Progressive DigitalpolitikAntifaschistische Netzpolitik muss antikapitalistisch sein

Progressive Digitalpolitik basiert darauf, dass alle Menschen gleichwertig sind. Dem steht der Wirtschaftsliberalismus entgegen, der Ungleichheit rechtfertigt. Deshalb brauchen wir Szenarien für eine digitale Welt nach dem Kapitalismus.

Auf schwarzem Hintergrund steht zwei Mal "CHANGE", einmal davon gespiegelt
„Antifaschistische Netzpolitik verändert und inspiriert dort, wo sie anfängt, positive Zukunftsszenarien für eine digitale Welt nach dem Kapitalismus zu denken und zu zeichnen.“ – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Nick Fewings

In linken Kreisen kursiert das provokante Sprichwort „Kratze einen Liberalen und ein Faschist blutet.“ Auf Englisch: „Scratch a liberal and a fascist bleeds.“ Die Provokation darin ist natürlich die Gleichsetzung von Liberalismus und Faschismus. Die Empörung ist teilweise berechtigt. Aber nur teilweise.

Das Sprichwort unterscheidet in seiner verkürzten Zuspitzung nämlich nicht zwischen zwei sehr unterschiedlichen Formen des Liberalismus: dem sozialen oder auch kulturellen Liberalismus und dem Wirtschaftsliberalismus. Der erste ist Fundament einer freiheitlich Gesellschaft. Der zweite ist der ideologische Nährboden für jene Unterteilung von Menschen in unterschiedliche Wertigkeit, die im Faschismus ihre menschenverachtende Zuspitzung erfährt.

Der israelische Historiker Ishay Landa hat diese zentrale Unterscheidung in seinem Buch „Der Lehrling und sein Meister“ untersucht und ausführlich dokumentiert. Er zeichnet darin detailliert die wirtschaftsliberale Tradition im Faschismus der Nationalsozialisten nach. Insoweit ist an dem eingangs genannten Sprichwort dann doch etwas dran.

Was hat das mit Netzpolitik zu tun?

Aline Blankertz hat Ende August in einem Gastbeitrag formuliert: „Digitalpolitik muss Teil der Brandmauer sein“. Und der SPD-nahe Digitalverein D64 wählte im Januar „Digitalpolitik faschismussicher“ zu seinem Jahresthema. Auch im Verfassungsblog wird gefragt, wie Datenschutz gegen digitalen Autoritarismus eingesetzt werden kann.

Gemeinsam haben alle diese Stimmen und Forderungen, dass sie sich aktiv und kompromisslos gegen jene politischen Kräfte stellen, die völkisch-rassistische Ziele verfolgen. Das sind derzeit die AfD und die ihr nahestehenden Organisationen. In ihnen ist die völkisch-rassistische Programmatik derzeit so deutlich verkörpert wie nirgendwo sonst.

Antifaschistische Digitalpolitik muss mittel- und langfristig aber mehr sein als ein Abwehrkampf. Eine nachhaltige antifaschistische Digitalpolitik muss sich vielmehr die Dynamiken der Gegenwart anschauen, die immer wieder Nährboden dafür sind, dass menschenfeindliche, rassistische und autoritäre Vorstellungen mehrheitsfähig sind und bleiben.

Näher, als wir wahrhaben wollen

Ja, es ist wichtig, die Datenschutzbehörden endlich davor zu schützen, politisch instrumentalisiert zu werden. Genauso wichtig ist es aber, dass auch die Netz- und Digitalcommunity sich klar macht: Faschisten kommen nicht aus dem Nichts. Ihre Ideen sind uns näher, als wir es manchmal wahrhaben wollen.

Das bringt uns zurück zu dem provokanten Sprichwort aus der Einleitung und der Unterscheidung zwischen kulturellem Liberalismus und Wirtschaftsliberalismus.

Rechtsextreme Kräfte sind auf dem Vormarsch.

Wir halten mit unserer Arbeit dagegen.

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Zu den Errungenschaften des kulturellen Liberalismus gehören viele der Ideale, die auch für eine progressive Digitalpolitik handlungsleitend sind: Dazu zählen Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit; ein liberales Familien- und Reproduktionsrecht oder das Ideal der fundamentalen Gleichheit aller Menschen – egal ob auf der Flucht, armutsbetroffen oder in psychischen Ausnahmesituationen. Ishay Landa zeichnet die Entwicklung dieser Freiheiten und Grundwerte unter anderem mit Verweis auf die Französische Revolution nach.

Der Wirtschaftsliberalismus hat historisch die gleichen Wurzeln. Seine Vorstellungen haben im Laufe der Ideengeschichte jedoch andere Formen angenommen, die mittlerweile in deutlichem Widerspruch zum kulturellen und sozialen Liberalismus stehen.

Der Wirtschaftsliberalismus betont nicht die Gleichheit aller Menschen, sondern erklärt individuelle, ökonomische Freiheit zum höchsten Gut. Privates Eigentum an Unternehmen, Patenten oder Land sind im Wirtschaftsliberalismus zentrale Ausdrucksformen individueller Freiheit. Wirtschaftliche Konkurrenz und das gegenseitige Überbieten bei der profitablen Verwertung des Eigentums („Unternehmertum“) sind höchste Ausdrucksformen persönlicher Entfaltung.

