Neues RechtsgutachtenChatkontrolle kommt zunehmend unter Druck

Immer mehr Rechtsexpert:innen bezweifeln, dass die sogenannte Chatkontrolle mit EU-Recht vereinbar ist. Der Kritik schließt sich nun der Juristische Dienst des EU-Ministerrats an. Doch an der Kommission perlt die Kritik bislang ab.

Der als „Chatkontrolle“ bekannte Vorschlag der EU-Kommissarin Ylva Johansson gerät zunehmend juristisch unter Druck, zuletzt mit einem Rechtsgutachten des Juristischen Dienstes des EU-Ministerrats. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / TT

Ein heute bekannt gewordenes Rechtsgutachten des Juristischen Dienstes des EU-Ministerrats äußert Zweifel an der Vereinbarkeit der geplanten Chatkontrolle mit EU-Recht. So lasse etwa der bewusst technologieoffen und breit gestaltete Vorschlag der Kommission zu viel Interpretationsspielraum, um die Bedenken in Hinblick auf Grundrechte ausreichend einzuschätzen.

Dies stehe im Widerspruch zu den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), dem zufolge etwaige Vorgaben für Überwachung klar formuliert und zielgerichtet sein müssten. Dies sei im Gesetzentwurf nicht gegeben, denn der Anwendungsbereich von Anordnungen sei „weiter gefasst als die Aufdeckung krimineller Handlungen“, heißt es unter anderem im Gutachten.

Für den EU-Piratenabgeordneten Patrick Breyer wird damit jede Form der Chatkontrolle „endgültig unhaltbar“. Niemand helfe Kindern mit einer Verordnung, die unweigerlich vor dem Europäischen Gerichtshof scheitern wird, schreibt der Abgeordnete in einer Pressemitteilung. „Die Flut an meist falschen Verdachtsmeldungen würden außerdem effektive Ermittlungen erschweren, Kinder massenhaft kriminalisieren und an den eigentlichen Missbrauchstätern und Produzenten solchen Materials vorbei gehen“, heißt es weiter.

EU-Datenschutzbehörden kritisieren das Vorhaben

Die Kommission wird sich aller Voraussicht nach davon nicht beirren lassen. Selbst die harte Kritik der EU-Datenschutzbehörden ließ sie bislang an sich abprallen. Die Datenschutzbehörden hatten im Juli vergangenen Jahres ihre Einschätzung zu dem umstrittenen Vorschlag für die sogenannte Chatkontrolle vorgelegt – keine drei Monate, nachdem die EU-Kommission diesen vorgestellt hatte. Auf 36 Seiten kritisieren sie den Gesetzentwurf scharf, weil er Grundrechte wie das Recht auf Privatsphäre nicht ausreichend schütze, nicht verhältnismäßig sei und zu viel Raum für potenziellen Missbrauch lasse.

Die schweren Bedenken der Datenschützer:innen hätte die Kommission zum Anlass nehmen können, um eine Atempause einzulegen. Schließlich zählt zu den Aufgaben des Europäischen Datenschutzausschusses (EDSA), die Kommission „in allen Fragen im Zusammenhang mit dem Schutz personenbezogener Daten und neuen vorgeschlagenen Rechtsvorschriften in der Europäischen Union zu beraten“.

Doch die Kritik hat die Kommission bislang nicht zum Umdenken bewogen, sie bleibt bei ihrer Linie. „Die Kommission beabsichtigt nicht, den Vorschlag zurückzuziehen oder zu ändern“, antwortete jüngst die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson auf eine Frage des EU-Abgeordneten Moritz Körner (FDP). Körner wollte wissen, ob die Kommission gedenke, die Änderungsvorschläge der EU-Datenschutzbehörden aufzugreifen und den Vorschlag zur Chatkontrolle „entsprechend zurückzuziehen und zu ändern“.

EU-Kommission weist Kritik zurück

Bereits im Februar dieses Jahres hatte die EU-Kommission in einer Stellungnahme an den federführenden EU-Parlamentsausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) die Kritik der Datenschutzbehörden zurückgewiesen. Demnach verpflichte ihr Vorschlag Online-Dienste nicht zu einer anlasslosen und massenhaften Überwachung, da die Vorgaben zur Durchleuchtung privater Inhalte unter anderem erst nach einer behördlichen Anordnung greifen würden, risikobasiert und zielgerichtet seien sowie nur für einen beschränkten Zeitraum gelten würden.

„Die EU-Kommission igelt sich ein und wird für Expertenkritik blind“, sagt Körner gegenüber netzpolitik.org. „Ihre Ignoranz gegenüber den europäischen Datenschutzbehörden schwächt diese Institutionen nachhaltig.“

Indes stehen der EDSA und der Europäische Datenschutzbeauftragte (EDSB) mit ihrer gemeinsamen Kritik nicht alleine da. Auch Kinderschutz-Verbänden, Bürgerrechtler:innen und dem Wissenschaftlichen Dienst des EU-Parlaments gehen die Überwachungspläne der EU-Kommission zu weit.

