographieren geht, auch wenn das alleine schon eine Rechtsverletzung darstellt. Nein, der „content“ wird auch noch ohne Wissen der Betroffenen ins Internet gestellt, also veröffentlicht (zur Klarstellung, was „ins Netz stellen“ tatsächlich juristisch bedeutet). In Zeiten der KI gestützen Gesichtserkennung ist insbesondere die ungefragte Veröffentlichung in meinen Augen eine schwere Straftat, die mit hohen Freiheitsstrafen belegt sein sollte….

    2. Da gehe ich sogar nen Schritt weiter:
      Ich gehe in kein Kaufhaus oder Supermarkt mehr, welches Videoüberwachung einsetzt. Weil auch das sind Kameras, also Geräte, die deine Selbstbestimmung verletzen. Selbst gesetzliche Verpflichtung akzeptiere ich nicht.

      1. @Pranee
        Das ist sehr konsequent. Wie sieht das im Alltag aus?
        Woher weißt Du ohne Betreten, welche Geschäfte Videoüberwachung einsetzen?
        Welche Kaufhäuser bleiben übrig oder bestellst Du alles?

    3. Unternimmst Du neben dieser individuellen Verhaltensänderung auch etwas, um auf das Verhalten anderer einzuwirken?

      Gibt es Initiativen, Vereine, Aktionen,… die sich für Deine Interessen einsetzen und zu denen man einen Beitrag leisten kann?

  3. Wo sind die Anwälte, die sonst so gerne abmahnen, wenn man sie mal wirklich braucht?
    Diese Illegalfilmer müssten abgemahnt und deren Opfer hoch entschädigt werden. Bald würde keiner mehr illegal filmen.

    Es ist schon komisch. Stellt die Stadt Kameras an einem Kriminalitäts Schwerpunkt z.B. Bus Bahnhof auf, kommen massen Proteste. Dabei sind diese Kameras sichtbar und kekennzeichnet Speicherung verschlüsselt, Zeit begrenzt und Zugriff nur mit 4 Augen Prinzip durch die Polizei. Wenn Sozial Meida User alles filmen fotografieren und posten regt sich keiner auf.

    1. Anwälte können (wie das schon immer so war) halt nur im Auftrag des Gefilmten/Fotografierten Abmahnungen aussprechen. Wenn der keinen Anwalt einschaltet gibt‘s keine Abmahnung.

  4. Diese Verhaltensweisen und die Missachtung der Privatsphäre anderer Menschen finde ich erschreckend.

    Andererseits überrascht es mich nicht. Denn die heute Heranwachsenden kennen es ja schon gar nicht mehr anders, als dass man ständig ausspioniert wird, z.B. von großen Firmen wie Google, Meta, Microsoft usw. Dazu kommt, dass Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und eigentlich ein gutes Vorbild abgeben sollten, wie z.B. Politiker, selbst den Wert von Datenschutz und Privatsphäre oft nicht mehr erkennen und vermitteln.

    Warum also sollte man die Privatsphäre anderer Menschen achten, wenn die eigene Privatsphäre ständig missachtet wird?

    Ich denke, da sind wir alle gefragt. Diese Missachtung von Privatsphäre funktioniert ja nur, weil die meisten Menschen dies einfach hinnehmen und zu wenige für den Schutz der Privatsphäre eintreten. Dabei sind auch Kleinigkeiten wichtig, zum Beispiel, dass man selbst im Alltag im eigenen Umfeld vorlebt und vermittelt, wie die Privatsphäre anderer Menschen zu achten ist. Und für die eigene Privatsphäre Grenzen setzt. Wenn dies nur genügend Menschen tun, lässt sich vielleicht noch etwas bewegen.

  5. Hallo tsamm,

    kleine archivische Trouvaille meinerseits als (zeitgeschichliche) Abgleichsmöglichkeit:
    Karsten Völtz schrieb am
    10.Jan.2010, 12:29:

    ”Soziale Netzwerke” entwickeln sich durch sozialen Druck zu einer
    Korrekturanstalt für eine gleichgeschaltete Zukunft. Wenn Zuckerberg das
    Ende der Privatsphäre verkündet, ist es nur der Werberuf eines
    gemeingefährlichen Unternehmenskonzeptes, das eben diese Privatsphäre nicht
    garantieren kann.

