EckpunktepapierDie Fallstricke beim Gesetz gegen digitale Gewalt

Mehr Rechte für Betroffene von Gewalt, mehr Pflichten zum Rausrücken von Daten: Das Justizministerium möchte den Umgang des Staates mit digitaler Gewalt ändern. Von Expert*innen gibt es dafür teils Lob, teils schwere Bedenken. Die ersten Reaktionen.

Eine abstrakte Zeichnungen mit Schlössern. Ein Schriftzug "Dein Konto wurde vorübergehend gesperrt"
Account-Sperren sind nur eine Maßnahme im geplanten Gesetz gegen digitale Gewalt – Motiv: StableDiffusion („png vector illustration account profile image with closed lock)

Wer im Netz bedroht und beleidigt wird, soll sich künftig besser wehren können. Dieses Ziel verfolgt ein geplantes Gesetz zum Schutz vor digitaler Gewalt. Die Eckpunkte hierzu hat das FDP-geführte Justizministerium (BJM) am heutigen Mittwoch vorgelegt.

Im Zentrum stehen erweiterte Auskunftsrechte für Betroffene. Das heißt, Betroffene können vor Gericht erwirken, dass Online-Anbieter beispielsweise IP-Adressen von Verdächtigen herausrücken. Lässt sich die Identität der Menschen hinter gewaltsamen Accounts nicht feststellen, sind Account-Sperren vorgesehen. Außerdem sollen betroffene Online-Anbieter Anlaufstellen in Deutschland einrichten.

Bis Ende Mai können Interessierte und Expert*innen nun ausführliche Stellungnahmen abgeben. Wir haben bereits jetzt einige Fachleute um ihre erste Einschätzung gebeten und ein sehr gemischtes Echo eingefangen.

HateAid: Anlaufstellen hilfreich, Account-Sperren ohne Relevanz

Wenn es um digitale Gewalt geht, ist in Deutschland die gemeinnützige Organisation HateAid eine dezidierte Anlaufstelle. HateAid-Juristin Josephine Ballon nimmt in ihrer Einschätzung zum BJM-Papier vor allem die Hürden für Betroffene in den Blick. Das Papier sieht vor, dass Online-Anbieter künftig auch die IP-Adressen von verdächtigen Accounts herausrücken müssen. Mit deren Hilfe lassen sich wiederum bei Internet-Providern wie Vodafone, Telekom oder 1&1 die Anschluss-Inhaber*innen ermitteln. Das kann dabei helfen herauszufinden, wer mutmaßliche Täter*innen sind. Ballon befürwortet diese Ausweitung von Auskunftsrechten auf Anfrage von netzpolitik.org. „Hier gab es dringenden Nachbesserungsbedarf.“

Lob gibt es von Ballon auch dafür, dass Anbieter eine Anlaufstelle in Deutschland haben sollen, sogenannte Zustellungsbevollmächtigte. „Es würde bedeuten, dass man alle Briefe außergerichtlich in Deutschland und in deutscher Sprache an die Plattformen adressieren kann“, schreibt Ballon. Das würde es Betroffenen ersparen, einen „Brief nach Irland senden zu müssen, wo manchmal dann sogar englische Sprache verlangt wird.“

Accounts sperren, IP-Adressen einfrieren

Kritik hat Ballon an den geplanten Account-Sperren. Demnach kann das Gericht eine Plattform anweisen, beispielsweise einen Facebook-Account zu sperren, weil er Bedrohungen und Beleidigungen verbreitet hat. Das wäre auch dann eine Hilfe für Betroffene, wenn sich die Identität der Person hinter einem Account nicht feststellen lässt. Dennoch schreibt Ballon, sie gehe nicht davon aus, dass die im Papier beschriebenen Account-Sperren eine besonders große praktische Relevanz haben werden. Man müsse sich vergegenwärtigen, „dass viele Menschen ohnehin mehrere Profile haben und man sich innerhalb von wenigen Minuten mit anderen Daten auch einfach einen neuen anlegen können“, schreibt Ballon.

