Gesetz gegen digitale Gewalt„Es gibt nicht genug Beratungsstellen“

Zu wenig Personal, keine Zeit für Fortbildungen und verzweifelte Betroffene, denen das Geld für eine Anwältin fehlt. Im Interview beschreibt eine Beraterin für digitale Gewalt die harte Realität in Beratungsstellen – und warum sie vom geplanten „Gesetz gegen digitale Gewalt“ enttäuscht ist.

Person mit langen dunklen Haaren in gestreiftem Hemd steht vor einer Glasfront; Screenshot aus dem Eckpunktepapier des Justizministeriums
Cordelia Moore arbeitet als Beraterin zu geschlechtsspezifischer digitaler Gewalt

Triggerwarnung: In diesem Interview geht es um digitale sexualisierte Gewalt. Hier gibt es Links zu Anlaufstellen in Notlagen.

Wer im Netz zum Ziel von Hassrede, Stalking und Drohungen wird, ist nicht allein. Beratungsstellen für digitale Gewalt können Betroffenen dabei helfen, sich besser zu schützen und ihre Rechte durchzusetzen. Es gibt aber mehr Hilfesuchende als Berater*innen derzeit versorgen können, wie Cordelia Moore im Interview berichtet. Die Beraterin bildet Fachkräfte im Umgang mit Cyberstalking und digitaler sexualisierter Gewalt aus. Sie findet: Statt Online-Dienste zur Herausgabe von IP-Adressen zu zwingen, sollte der Staat besser mehr Geld für Beratung ausgeben.

netzpolitik.org: Cordelia, was bringst du anderen Berater*innen über digitale Gewalt bei?

Cordelia Moore: Erst mal biete ich ihnen einen Überblick, was digitale Gewalt überhaupt bedeutet. Eigentlich ist digitale Gewalt kein neues Gewaltphänomen, das wird sehr oft missverstanden. Stattdessen geht es um digitalisierte Formen von Gewalt, die es bereits analog gibt: sexualisierte Gewalt, Stalking, häusliche Gewalt, Hasskommentare. Im digitalen Raum entwickeln diese Formen von Gewalt allerdings spezielle Dynamiken. Zuerst war ich selbst Beraterin in Hamburg und habe technische Beratung für Cyberstalking gemacht. Ich habe aber schnell gemerkt, dass der Bedarf nach Fachwissen groß ist, ständig bekam ich Anfragen aus ganz Deutschland. So bin ich dazu gekommen auch Fortbildungen für Berater*innen anzubieten.

netzpolitik.org: Was wollen Berater*innen von dir wissen?

Cordelia Moore: Manchmal schildern sie mir konkrete Fälle, weil sie das Phänomen technisch nicht ganz verstehen. Die Beratungsstellen sind unterfinanziert. Das Defizit türmt sich auf: Zu einem ohnehin schon schwieriges Thema – Beratung zu Gewalt – kommt noch die Digitalisierung hinzu. Es ist für die Fachkräfte fast unmöglich, sich das Wissen in der kurzen Zeit anzueignen, die sie für Fortbildungen freiräumen können.

netzpolitik.org: Welche Formen von digitaler Gewalt erleben die Menschen, die in eine Beratung kommen?

Cordelia Moore: Das lässt sich schwer beantworten und hängt auch davon ab, worauf sich eine Beratungsstelle spezialisiert hat. Fälle von Cyberstalking gibt es vor allem bei Beratungsstellen rund um Stalking und häusliche Gewalt. Es gibt auch viele Beratungsstellen, die einen Fokus auf sexualisierte Gewalt haben. HateAid ist die einzige Stelle, die ausschließlich zu digitaler Gewalt berät.

„Ich hatte mir mehr erhofft“

netzpolitik.org: Was muss man sich unter der digitalisierter Form von sexualisierter Gewalt vorstellen?

Cordelia Moore: Bei Minderjährigen sind es bildliche Gewaltdarstellung an Kindern und Jugendlichen, sogenannte Kinderpornografie, oder das sogenannte Cybergrooming, also die Anbahnung sexueller Kontakte durch Erwachsene. Bei Jugendlichen und Erwachsenen geht es oft um intime Bildaufnahmen, die etwa während der Beziehung angefertigt wurden und dann anschließend im Netz veröffentlicht wurden. Solche bildbasierte Gewalt ist auch unter dem ungünstigen Begriff „Rachepornografie“ bekannt.