    Jedes Schriftstück, jeder Gedanke, jedes Konzept, jede Idee, alle Musik,
    alle Malerei, aber auch alle konstruktive Kritik entsteht in unserer
    Privatsphäre. Und wir alle haben das Recht, diese Ideen so lange zu
    verbergen, bis wir meinen, diese Ideen sind gut und tragfähig und müssen
    ”nach draußen”. Unser aller Zukunft entsteht in dieser Privatsphäre. Diese
    abzuschaffen bedeutet, die Zukunft der Menschheit abzuschaffen zugunsten
    jener Minderbemittelten, die immer behaupten, sie hätten bezeichnenderweise
    nichts zu verbergen.
    Sobald irgendjemand da draußen z.B. eine gute Geschäftsidee entwickelt, wird er soziale
    Netzwerke als Diebstahlplattform verstehen müssen. Sonst wird geklaut und/oder vorab veröffentlicht.“

    Ist rund dreizehn Jahre alt, aber im Kern offensichtlich aktuell…
    Damals waren viele besoffen von dem Gedanken, alles teilen zu können.
    Heute sind viele betroffen von dem Gedanken, alles teilen zu müssen.

  6. Kurz und Knapp: Ich sehe das die Welt von „Qualityland“ (Marc-Uwe Kling) nicht mehr so fern ist wie man denken könnte. Und sie könnte sich mit der Welt von „Die Täuschung“ (Caleb Carr) vermischen. Das Ergebnis wäre… Maximal Unmenschlich!

    Diese beiden Bücher sollte man gelesen haben. NOCH sind es nur Romane also Fiktion. Hat man früher auch von einen Flug zum Mond, SMARTphones, Sozialen Netzen, oder KI gedacht…

    Abhilfe? Naja, man „könnte“ vielleicht KI-Entwicklung stoppen bis es Regeln oder besseres gibt, Soziale Netze ersatzlos einstampfen (Kein Nutzwert) und statt mehr Kameras einfach mehr „SchuPo’s“ einstellen – und einfach alle besser bezahlen… Radikal oder? :-/

  7. Es ist zu Recht strafbar, Menschen in die Privatsphäre zu folgen und sie dort ungefragt zu fotografieren. Alleine das Fotografieren ist schon eine Straftat, auch ohne dass die Bilder veröffentlicht werden.
    Daneben ist in vielen Gerichtsurteilen die Legitimität der „Straßenfotografie“ bestätigt worden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist es zu akzeptieren, dass man auch im Öffentlichen Raum fotografiert wird.
    Was wäre die Welt ohne die Straßenfotos von Doisenau, Cartier-Bresson, Meyer und vielen anderen ?

    1. 1. ist Street Photohgraphy nicht so easy von Gerichten bestätigt worden. Aber das Problem ist doch, einen etablierten Künstler, der das veröffentlicht könnte man verklagen und die kompleye Sachlage vom Gericht beurteilen lassen. Aber gegen die Horde von Bresson-Jünger, die das auf Social Media veröffentlichen, ohne Namen oder gar Impressum, kann man schwer vorgehen.

    2. „Was wäre die Welt ohne die Straßenfotos von Doisenau, Cartier-Bresson, Meyer und vielen anderen ?“
      Kein großer Unterschied, außer dass die genannten Personen weniger Honorare mit den Bildern irgendwelcher Menschen eingenommen hätten.

  8. Die deutschen Gesetze sind hier eindeutig, dass so etwas klar illegal ist.

    Das Missverständnis darüber, dass dem nicht so ist, wird aber wahrscheinlich durch das amerikanische Fair-Use entstehen, denn dort haben die Menschen im Rahmen ihrer Meinungsfreiheit viel mehr Möglichkeiten, Geschütztes zu zitieren; dazu gehören urheberrechtlich geschützte Werke, aber auch das persönliche Bild. Dadurch können Privatpersonen eher „auf Augenhöhe“ mit den Veröffentlichungen kommerzieller Anbieter konkurrieren (Urheberrechte können weniger zur Zensur von Kommentierungen missbraucht werden, s. Reaction/Review Videos auf YT) und angstfreier ihre Meinung äußern, da sie nicht permanent mit Abmahnungen rechnen müssen. Und unter Fair-Use generierter Content aus den USA dominiert die sozialen Medien und dient daher vielen als Vorbild.