Besser wäre ihr zufolge, wenn auch NGOs solche Verfahren führen könnten, sodass das Vorgehen nicht bloß an betroffenen Einzelpersonen hängt. Nach wie vor sieht Ballon zu hohe Hürden für Betroffene: Wer sich wehren möchte, braucht Geld. „Denn beim Landgericht gilt Anwaltszwang“, so Ballon. Betroffene müssten mit mehreren Hundert Euro rechnen. Solche Kosten würden sich am Gegenstandswert orientieren. Dieser Wert beziffert in Euro, wie ernst ein verhandeltes Problem ist. „Man könnte die Kosten reduzieren, wenn man den Gegenstandswert dieser Verfahren pauschal festlegen würde – zum Beispiel auf 250 Euro“, schreibt Ballon.

Wie schnell Betroffene an Behörden scheitern, haben in der Vergangenheit auch bereits viele journalistische Recherchen gezeigt. So zeigte etwa vor einem Jahr das ZDF Magazin, wie wenig die Polizei unternimmt, wenn digitale Gewalttaten zur Anzeige gebracht werden. Betroffene berichten immer wieder, dass sie von Behörden nicht ernst genommen werden oder Ermittlungen versanden.

GFF: Klagerecht für Organisationen gefordert

Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) fordert seit Jahren Account-Sperren und darf die nun im Eckpunktepapier gelandete Regulierung sicher als einen Erfolg verbuchen. „Accountsperren unterbinden digitale Gewalt effizient und greifen gleichzeitig nicht die anonyme Nutzung im Internet an“, schreibt Rechtsanwalt Benjamin Lück von der GFF auf Anfrage. Allerdings bleibe vieles im BMJ-Papier noch vage. Lück wünscht sich außerdem, dass Account-Sperren auf volksverhetzende Inhalte oder das Verwenden von Hakenkreuzen ausgeweitet werden. Aktuell seien nur schwerwiegende Verletzungen des Persönlichkeitsrechts im Blick.

Ähnlich wie HateAid fordert die GFF ein Klagerecht für zivilgesellschaftliche Organisationen. Dennoch: Das BMJ lege mit dem Papier den Fokus „auf die private Rechtsdurchsetzung statt auf immer neue Strafrechtsverschärfungen“. Das sei ein sinnvoller Ansatz, schreibt Lück. Für Betroffene seien besonders Anlaufstellen im Inland eine Vereinfachung. Hier fordert Lück eine Ergänzung: „Wenn es einen solchen Zustellungsbevollmächtigten gibt, sollten sich aber auch die Nutzer*innen an die Person wenden können, die von willkürlichen Sperren der Plattformen betroffen und dadurch in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt sind.“

D64: „Erhebliche negative Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit“

Ernstere Bedenken zum BMJ-Papier äußert Erik Tuchtfeld, Co-Vorsitzender des sozialdemokratisch geprägten digitalpolitischen Vereins D64. Das Papier sei grundsätzlich zu begrüßen, schieße jedoch über das Ziel hinaus, schreibt der Rechtswissenschaftler. Während die Eckpunkte im Bereich Account-Sperren gut durchdacht seien, gingen die Auskunftsrechte zu weit.

Das BMJ-Papier sieht vor, dass Online-Anbieter auf Anordnung IP-Adressen von Nutzer*innen herausgeben müssen. Gerichte könnten wiederum Internet-Provider wie Vodafone, Telekom oder 1&1 dazu auffordern, zu speichern, welche IP-Adressen sich welchen Kund*innen zuordnen lassen. Auf diesem Weg lassen sich die Klarnamen von Verdächtigen ermitteln. Eine solche gezielte Speicherung auf Zuruf wird seit langem als Quick-Freeze-Verfahren diskutiert. Hierzu hatte das BMJ einen Entwurf vorgelegt. Es ist eine Alternative zur vielfach kritisierten Vorratsdatenspeicherung.