Ablehnende Signale auch aus dem EU-Parlament

Noch ist unklar, inwieweit das Rechtsgutachten ihres Juristischen Dienstes in die Position der EU-Mitgliedstaaten einfließen wird. Derzeit verhandelt das EU-Gremium über seine Ausrichtung, eine Reihe an EU-Ländern – darunter Belgien, Spanien und Italien – folgt dabei weitgehend der Linie der EU-Kommission. Staaten wie Deutschland und Österreich hingegen wollen etwa verhindern, dass Ende-zu-Ende-Verschlüsselung mit Techniken wie Client-Side-Scanning ausgehebelt wird.

Aus dem EU-Parlament kommen bislang ablehnende Signale, wobei auch hier noch keine abschließende Position feststeht. Erst danach können die sogenannten Trilog-Verhandlungen zwischen Kommission, Ministerrat und Parlament beginnen, die zum fertigen Gesetz führen.

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

8 Ergänzungen

  1. Das politische System hat sich schleichend seit den 90er Jahren in eine „Mediokratie“ gewandelt. Solange die Kritik an der Chatkontrolle nicht in den „Mainstream“-Medien aufgegriffen wird wird man sie auch weiter ignorieren.
    Damals in meiner Abiturklasse wurde ein Text der Bundeszentrale für politische Bildung behandelt: „Mediokratie – Auf dem Weg in eine andere Demokratie?“ (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26977/mediokratie-auf-dem-weg-in-eine-andere-demokratie/ – auch heute noch verfügbar, interessant und lesenswert)

    1. Mr. Tea: Vielen Dank für den sehr interessanten Link bzw. Artikel!

      In der Tat sehr lesenswerte Analyse und eine ebenso treffende Beschreibung dessen, was sich in der „Mediendemokratie“ ändern muss.

  2. Wissen eigentlich diese Leute die das unbeirrt vorantreiben noch, was Grund- und Menschenrechte sind? Haben diese Menschen eigentlich noch irgend einen Bezug zu den Bürgern und deren Rechte in der EU? Sind diese Menschen sich nicht im geringsten darüber im Klaren, welchen immensen Schaden sie damit auf jedweder europäischer Ebene, sei es juristisch, gesellschaftlich oder politisch, anrichten? Ist denn nun wirklich jede Hemmschwelle gefallen?

    1. Es gab nie eine Hemmschwelle.

      Abhören von Kommunikation ist ein Staatsding von jeher und nur die Gründe dafür oder die Tiefe wechseln.

      In guten Jahren hören wir nur die Bösen ab und in schlechten Jahren hören wir auch ein bisschen die Guten ab, damit sie nicht die Bösen werden – denn das Böse schläft nie und ist ansteckend.

      1. Eine Hemmschwelle vielleicht nicht, aber ein Schockerlebnis, die einen Befürworter derartiger Praktiken in Überlichtgeschwindigkeit zum Gegner machen. Das passiert dann, wenn diese Personen merken, dass auch sie überwacht werden. Das kann man dann in den USA beobachten, wenn die parlamentarischen Geheimdienstüberwacher herausfinden, dass sie von den Geheimdiensten überwacht wurden.

        1. Wirklich maechtig ist nicht, wer wegen seiner Privilegien nicht ueberwacht wird.

          Wirklich maechtig ist, wem es wegen seiner Privilegien egal sein kann, ueberwacht zu werden.

          Das muss man beruecksichtigen. Deswegen haben viele Politiker oder Superreiche zB keine Probleme mit der Kriminalisierung von Anonymitaet.

    2. Das sind eben Politiker der selben Generation wie Ex-Innenminister Friedrich mit seinem „Supergrundrecht Sicherheit“ – Freiheit ist da zweitranging.

    3. Das Bedenklichste an der Sache ist doch, unsere so demokratischen Regierungen zeigen mit dem Finger auf China als totalen Überwachungsstaat. Aber am liebsten hätten unsere Politiker doch genau das Gleiche…….. Die sollten sich alle dafür schämen unter dem Denkmantel der Verfolgung von Kinderpornografie / Straftaten dies zu fordern. Es ist bereits heute möglich, diese Dinge aufzuklären, ohne alles und jeden zu überwachen. Ja, dazu benötigt man erst einmal einen konkreten Verdacht und einen richterlichen Beschluss, aber das gehört einfach dazu, wenn wir nicht in einer Diktatur leben wollen und in jedem Bürger einen möglichen Straftäter erkennen.

Wir freuen uns auf Deine Anmerkungen, Fragen, Korrekturen und inhaltlichen Ergänzungen zum Artikel. Bitte keine reinen Meinungsbeiträge! Unsere Regeln zur Veröffentlichung von Ergänzungen findest Du unter netzpolitik.org/kommentare. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.