    Im Zweifel (z.B. ein Foto mit Personen im öffentlichen Raum) ist die Generative-KI aus meiner Sicht eine Lösung für das Problem: Es ist leicht möglich, das Gesicht, den Körper (z.B. Kleidung, Figur) oder die Umgebung durch KI wie Stable-Diffusion (teilweise) zu ersetzen, ohne dass der Fotorealismus abhanden kommt (ist eine Sache von 5 Minuten – im wahrsten Sinne des Wortes, s. Werkzeuge wie InvokeAI und dessen „img2img“ Modul). Im Anschluss ist die ursprüngliche Person und ihre Umgebung nicht mehr bzw. nur noch stark eingeschränkt erkennbar, ohne dass das gewünschte Motiv seine ursprüngliche Aussage verliert (in der klassischen Bildverarbeitung würde man das z.B. „Overpainting“ nennen bzw. man könnte es mit „Matte-Painting“ vergleichen).

  9. Zur Information, der Ausdruck Non-player character (NPC) stammt aus dem Pen-&-Paper-Rollenspiel Bereich aus den 1970ern und nicht aus der Videospielkultur!

  10. Ich habe den Artikel sehr interessiert gelesen.
    Ist die Straße ein öffentlicher oder ein privater Raum?
    Haben Fotografen das Recht zu fotografieren wann und wo es ihnen beliebt?
    Der unverstellte Blick auf unsere heutige Gesellschaft ist von so großer Bedeutung, dass ich gerne in Kauf nehme, mich in einem rechtlich unsicheren Raum zu bewegen.
    Wieviel Einblicke in das öffentliche, gesellschaftliche Leben unterschiedlicher Länder und Kulturen ermöglichen uns heute die Fotos von Henri Cartier-Bresson, Willy Ronis, Robert Frank, Alfred Eisenstaedt, W. Eugene Smith, William Eggleston, Brassaї, Garry Winogrand uvm.?
    Allerdings sehe ich auch kritisch, dass mit dem Smartphone und dem sofortigen Zugang zu den einschlägigen Social-Media-Seiten eine neues Problem entstanden ist. Kurzfristige ökonomische Interessen, die Suche nach Aufmerksamkeit beschädigt leider kulturelle oder künstlerische Motive von Fotografinnen.
    Selbstverständlich ist für mich die kommerzielle Nutzung solcher Fotos ausgeschlossen.
    Und ich finde es ebenso selbstverständlich, dass die Würde der Menschen respektiert wird, und sie nicht der Lächerlichkeit, dem Gespött der Betrachter preisgeben werden.
    Wie sagt der Fotograf Gilbert Duclos in einem Interview:
    „I tell people, take the risk. Because it’s so ridiculous that if you follow the ruling literally, they will no longer be able to do street photography.“

  11. Das ganze Thema ist höchst kompliziert und auch mit ethischen Komponenten verbunden. Grundsätzlich – ich war Journalist gilt – die Regel: Im öffentlichen Raum darf alles Fotografisch festgehalten werden. Also auch das, was sich auf den Strassen, Parks, etc. abspielt. Das ist bis heute in Deutschland zumindest unbestritten. Wer privaten Raum betritt und dort fotografiert muss die Genehmigung des Eigentümers haben. Daneben galt die Regel: keine Menschen zu zeigen, die in unangenehmen Situationen sind. Die Yellow Press hat das immer ignoriert und hat Hatz auf Prominente u.a. gemacht (z.b. Diana). Heutzutage erschaffen wir mit dem Smartphone und den Videos + Fotos einen prima Pool für sämtliche Geheimdienste und andere Interessenten, wie z.B. den Aufbau von KI. Wir liefern Material ohne Ende indem man kaum noch in einem Cafe sitzen kann, ohne dass diese Gerat gezückt wird. Aber das sollte letztendlich seit Snowden eigentlich jedem bewusst sein: Jeder Druck auf die Tastatur oder auf dem Smartphone läßt sich nachverfolgen. Wir bewegen uns täglich in einem Datenraum, den Konzerne beherrschen, die auskunftspflichtig gegenüber ihren Regierungen sind.

Wir freuen uns auf Deine Anmerkungen, Fragen, Korrekturen und inhaltlichen Ergänzungen zum Artikel. Bitte keine reinen Meinungsbeiträge! Unsere Regeln zur Veröffentlichung von Ergänzungen findest Du unter netzpolitik.org/kommentare. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.