Mehrere hundert Meter tief im Berg und luftdicht verschlossen in speziellen Edelstahlbehältern – so lagert seit 2016 eine Kopie der Originalfassung des Grundgesetzes. Der Barbarastollen in der Nähe des Schwarzwaldortes Oberried ist der zentrale Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland. Auf insgesamt 32.000 Kilometern Mikrofilm werden dort „wichtige Dokumente mit besonderer Aussagekraft zur deutschen Geschichte und Kultur“ für die Nachwelt eingelagert, erklärt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe.
Dass so viel Aufwand betrieben wird, um Dokumente von so herausragender historischer Bedeutung wie das Grundgesetz zu konservieren, ist aller Ehren wert. Umso unverständlicher hingegen, wie wenig bislang dafür getan wird, solche Zeugnisse unserer Geschichte für alle frei verfügbar zu machen. Abgesehen von einzelnen Fotografien war die Urfassung des Grundgesetzes bislang nicht digital zugänglich.
Schon 2019 forderte Heinrich Wefing von der Wochenzeitung DIE ZEIT: „Raus aus dem Tresor!“ Denn das Original des Grundgesetzes, immerhin das „Fundament der deutschen Demokratie“, lagere im Archiv des Bundestages, so Wefing. Herausgeholt werde es nur zu besonderen Anlässen – und auch der Bundestag stelle allenfalls ein Faksimile aus, also eine originalgetreue Nachbildung.
Symbol der Demokratie
Das hat auch Benjamin Bremert und Lukas Mezger geärgert. Während Mezger sich seit Jahren ehrenamtlich bei Wikimedia Deutschland engagiert und Texte für die Wikipedia schreibt, ist Bremert Geschäftsführer von openJur, einer Datenbank zur Förderung der Erstellung und Verbreitung von freiem juristischen Wissen. Vollkommen unverständlich ist für ihn, dass die Verwaltung die Urfassung des Grundgesetzes nicht längst von sich aus digital bereitgestellt hat.
Lukas Mezger ergänzt: „Das Grundgesetz als so zentrales Dokument für unsere Gesellschaft sollte allgemein zugänglich sein – nicht nur in der heute gültigen Fassung, sondern auch in der ursprünglichen Form, wie sie 1949 vom parlamentarischen Rat und den Parlamenten der westdeutschen Länder angenommen wurde.“
Bremert hatte schon mehrere Jahre versucht, über openJur eine Veröffentlichung zu erwirken. Erfolgreich war schließlich ein Antrag auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG): „Zuerst war uns nicht klar, wo die Daten überhaupt liegen, daher mussten wir bei verschiedenen Ministerien und bei der Bundestagsverwaltung IFG-Anträge stellen. Der Antrag bei der Bundestagsverwaltung dauerte dann auch noch einigermaßen lange und man schrieb uns irgendwann, dass man nicht zuständig sei und die Daten nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist an das Parlamentsarchiv übergeben wurden.“
Aber Bremert ließ sich nicht abschütteln: „Erst als wir auf einen Bescheid bestanden und darauf hingewiesen haben, dass wir dagegen klagen würden, scheint die ganze Sache in der Bundestagsverwaltung noch einmal geprüft worden zu sein. Danach hat es dann noch einmal mehr als sechs Monate gedauert, bis uns das Digitalisat geschickt wurde.“
Am 23. Mai wird das Grundgesetz 74 Jahre alt
Jetzt, pünktlich zum 74. Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai, ist das Original endlich digital verfügbar. Und zwar nicht nur einsehbar, sondern tatsächlich frei nutzbar – denn als amtliches Werk ist der Text des Grundgesetzes gemeinfrei. Das gelte auch für das Digitalisat der Urschrift, betont Mezger, der sich beruflich als Anwalt schwerpunktmäßig mit urheberrechtlichen Fragestellungen beschäftigt. Die buchkünstlerische Gestaltung des Drucks erreiche keine schöpferische Eigenart, die besonders schützenswert sei, und auch die digitale Reproduktion per Scan unterliege keinem urheberrechtlichen Schutz.
Das heißt: Die digitale Version kann gespeichert und vervielfältigt, bearbeitet, für künstlerische, wissenschaftliche oder pädagogische Zwecke genutzt, ja sogar verkauft werden. Den Weg in die Wikipedia und die freie Mediensammlung Wikimedia Commons hat sie bereits gefunden.
Aber selbst wenn es diesen gemeinfreien Status nicht hätte: Dokumente, die mit öffentlichen Geldern erstellt wurden, sollten grundsätzlich für alle zugänglich und von allen frei nutzbar sein. Dazu kommt der symbolische Wert: Gerade jetzt, da demokratische Werte in Deutschland und weltweit unter Beschuss geraten, sind Transparenz und gelebte Demokratie so stark gefordert wie selten zuvor.