Acht klaffende Lücken im geplanten Gesetz

netzpolitik.org: Das Justizministerium hat vergangene Woche Pläne für ein neues „Gesetz gegen digitale Gewalt“ vorgestellt. Betroffene sollen sich damit einfacher gegen Gewalt im Netz wehren können, etwa indem Dienste auf Anordnung die Accounts von Täter:innen sperren müssen. Außerdem sollen Plattformen und Internet-Provider dazu verpflichtet werden, mehr Daten von verdächtigen Accounts herauszugeben, um mutmaßliche Täter*innen zu identifizieren kann. Findest du das sinnvoll?

Cordelia Moore: Generell finde ich es schön, dass es eine Initiative gibt. Digitale Gewalt hat in Deutschland bisher nicht so viel Beachtung gefunden. An den Eckpunkten erkennt man aber auch sehr gut die Probleme, die wir mit diesem Thema in Deutschland haben: Es ist nicht klar definiert, was digitale Gewalt überhaupt ist. Wenn ich die Eckpunkte lese, habe ich den Eindruck, dass damit hauptsächlich Hassrede abgedeckt wurde. Ich hatte das zwar erwartet, aber ich hatte mir mehr erhofft. Digitale Gewalt ist wesentlich vielfältiger. Man muss zum Beispiel unterscheiden zwischen digitaler Gewalt im öffentlichen Raum und im sozialen Nahraum, etwa Stalking oder bildbasierte Gewalt in der Beziehung. Das kam in der öffentlichen Debatte bisher zu kurz – und das passiert jetzt wieder.

„Beratung sollte allererste Anlaufstelle sein“

netzpolitik.org: Woran liegt das?

Cordelia Moore: Es gibt dazu sehr wenig Forschung in Deutschland. Man muss erst mal verstehen: Welche Formen von digitaler Gewalt gibt es, welche Ursachen und Begleitumstände stecken dahinter? Erst dann kann man danach ein Gesetz ausrichten. Beim Lesen der Eckpunkte ist mein Eindruck, dass diese Basis fehlt.

netzpolitik.org: Kann das geplante Gesetz gegen digitale Gewalt im Nahraum gar nicht helfen?

Cordelia Moore: Sehr begrenzt. Was Betroffene in diesen Fällen brauchen, ist eine umfassende Unterstützung. Die beginnt mit einer psychosozialen Beratung und geht weiter mit einer gemeinsamen Abwägung: Welche Schritte möchte ich gehen? Möchte ich Anzeige erstatten oder nicht?

netzpolitik.org: Sollten manche Betroffenen besser keine Anzeige erstatten?

Cordelia Moore: Eine Anzeige ist nicht für alle Betroffenen der richtige Weg, insbesondere bei sexualisierter Gewalt, wenn eine Strafverfolgung retraumatisierend sein kann. Man muss in jedem Einzelfall schauen, was die betroffene Person gerade braucht. Deswegen sollte Beratung meiner Meinung nach die allererste Anlaufstelle sein.

netzpolitik.org: Was leisten die Beratungsstellen noch für Betroffene?

Cordelia Moore: Sie sprechen mit ihnen darüber, wie man eigentlich Beweise sichern kann. Es kann eine extrem hohe psychische Belastung sein, wenn Betroffene bei sexualisierter Gewalt selbst rechtssichere Screenshots anfertigen müssen. Das und mehr sind Themen, in denen eine gute Unterstützung enorm wichtig ist. Aber wir haben insbesondere für Betroffene von Gewalt im sozialen Nahraum zurzeit keine gute Versorgung in Deutschland.

„Das ist absolut unwahr!“

netzpolitik.org: Warum ist das so?

Cordelia Moore: Beratungsstellen in Deutschland sind chronisch unterfinanziert. Da herrscht ohnehin schon eine ständige Knappheit an Ressourcen. Fachkräften fehlt es einfach an der Zeit , um überhaupt Fortbildungen zu besuchen.

netzpolitik.org: Was erleben Betroffene, die sich dann doch entscheiden zur Polizei oder vor Gericht zu gehen?

Cordelia Moore: Sie stoßen sehr oft auf Hürden. Oft kennen sie ihre eigenen Rechte nicht. Viele wissen zum Beispiel nicht, dass sogenannte Dickpics strafbar sind. Auch Strafverfolgungsbehörden haben großen Nachholbedarf. Immer noch müssen sich Betroffene anhören, Delikte im digitalen Raum könne man nicht verfolgen. Das ist absolut unwahr!

netzpolitik.org: Das Justizministerium will es Betroffenen leichter machen, gegen verdächtige Accounts vorzugehen. Dafür brauchen sie eine Anwältin und müssen vor Gericht. Das Gericht kann einen Online-Dienst auffordern, einen Account zu sperren. Was bringt das?