In diesem Entwurf aus dem Vorjahr sei allerdings die Speicherung per Quick-Freeze-Verfahren nur bei Straftaten „von erheblicher Bedeutung“ möglich, schreibt Tuchtfeld. Im neuen BJM-Papier ist das viel weiter gefasst: „Als Beispiel wird explizit eine unzutreffende Restaurantkritik genannt.“ Das sei eine unverhältnismäßige Ausweitung, so Tuchtfeld. „Es sind erheblich negative Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit zu befürchten, wenn zum Beispiel wirtschaftsstarke Unternehmen ohne Weiteres Identifizierungsmaßnahmen gegen Kritiker:innen einleiten können“, warnt der Vereinsvorsitzende.

Denkbar sei auch, dass Rechtsextreme die neuen Auskunftsrechte nutzten, um die Identität von Kritiker*innen zu erfahren. Die hiervon Betroffenen gehörten oft zu vulnerablen Gruppen, wie Tuchtfeld erklärt. „Anonymität im Internet schützt insbesondere die Meinungsfreiheit derer, die sich in gesellschaftlich schwächeren Positionen befinden und auf diesen Schutz angewiesen sind.“ Deshalb solle das BMJ „das Auskunftsverfahren dringend auf die Fälle begrenzen, in denen ein Anfangsverdacht für eine Straftat vorliegt.“

Breyer und CCC: Recht auf Anonymität zu weit eingeschränkt

Ähnliche Bedenken äußert der Abgeordnete des Europaparlaments Patrick Breyer (Piraten) auf Anfrage. Auskunftsrechte könnten „leicht gegen die Falschen in Stellung gebracht werden, zum Beispiel zur Verfolgung anonymer Whistleblower, Aufdeckung anonymer Quellen“. Die Auskünfte würden das auch im Koalitionsvertrag verankerte Recht auf Anonymität zu weit einschränken. Das Justizministerium vergesse zudem, dass der Europäische Gerichtshof „die Nutzung auf Vorrat gespeicherter IP-Adressen nur zur Bekämpfung schwerer Kriminalität zulässt“, schreibt Breyer. Anordnungen zum Sichern von Beweisen seien allerdings „gute Instrumente.“

Die geplanten Account-Sperren sieht Breyer kritisch. Er bezeichnet sie als „De-platforming“; so nennt man es, wenn man meist reichweitenstarken Accounts die Plattform und damit den Zugang zu ihrem Publikum nimmt. Das könne sich je nach Betroffenen sehr unterschiedlich auswirken, schreibt Breyer. De-Plattforming könne Prominente, die ihren Lebensunterhalt auf Online-Plattformen verdienen, existenziell bedrohen. „In anderen Fällen – gerade bei den im Papier erwähnten anonymen Accounts – wäre die Sanktion völlig wirkungslos, weil ein Nutzer einfach ein anderes Konto erstellen wird.“

Eine klare Warnung vor dem Gesetz kommt auch vom Chaos Computer Club. Er sieht in den Vorhaben des BMJ-Papiers eine „Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür“. Neue Pflichten zum Speichern von Daten und Identifizieren von Nutzer*innen lehnt der CCC ab – und fordert die Regierung dazu auf, Ermittlungsbehörden zu stärken.

Was fehlt: Geld für Beratungsstellen

Während das BMJ-Papier vor allem um juristische Lösungsversuche kreist, klagen Beratungsstellen für digitale Gewalt seit Jahren über Geldmangel. Im vergangenen Jahr forderten Fachleute etwa mehr Mittel für Informationsangebote, Beratungsstellen und Berater*innen. „Fachberatungsstellen müssen ausfinanziert sein und genug Kapazitäten haben, um sich den Betroffenen voll zu widmen“, sagte Jenny-Kerstin Bauer vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe im netzpolitik.org-Interview.

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