Archive müssen Verantwortung übernehmen
Das Engagement von Menschen wie Lukas Mezger und Benjamin Bremert ist großartig und ausgesprochen wertvoll für unsere Gesellschaft. Und doch stellt sich die Frage: Warum ist ihr Einsatz an dieser Stelle überhaupt notwendig? Wieso kommen Institutionen wie das Archiv des Bundestages nicht von sich aus auf die Idee, solche Dokumente digital zur Verfügung zu stellen?
Es darf nicht bei der Veröffentlichung dieses einen Dokuments bleiben. Wir bei Wikimedia Deutschland wünschen uns, dass öffentliche Einrichtungen ihre Verantwortung erkennen, Archive durchforsten und Zeugnisse der Demokratie in die Öffentlichkeit tragen. Beispiele gibt es genug – in Deutschland, aber auch in Europa. Lukas Mezger denkt da etwa an die Urschrift der Römischen Verträge, die noch nicht digital vorliegt und auch bei Wikipedia und Wikimedia Commons fehlt.
Was mit öffentlichem Geld und im öffentlichen Interesse erstellt wurde, darf nicht unter Verschluss gehalten werden. Wir wünschen uns, dass symbolträchtige Dokumente der Geschichte zukünftig nicht nur mit viel Aufwand und Zeremonie in der Erde verbuddelt werden, sondern – im Gegenteil! – den Weg heraus aus den Archiven und rein ins Licht der Öffentlichkeit finden.
Archive und Bibliotheken investieren seit vielen Jahren massiv in die Digitalisierung ihrer Sammlungen.
Das gibt es aber nicht zum Nulltarif. Digitalisierung kostet viel Geld. Es bedarf diverser Hardware, um die oft bestandsgefährdeten Originale schonend zu digitalisieren, es bedarf Personal, es bedarf eine gewaltige Serverinfrastruktur, um die entstehenden TB sicher zu speichern etc. pp.
Gleichzeitig haben nahezu alle Archive und Bibliotheken (die gemäß dem deutschen Föderalismus überwiegend durch die Länder und Kommunen finanziert werden und nur selten durch den Bund) seit Jahren keinen oder kaum Mittelaufwuchs. Die Personal- und Haushaltspläne orientieren sich noch an einer Vor-Digitalen Zeit. Daneben stemmen die Einrichtungen noch viele andere Transformationen wie z.B. den Übergang zu Open Access auf allen Ebenen, die Entwicklung von OCR und KI-gestützter Erschließung für die ganzen Digitalisate, übergeordnete Infrastrukturaufgaben für die Digitalisierung die Sicherung der Originale (Zerfall von säurehaltigem Papier…). Die Bestandsaufgaben wie Informationsversorgung (Bibliotheken) und Archivierung behördlicher Abgaben (Archive) sind dabei nicht weggefallen.
Da muss priorisiert werden und hier wäre es durchaus lohnenswert, zu fragen, ob ein Digitalisat eines Dokuments, dessen Inhalt bekannt ist und das in Deutschland nicht so überhöht wird, wie z.B. die amerikanische Unabhängigkeitserklärung wirklich dringender digitalisiert werden muss als andere Bestände.
Es ist daher wohlfeil zu fragen, warum Informationseinrichtungen nicht auf die Idee zur Digitalisierung kommen. Ideen gibt es dort massiv. Wie so oft, fehlt es am Geld. Denn die Digtialisierung von öffentlichem Gut, das mit öffentlichen Mitteln gekauft und erstellt wurde benötigt eben manchmal noch mehr öffentliche Mittel.
„gewaltige Serverinfrastruktur“? Die Aussage möchte ich in Zweifel ziehen. Einige dutzend TB sind heutzutage selbst für Heimanwender und Hobbyisten kein Problem. Das Problem wird das passende IT-Personal sein, das eben praktisch überall besser verdient als im öffentlichen Sektor.
Leider muss Ihren Zweifeln die Stärke entzogen werden. Wenn bei Kommunen teilweise die Kosten für die Speicherung von 1 Gigabyte auf einem Netzlaufwerk pro Jahr 11-14 € kosten (georedundante Speicherung nach 3-2-1-Prinzip, 24-h-Backup-Service etc.), ist die Speicherung im TIFF-Format (oder etwas geringer JPEG 2000) bei einem 64-seitigen Dokument eben nicht trivial.
In dem Fall ist sogar das fehlende Fachpersonal weniger das Problem. Heimanwender und Hobbyarchivare kommen günstiger an Speichermedien. Auf US-Cloudspeichern sollen die Daten eben auch nicht liegen – Stichwort: Datensouveränität.
24/7/365 erreichbare Seiten sind nicht mit Heimanwender-Server vergleichbar. Vor allem aber ist die elektronische Langzeitarchivierung nicht trivial. vgl. https://www.unibw.de/inf2/personen/wissen_mitarbeiter/lothar/lza.pdf
Also, echt jetzt, ernsthaft, eine Online-Bildergalerie mit 61 JPEGs soll im 21. Jahrhundert ein echtes Problem darstellen?