Cordelia Moore: In der Realität können sich viele Betroffene keine anwaltliche Unterstützung leisten. Vor allem die Betroffenen, die zu Beratungsstellen kommen, haben oft wenig oder keine finanzielle Mittel. Es gibt in Deutschland sehr wenige Anlaufstellen, die kostenlose, juristische Hilfe für digitale Gewalt anbieten. Das könnte die Politik ändern, aber dazu steht im Eckpunktepapier nichts.

„Cyberstalking ist keine Ausnahme, sondern Standard“

netzpolitik.org: Das Justizministerium plant auch verschärfte Auskunftspflichten für Dienste und Internet-Provider. Auf Anordnung müssen sie IP-Adressen herausgeben, so lässt sich der Klarname von Anschluss-Inhaber*innen ermitteln. Ist das für Betroffene sinnvoll?

Cordelia Moore: Es klingt zwar naheliegend zu sagen: Wir wollen Täterinnen und Täter ausfindig machen, deswegen wollen wir die Anonymität im Internet aushebeln. Aber das ist zu eng gedacht. Anonymität im Netz schützt gerade auch marginalisierte Gruppen.

netzpolitik.org: Welche Rolle spielt digitale Gewalt durch anonyme Accounts in der Beratung?

Cordelia Moore: In einer Beratungsstelle zu häuslicher Gewalt und Stalking hat das eher keine Rolle gespielt. Die Betroffenen kommen aus einer gewaltvollen Beziehung oder befinden sich noch in einer. Sie wissen ganz genau, wer die Gewalt ausübt. Ihnen geht es darum, wie sie Beweise sichern und ihre Rechte durchsetzen können. Um in solchen Fällen zu ermitteln, muss ich nicht die Freiheitsrechte alle Nutzerinnen und Nutzer einschränken. Beim Hasskommentaren spielen anonyme Accounts schon eine größere Rolle.

netzpolitik.org: Was braucht es am dringendsten, um Betroffene besser vor digitaler Gewalt zu schützen?

Cordelia Moore: Es braucht langfristige Finanzierung. Es gibt nicht genug Beratungsstellen, in ländlichen Regionen gibt es zum Teil keine. Oft ist die Finanzierung von Beratungsstellen nur auf wenige Jahre gesichert. Neben der Finanzierung braucht es Ressourcen, um sich für digitale Gewalt fortzubilden. Man sieht das etwa bei Stalking: Cyberstalking ist inzwischen keine Ausnahme, sondern der Standard – weil es sehr viel einfacher ist, jemanden über digitale Medien nachzustellen als auf der Straße. Bei digitaler Gewalt müssen Berater*innen immer auf dem aktuellen Stand bleiben, das erfordert viel Zeit. Jedes Update von einem Messenger kann wieder neue Funktionen enthalten.

Verschärfter Paragraf gegen Psychoterror

Mit wenig Geld viel erreichen

netzpolitik.org: Wie viel Aufwand müsste der Staat dafür betreiben?

Cordelia Moore: Eigentlich geht es nur darum, die jetzigen Stellen langfristig zu sichern und etwas auszubauen, sodass Fachkräfte in der psychosozialen Arbeit mehr Stunden haben, um sich fortzubilden. Für technisch komplexe Fälle würde es reichen, ausreichend regionale oder bundesweite Anlaufstellen zu erschaffen, zum Beispiel wenn es darum geht, Spionage-Apps auf einem Telefon aufzuspüren.

netzpolitik.org: Gibt es dafür schon Beispiele?

Cordelia Moore: Ja, in Baden-Württemberg etwa hat die Landesregierung eine regionale Koordinierungsstelle für Digitale Gewalt geschaffen. Die Stelle hat Hilfsangebote vernetzt und ermittelt, welche Fortbildungen die Fachkräfte in Beratungsstellen und Frauenhäusern brauchen. Da ist in zwei Jahren mit vergleichsweise wenig Geld viel passiert.

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1 Ergänzungen

  1. Ja, nicht genügend Beratungsstellen ist eine Sache. Aber warum gibt es genügend viele Idioten, die diese Sorte Quatsch mitmachen?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.