Diejenigen, die kein verwertbares Eigentum haben, müssen ihre Arbeitskraft verkaufen. Sie erhalten als Lohn zwar (meist) genug zum Leben, aber weniger als den Wert ihrer Arbeitskraft. Die Gesellschaftsordnung des Wirtschaftsliberalismus hat einen Namen: Kapitalismus.

Natürlich anmutende Ungerechtigkeit

Die so entstehende Ungleichheit zwischen Menschen versucht der Kapitalismus durch Mythen von Leistungsgesellschaft und Chancengleichheit zu rechtfertigen. Er versucht so, seine systembedingte Ungerechtigkeit als natürlich erscheinen lassen.

Dass beispielsweise derjenige, der eine Fabrik erbt, das Recht hat, die Lebenszeit anderer Menschen darin zu verwerten und über ihr Leben zu bestimmen, ist eine zutiefst gewaltvolle Vorstellung. Unsere Gesellschaft lehnt sie aber nicht mehr als unnatürlich ab. Lebenslange neoliberale Sozialisierung lassen uns vielmehr glauben, dass dieser Zustand gut und richtig ist.

Auch dass von Rassismus betroffene Menschen oder weiblich gelesene Menschen strukturell in besonders unsicheren und schlecht (oder gar nicht) bezahlten Arbeitsverhältnissen ausgebeutet werden, wird von Ursachen wie Rassismus oder Sexismus entkoppelt. Die den Kapitalismus stützenden Ideologien ermöglichen uns, kein Störgefühl mehr zu haben, wenn im Biergarten Menschen of Color die Tische abräumen, während weiße Startups-Jungs ihren Feierabend genießen. Es läge ja an Dilan, stattdessen ihr Unicorn zu gründen.

Die Skala der Entmenschlichung ist nach oben offen

Es ist diese Ideologie, die den Nährboden für jene Formen der Entwertung von Menschen bildet, auf die völkisch-autoritäre Vorstellungen aufbauen. Wenn wir bereits daran gewöhnt sind, Elend und Ausbeutung als natürliches Resultat eines guten und freiheitlichen Systems wegzurationalisieren, haben wir bereits den ersten Schritt dahin getan, die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Menschen in Frage zu stellen.

Bezahlkarten für Geflüchtete, Sanktionen gegen Armutsbetroffene oder hungernde Schulkinder sind zwar qualitativ nicht vergleichbar mit Arbeitslagern und der Tötung von als „wertlos“ markierten Menschen. Sie sind aber Markierungen auf der gleichen nach oben offenen Skala der Entmenschlichung. Wo auf dieser Skala wir in den kommenden Jahren landen, ist unklar. Dass wir uns überhaupt auf ihr bewegen, ist das eigentliche Problem.

Willkommene Verbindung von Wirtschaftsliberalismus und Faschismus

Einer der radikalsten Vertreter des Wirtschaftsliberalismus war der 1973 verstorbene Ökonom Ludwig von Mises. Er wandte sich gegen jede Form von staatlicher Intervention und plädierte für ungezügelte Märkte. Er ist noch heute Stichwortgeber für liberale Wirtschaftsredakteure, denen die FDP nicht libertär genug ist.

Auch andere greifen gern auf von Mises zurück, etwa die AfD. Sie zitierte Ludwig von Mises in einer großen Anfrage an die Bundesregierung aus dem Juni 2023 als Vordenker der „Verbraucherdemokratie“. Von Mises selbst hätte sich an der wohlwollenden Erwähnung aus beiden politischen Lagern vermutlich nicht gestört. 1927 schrieb er unter anderem als Reaktion auf sozialdemokratische und linke Forderungen nach weniger Markt und mehr Demokratisierung der Wirtschaft:

Es kann nicht geleugnet werden, daß der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. […] Der Faszismus war ein Notbehelf des Augenblicks; ihn als mehr anzusehen, wäre ein verhängnisvoller Irrtum.

Diese enge ideengeschichtliche Verbindung zwischen Wirtschaftsliberalismus und Faschismus muss sich auch eine antifaschistische Netz- und Digitalpolitik wieder bewusst machen.

Antikapitalismus ist das Fundament antifaschistischer Digitalpolitik

Im Kern geht es also um die unsexy Erkenntnis, dass antifaschistische Digitalpolitik manchmal wenig mit „KI“, Datenschutz oder Verschlüsselung zu tun hat. Die eigentlichen Herausforderungen sind oft, wie Anne Roth schreibt, „ziemlich analog“,

Alle zentralen Forderungen progressiver Digitalpolitik fußen auf dem Fundament der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Menschen. Dieses Fundament stellt unsere kapitalistische Gesellschaftsordnung jeden Tag aufs Neue in Frage. Antikapitalismus muss deshalb das Fundament und der Ausgangspunkt antifaschistischer Digitalpolitik sein.

Auch Antikapitalismus selbst ist natürlich nur eine Negativforderung. Antifaschistische Netzpolitik verändert und inspiriert dort, wo sie anfängt, positive Zukunftsszenarien für eine digitale Welt nach dem Kapitalismus zu denken und zu zeichnen. Je eher und je konkreter wir über post-kapitalistische Digitalpolitik sprechen, desto besser.

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