Das Bundestagsarchiv oder Bundesarchiv oder Bundesverfassungsgericht oder die Deutsche Nationalbibliothek hätten das schon vor Jahrzehnten auf ihre jeweiligen Websites als einzelne Seite stellen können. Das ist überhaupt kein Problem. Und für die schonende Digitalisierung verfügt dieses Land über zahlreiche Fachkräfte aus Archiven und Bibliotheken.
Aber, wo kein Wille, da kein Weg.
Tageszeitung DIE ZEIT
ist die zeit nicht eine wochenzeitung?
Danke, ist nun korrigiert.
„und auch der Bundestag stelle allenfalls ein Faksimile aus, also eine originalgetreue Nachbildung.“ – die Digitalisierte Variante ist nichts anderes.
Welches Problem wurde denn jetzt neu gelöst?
Oder gibt es tatsächlich Abweichungen im Text zwischen der digitalisierten Ansicht und gedruckten Gesetzestexten?
Ich sehe das genauso – Digitalisat von Faksimile schont das Original umso mehr. Wenn es Abweichungen gäbe, wäre es eben keine originalgetreue Nachbildung. Leider wird in der Breite häufig zu sehr u.a. auf demokratieschädigende Kräfte gehört, die öffentlichen Glauben in Misskredit ziehen (wollen).
Um das zu ordnen: Ich finde die Arbeit an der Informationsfreiheit sehr wichtig und auch immer unterstützenswert. Im Beispiel fehlt mir jetzt die ursprünglich fehlende Information – weil eben Gesetzestexte mit sehr viel verlegerischem Aufwand in klassischer gedruckter Form verteilt werden, wenn auch nicht als Faksimile
Vielen Dank für die Information. Hervorragendes Engagement.
Eine Liste der Unterzeichner wichtiger Dokumente habe ich schon öfter vermisst. Im Dokument leider auch hier nicht immer deutlich lesbar. Bereits bei oberflächlicher Recherche ergeben sich erhebliche Fragen.
Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein: Lüdemann = Hermann Lüdemann (Politiker) (1880–1959), deutscher Politiker (SPD) https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_L%C3%BCdemann_(Politiker) „1919 war er Mitglied in der verfassunggebenden preußischen Landesversammlung“ (Verfassung für den Freistaat Preußen) Im Wikipedia-Artikel ist nicht erwähnt, dass er einer der Unterzeichner des Grundgesetzes war.
Ein gleichnamiger Politiker: https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_L%C3%BCdemann_(Politiker,_1880) „1919 wurde er für die SPD Abgeordneter im Verfassunggebenden Landtag von Mecklenburg-Schwerin“
Die anderen Unterzeichner Bonn am Rhein am 23. Mai 1949, im verlinkten Dokument pdf Seite 69:
Staatspräsident des Landes Baden: Wohleb
Miniserpräsident des Landes Bayern: Dr. Ehard
Senatspräsident der freien Hansestadt Bremen: W. Kaisen
1. Bürgermeister der Hansestadt Hamburg: Brauer
Ministerpräsident des Landes Hessen: Stock
Ministerpräsident des Landes Niedersachsen: Kopf?
Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen: Arnold
Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz: Altmeier
Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein: Lüdemann (siehe oben)
Ministerpräsident des Landes Württemberg-Baden: Reinhold Maier
Staatspräsident des Landes Württemberg-Hohenzollern: Dr. Gebhard Müller
Wikipedia-Artikel sind sehr unterschiedlich in der Qualität. Dennoch stehen Informationen sonst auch nicht zugriffsbereit zur Verfügung. Es wäre nötig, dass sich das weitere Historiker noch einmal genauer ansehen.
Warum für Niedersachsen Kopf mit Fragezeichen? Kopf war MP von Niedersachsen.
Folgendes fällt auf: Im hier dankenswerterweise veröffentlichten Original (dem Digitalisat der Urschrift) des Grundgesetzes steht in der Präambel – Seite 3 – richtigerweise noch: „…kraft seiner verfassunggebenden Gewalt…“, also ohne das Fugen-s in „verfassunggebend“. In der ersten Ausgabe des Bundesgesetzblatts (23. 05. 1949) heißt es dagegen schon „…verfassungsgebenden Gewalt“, mit Fugen-s. Dabei ist es bis heute geblieben. Hat hier ein Setzer in der damaligen Druckerei – bewußt oder unbewußt den Urtext des Grundgesetzes korrigierend – noch am Tag der Veröffentlichung in den Text eingegriffen? War es der Eile dieser Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt geschuldet (es war derselbe Tag, an dem das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat verkündet worden ist), daß niemand den Text im Bundesgesetzblatt gegengelesen hat?
Siehe auch den Artikel „Präambel des Grundgesetzes“ / Absatz „Orthografie“ in der deutschsprachigen Ausgabe der „Wikipedia“ (in der letzten Bearbeitung vom 19. 11. 2023).