Online-Dienste wie YouTube können vorerst wohl vorsichtig aufatmen. In einer gestrigen Verhandlung vor dem Obersten Gericht der USA (Supreme Court) schienen die Richter:innen nicht an einem Grundpfeiler des Internets rütteln zu wollen. Schließlich seien sie „nicht die neun größten Expert:innen für das Internet“, räumte die Richterin Elena Kagan unter Gelächter ein.
Der Fall „Gonzalez v. Google“ dreht sich im Allgemeinen um die Frage, ob Online-Dienste für Inhalte haftbar gemacht werden können, die von anderen ins Netz gestellt wurden. Im Speziellen zielt die Klage auf das Empfehlungssystem von YouTube ab. Dieses schlägt unter anderem auf Basis des jeweiligen Nutzer:innen-Verhaltens automatisch Videos vor, welche die Algorithmen für besonders relevant halten.
Geklagt hatte die Familie von Nohemi Gonzalez, die im November 2015 bei einem islamistischen Terroranschlag in Paris getötet wurde. Den Kläger:innen zufolge haben die Algorithmen von YouTube zu ihrem Tod beigetragen, weil sie Propagandavideos des sogenannten Islamischen Staates empfohlen und damit Nutzer:innen radikalisiert hätten.
Zentrale Internet-Regelung
Durch diesen „aktiven“ Eingriff in die Inhalte würde das in der „Section 230“ verankerte Providerprivileg erlöschen, behaupten die Kläger:innen. Damit wäre YouTube unmittelbar haftbar – und nicht bloß die Person, die einen bestimmten rechtswidrigen Inhalt veröffentlicht hat, so das Argument.
Würde diese gut 30 Jahre alte Regelung kippen, hätte das drastische Folgen für viele Online-Dienste und insbesondere für soziale Medien. Um nicht ständig vor Gericht geschleppt zu werden, müssten die Anbieter entweder deutlich restriktiver Inhalte ihrer Nutzer:innen moderieren – oder gänzlich darauf verzichten, um als „neutrale“ Plattform zu gelten.
In der knapp dreistündigen Anhörung ließen die Richter:innen gelegentlich durchblicken, was auf dem Spiel steht. So verwies etwa der konservative Brett Kavanaugh zum einen auf die vielen Präzedenzfälle, die allesamt den juristischen Schutzschirm für die Online-Anbieter bekräftigt hatten. Zum anderen konfrontierte er den klagenden Anwalt mit dem Argument der Gegenseite, eine direkte Haftung für die Inhalte Dritter würde die Digitalökonomie in die Luft sprengen. Eine zufriedenstellende Antwort erhielt er nicht.
Schwer berechenbarer Supreme Court
Dass das Gericht den Fall „Gonzalez v. Google“ überhaupt zur Verhandlung angenommen hatte, löste unter Expert:innen Besorgnis aus. Die inzwischen auf sechs zu drei Stimmen angewachsene konservative Mehrheit hatte in den letzten Jahren wiederholt demonstriert, dass sie bereit ist, jahrzehntelange Spruchpraxis über Bord zu werfen. Wenn es darum geht, lang gehegte Wünsche des eigenen politischen Lagers zu erfüllen, scheinen Kollateralschäden für sie keine besondere Rolle zu spielen.
Von der Politisierung ist auch das Providerprivileg nicht verschont geblieben, die Rufe nach einer Reform kommen aus allen Richtungen. Für manche, darunter viele Demokrat:innen, trägt dieses Prinzip zur Verbreitung schädlicher Inhalte bei. Andere prangern die „privatisierte Rechtsdurchsetzung“ an, weil die Regelung es den Anbietern überlässt, wie sie mit nutzergenerierten Inhalten umgehen. Vor allem Republikaner:innen wettern dagegen und fühlen sich in ihrer Meinungsfreiheit beschränkt, wenn die Anbieter ihre digitalen Äußerungen mit Faktenchecks versehen oder gar ihre Postings entfernen.
Schon vor zwei Jahren ließ der erzkonservative Höchstrichter Clarence Thomas mit der These aufhorchen, Online-Dienste seien als „grundlegende Dienste“ (Common Carrier) zu behandeln und könnten demnach nicht nach ihren privaten Gemeinschaftsregeln moderieren. Doch in der Anhörung zeigte sich selbst Thomas nicht so recht überzeugt von den Argumenten der Kläger:innen. So konnte er etwa nicht nachvollziehen, wie ein „neutraler“ Algorithmus, der in einem Fall Kochrezepte und in einem anderen ISIS-Propaganda vorschlägt, für spezifische Terrorakte verantwortlich gemacht werden könne.
