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Öffentliches Geld - Öffentliches Gut!Öffentlich finanzierte Gutachten müssen zugänglich sein

Knabberartikel-Export, Beschuss von Gelatineblöcken, Mitgliedschaft in einer Mafia-Organisation – was sich nach abenteuerlichen Geschichten anhört, sind die Titel von drei der über 700 Gutachten, die Bundesministerien und oberste Bundesbehörden in Auftrag gegeben haben. Doch sie zu finden, muss einfacher werden.

Eine offene Chipstüte
Staatliche Gutachten beschäftigen sich auch mit Knabberkram. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com The Organic Crave

Gutachten für die öffentliche Hand werden aus öffentlichen Mitteln finanziert. Und da für uns der Grundsatz „Öffentliches Geld? Öffentliches Gut!“ ein Kernprinzip für freies Wissen ist, haben wir uns gemeinsam mit FragDenStaat eine Liste dieser Gutachten angesehen. Wie viele sind öffentlich zugänglich? Und kann die Allgemeinheit sie nutzen und weiterverwenden?

Hin zu mehr Offenheit?

In der Vergangenheit war es häufig nicht einfach, an Gutachten oder Studien von Bundesbehörden zu kommen. Erst nach zwei Klagen vor dem Bundesgerichtshof stellte dieser im Jahr 2015 fest, dass der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags Zugang zu seinen Dokumenten gewähren muss. Erst eine Anfragekampagne auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) bewegte den Wissenschaftlichen Dienst dazu, seine Dokumente von sich aus öffentlich bereitzustellen.

Aus der digitalen Zivilgesellschaft entstand das Portal sehrgutachten.de, um diese Dokumente im Volltext durchsuchen zu können. Doch nicht nur der Bundestag lässt viele Gutachten erstellen, auch die Bundesregierung.

Zunächst die gute Nachricht: Relativ viele der Gutachten sind laut Selbstauskunft der jeweiligen Ministerien öffentlich. Insgesamt hatten 41 Ministerien und oberste Bundesbehörden in dieser Legislatur 757 Studien und Gutachten beauftragt, von denen nach erster Sichtung 222 veröffentlicht sind oder kurz vor der Veröffentlichung stehen.

Ein Diagramm, das zeigt, wie viele Gutachten veröffentlicht wurden.
Not great, not terrible: Knapp 30 Prozent der Untersuchungen sind laut Selbstauskunft der Ministerien und unserer Stichprobenrecherche veröffentlicht. Die 103 „sonstigen“ entfallen vor allem auf Untersuchungen im Auftrag des Wirtschafts- und Klimaministeriums, das reihenweise „k. A.“ statt ja oder nein angegeben hat. Einige dieser Gutachten sind mittlerweile öffentlich auffindbar und wurden daher in der Auswertung in die Kategorie „ja“ umsortiert. Datenquelle: Wikimedia Deutschland / Stefan Kaufmann

Bei der stichprobenartigen Überprüfung, wie viele der über 700 Studien veröffentlicht und auffindbar sind, ergibt sich eine faszinierende Bandbreite öffentlich finanzierter Forschung. Das Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft analysiert Absatzmärkte für Lebensmittel.

10 Prozent Chips, 3 Prozent Salzgebäck

Derzeit sind offenbar besonders die Märkte für Süßwaren und Knabberartikel in verschiedenen Ländern von Interesse. Auf agrarexportfoerderung.de findet man verschiedene Studien dazu. Etwa helfen sie dabei einzuschätzen , ob die Situation in den Niederlanden mit einer durchschnittlichen Supermarktregallänge von 174 Metern für Süßwaren und Knabberartikel — 10 Prozent Chips, 3 Prozent Salzgebäck) sich für einen Markteinstieg anbietet.

Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) betreibt gar ein eigenes Medienarchiv namens ELBA, in dem man die Untersuchung „Influencer in der Verkehrssicherheitskommunikation: Geschäftsmodelle und Kooperationsformen“ herunterladen und sogar die korrekte wissenschaftliche Zitation im BibTeX-Format dafür erzeugen kann.

Die Zahl von 433 noch nicht veröffentlichten Studien relativiert sich bei genauer Betrachtung: In 264 Fällen war die Studie zum Erhebungszeitpunkt schlicht noch nicht abgeschlossen. Und bei 161 dieser Gutachten vermerkte die jeweilige Behörde bereits, dass eine Veröffentlichung nach Abschluss geplant sei oder derzeit geprüft werde. In mehreren Fällen war eine zum Erhebungszeitpunkt noch nicht zugängliche Studie bei den Stichproben schon veröffentlicht und auffindbar. Die Auswertung berücksichtigt diese Veröffentlichungen bereits.

Ein Diagramm mit den häufigsten Gründen für nicht veröffentlichte Gutachten.
Die Freitexte, die als Erklärung bei den nicht veröffentlichten Gutachten angegeben waren, haben wir in zehn Kategorien eingeteilt. In der Kategorie „???“ landeten rätselhafte Begründungen (u.A. „moderierte Durchführung der Operationsplanung“, „Rechtsberatung“ oder „-“). Datenquelle: Wikimedia Deutschland / Stefan Kaufmann

Wer sind die Geheimniskrämer*innen?

Bei einigen Häusern sieht es aber durchwachsen aus. Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe hat mehrere Untersuchungen als veröffentlicht angegeben, wir konnten sie jedoch nicht finden. Auf eine IFG-Anfrage zur Studie zur Lithiumgewinnung antwortete die Bundesanstalt, die Studie sei noch nicht abgeschlossen – die Einordnung als „veröffentlicht“ ist wohl als in die Zukunft gerichtet zu verstehen.

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe scheint dagegen davon auszugehen, dass viele ihrer Gutachten nur behördenintern interessant sind. Dank einer IFG-Anfrage von Arne Semsrott können wir uns ein Bild von der Beurteilung des Einsatzes der Medizinischen Task Force während des Hochwassereinsatzes an der Ahr 2021 machen – ein Ereignis, dessen Nachbetrachtung sicherlich von öffentlichem Interesse ist.

Überlegungen zum Einsatz von Tiny Houses anstelle von Zeltstädten bei Katastrophenlagen könnten ebenfalls über das Amt hinaus viele Menschen interessieren, die sich ehrenamtlich im Katastrophenschutz engagieren. Und auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung hielt die Analyse der Öffentlichkeitsarbeit zur Bildungsprämie und die Studie „Interoperable Datenräume und -ökosysteme für Bildung und Forschung“ nur für intern interessant. Sie sind dank IFG-Anfragen nun dennoch öffentlich.

Insgesamt nehmen die Auftraggebenden in 136 Fällen an, die Untersuchungen seien nur für den internen Gebrauch interessant oder geeignet – auch beim „Kurzgutachten zur Mitgliedschaft in einer Mafia-Organisation“ des BKA, zu dem eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz läuft. Immerhin scheint dieses Gutachten weder eingestuft zu sein (5 Fälle) noch stehen Rechte Dritter einer Veröffentlichung im Weg (14 Fälle).

Ein Diagramm, das zeigt, welche Behörden wie viele Gutachten angefragt haben.
Absoluter Spitzenreiter bei der Beauftragung von Untersuchungen ist das BMWK. Das Innenministerium weist sich bei vielen Studien als Co-Auftraggeberin seiner nachgeordneten Behörden wie dem BBK, BSI, BAMF oder der BDBOS aus. Und einmal taucht sogar das frühere BMWI als Auftraggeberin auf. Datenquelle: Wikimedia Deutschland / Stefan Kaufmann

Ein Ministerium ist besonders wissbegierig

Spitzenreiter mit 204 (mit-)beauftragten Untersuchungen ist das Wirtschafts- und Klimaschutzministerium. In der Hälfte der bis Ende 2022 erfassten Gutachten steht jedoch nur ein „k.A.“ statt eines Veröffentlichungsstatus. Bei der Stichprobensuche waren immerhin einige dieser Gutachten öffentlich auffindbar. Etwa zu Warmmietenmodellen, KI-Reallaboren und der Erhöhung der Versorgungssicherheit von mineralischen Rostoffen [sic].

IFG-Anfragen zu nicht auffindbaren Studien warten derzeit auf Antwort oder wurden vom BMWK mit einem schmallippigen „eine Studie unter der von Ihnen angegebenen Bezeichnung [liegt] nicht vor“ beantwortet – wobei das Ministerium offen lässt, ob die Studie noch nicht vorliegt, oder unter diesem Namen nicht vorliegt.

Der Bund schafft beständig wertvolle Informationsquellen. Das Problem: Sie sind leider sehr unterschiedlich gut (oder eher schlecht) auffindbar und wiederverwendbar. Wir haben bislang kein Gutachten gefunden, das unter einer Creative-Commons-Lizenz steht. Derzeit unterliegen sowohl Werke des Staats als auch im Auftrag des Staates geschaffene Werke dem Urheberrecht und sind im Gegensatz zu den USA keine öffentlichen Güter, die von der Öffentlichkeit frei weitergenutzt werden können. Aus mindestens einem öffentlich finanzierten Forschungsauftrag ist ein wissenschaftlicher Artikel hervorgegangen, der hinter einer Paywall veröffentlicht wurde – der Zugang kostet 448 Euro.