Auffallend zurückhaltend gab sich der Vorsitzende des Höchstgerichts (Chief Justice), John Roberts, der sich laut Protokoll nur selten inhaltlich zu Wort meldete. Dem Konservativen ist daran gelegen, das Idealbild eines unpolitischen Verfassungsgerichts hochzuhalten, zuweilen versucht er sich als moderierendes Gegengewicht zur immer weiter nach rechts driftenden Mehrheit zu stilisieren. Tief in die Karten ließ sich Roberts allerdings nicht blicken, brachte den klagenden Anwalt aber mit einer simplen Buchladen-Metapher ins Straucheln. Das dürfte dem Fall nicht unbedingt geholfen haben: Expert:innen zeigten sich erstaunt, wie schlecht vorbereitet sich der Anwalt immer wieder gezeigt hatte.
Auftakt für weitere Verfahren
Wie das für den Sommer erwartete Urteil ausfallen wird, lässt sich dennoch nur erahnen – zumal heute eine weitere Verhandlung vor dem Supreme Court ansteht, die ebenfalls Terrorismus in sozialen Netzen zum Thema hat („Twitter v. Taamneh“). Letzterer Fall könnte „Gonzalez v. Google“ obsolet machen, spekulierte die Verfassungsrichterin Amy Coney Barrett in der Anhörung.
Die juristische Auseinandersetzung rund um Haftungsfragen und Inhaltemoderation im Netz wäre damit aber keineswegs beendet. Derzeit steuern Gesetze aus den konservativen Bundesstaaten Florida und Texas auf das Höchstgericht zu, die sozialen Medien die Moderation bestimmter und vor allem politischer Inhalte untersagen. Sollte das Gericht die Fälle im Herbst tatsächlich annehmen, wäre dies ein Terrain, auf dem sich Thomas und seine Verbündeten deutlich wohler fühlen dürften.
Update 22. Mai 2023: Der Supreme Court hat in beiden Fällen gegen die Kläger:innen entschieden, allerdings keine Grundsatzentscheidung in puncto Providerprivileg gefällt. Bis auf Weiteres bleibt die Debatte rund um Haftungsprivilegien also offen.
Ich finde es schwierig, die aus dem amerikanischen Diskurs unter „freedom of speech“ vorgetragenen Argumente im deutschen mit „Meinungsfreiheit“ zu übersetzen. Ins besondere von republikanischer Seite stecken hinter diesem Konzept deutlich radikalere Vorstellungen von Redefreiheit, die man meiner Ansicht nach im deutschen Diskurs auch so hervorheben sollte, beispielsweise indem man den Begriff im englischen übernimmt.
Die wesentlichen mündlichen Argumente :
https://www.lawfareblog.com/oral-argument-preview-gonzalez-et-al-v-google-and-twitter-inc-v-taamneh-et-al
https://www.lawfareblog.com/have-justices-gotten-cold-feet-about-breaking-internet
Und warum nun genau haben wir das NetzDG, wenn Platformen eh‘ nicht haftbar gemacht werden können/sollten?
Der volle Name des NetzDG lautet „Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung
in sozialen Netzwerken“ und sollte schon genug Information enthalten um die Frage zu beantworten. Es ging dabei um eine verbesserte Verfolgung strafbarer Inhalte, und zwar ohne eben die Platform direkt selbst haftbar zu machen (solange sie dem Gesetz folgt). Rein formal-rechtlich hat sich dadurch nicht viel an der Haftbarkeit geändert, außer dass eben klare Fristen eingeführt wurden innerhalb derer die Platformbetreiber reagieren müssen.
Mehr steht auch im Gesetzesentwurf (unter den Punkten „A. Problem und Ziel“ und „B. Lösung“):
https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RegE_NetzDG.pdf;jsessionid=87ED4A3A97A89FFCC0D5057F7C1742D0.2_cid334?__blob=publicationFile&v=2
Es bleibt das Urteil im Sommer abzuwarten und dann wird sich einiges entscheiden und bis dahin muss man sich drauf vorbereiten.