Was soll sich ändern?

Die Veröffentlichungspraxis können – und sollten – die Behörden und Ministerien selbst ändern. Nicht jedes Gutachten wird allen, die es nach Veröffentlichung einsehen können, nutzen oder sie überhaupt interessieren. Aber das ist unerheblich. Es geht ums Prinzip: Öffentliches Geld = Öffentliches Gut. Die beste Lösung hierfür ist die Anpassung des § 5 des Urheberrechtsgesetz, um staatliche und staatlich finanzierte Werke aus dem Urheberrecht zu befreien. Bis dahin kann der Staat bei der Vergabe von Gutachten bestimmen, dass die Ergebnisse unter einer Freien Lizenz wiederverwendbar sein sollen.

Dazu beitragen, dass bereits veröffentlichte Gutachten auch auffindbar sind, können übrigens alle. Interessierte können die von uns aufbereitete Liste der Gutachten durchstöbern und bereits veröffentlichte Gutachten in der Fundstellen-Spalte verlinken. Aber ist das die Aufgabe der Zivilgesellschaft? Folgerichtig wäre es, wenn der Bund selbst dafür sorgen würde, dass in seinem Auftrag geschaffenes Wissen frei wiederverwendbar und auffindbar ist. Es muss nicht gleich ein wissenschaftliches Zitiersystem wie das der BASt sein, aber zumindest eine Volltextsuche wie auf sehrgutachten.de wäre wünschenswert.

Die Zivilgesellschaft hat über die Jahre immer wieder gezeigt, wie das geht – und die öffentliche Hand war regelmäßig nicht Willens oder kompetent, die Lösungen zu übernehmen. Angesichts der immer wieder beschworenen Digitalziele der „Fortschrittskoalition“ und des versprochenen digitalen Aufbruchs des BMDV könnte die Regierung hier zeigen, ob und wie sie in der Lage ist, die Vorbilder aus der Zivilgesellschaft selbst für sich anzupassen und zu nutzen.

PS: Das Gutachten zum Beschuss großer Gelatineblöcke ist nur eine Vorstudie in einem größeren Vorhaben zum Beschuss von Gelatineblöcken. Wir haben keine Ahnung, was dabei ermittelt werden soll, möchten es aber unbedingt herausfinden.

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7 Ergänzungen

  1. „der Zugang kostet 448 Euro“

    Fairerweise solltest Du erwähnen, dass es sich hier um ein Jahresabo handelt, ich bin mir jetzt nicht sicher ob es hier nur ums Journal geht oder um alle Journals von Oxford Academic. Und hier geht es auch um Institutionen, das heißt Universitäten oder ähnliches. Firmen zahlen mehr. Außerdem würde ich beim aktuellen Wechselkurs, das in Pfund zahlen:

    Online-only access £281.00 $499.00 €448.00

    Wenn ich auf der Seite des Artikels runterscrolle sehe ich:

    „Improving universities’ activities in academic startup support through public interventions: The effectiveness of the German programme ‘EXIST—leverage of potentials’ – 24 Hours access
    EUR €37.00
    GBP £33.00
    USD $40.00“

    Da ist mir auch nicht klar, ob es wieder alle Artikel sind oder nur der Artikel. Was man aber auch nicht verschweigen sollte, ist das es für Open-Access-Artikel eine Open-Access-Gebühr gibt, die von den Autoren auch bezahlt werden muss, was in dem Falle auch öffentliches Geld ist. Wobei ich denke, das dieses Geld bezahlt werden sollte, schließlich kostet es auch etwas für einen Verlag Journals zu betreiben. Und da die Verlage privat sind, sollen sie auch etwas verdienen.

    Wobei Open-Access ein Thema für sich ist.

      1. > Warum den Umweg über Verlage?

        Weil Verlage Service-Leistungen erbringen, z.B. Qualitätssicherung, Lektorat. Aber auch weil Autoren Reputationsanleihen nehmen können, genährt durch die Reputation des Verlags. Das führte zu einem Öko-System, das zu einem Machtfaktor in der Wissenschaft geworden ist, denn das Verlagsunwesen ist ja immer auch ein Gatekeeper. Entscheidend ist, was nicht publiziert wird.

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