Im Bereich der Digitalisierung schneidet Deutschland im europäischen Vergleich schlecht ab. Laut dem Digital Riser Report 2021 steht Deutschland in der Kategorie der digitalen Wettbewerbsfähigkeit in Europa an zweitletzter Stelle. Die neue Ampelkoalition brachte Hoffnung, der Digitalisierung neuen Schwung zu verleihen. Doch zivilgesellschaftliche Organisationen bemängeln, dass die neue Bundesregierung in ihrer bisherigen Amtszeit noch zu wenig getan hat, um entscheidende Digitalisierungsprojekte voranzutreiben.
Das Kernproblem scheint aber nicht darin zu liegen, dass der Bundesregierung die Digitalisierung egal ist. Schließlich steckt und steckte Deutschland bereits mehrere Milliarden Euro in Digitalisierungsprojekte. So hat der Bund ingesamt 6,5 Milliarden Euro für den DigitalPakt Schule bewilligt, der von 2019 bis 2024 deutsche Schulen digitaler machen soll. Trotz dieser milliardenschweren Investition bleiben die erhofften, spürbaren Effekte bislang aus. Die Digitalisierung in den Schulen geht nur schleppend voran.
Johanna Sprondel und Sascha Friesike setzen sich in ihrer Publikation „Träge Transformation – Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren“ mit eben jenem paradoxen Phänomen auseinander: Trotz Investitionen fehlen ertragreiche Ergebnisse. Anhand von acht Essays decken sie die geläufigsten Missverständnisse und Fehler auf dem Weg der Digitalisierung auf. Netzpolitik.org hat mit den beiden Autor:innen gesprochen und sie gefragt, was hierzulande bei der Digitalisierung falsch läuft und sich ändern muss.
Johanna Sprondel ist Professorin für Medien, Kommunikation und Marketing in Stuttgart und beschäftigt sich mit der Frage, wie sich unsere Gesellschaft im Zuge der Digitalisierung verändert. Sascha Frisieke ist Direktor des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft und Professor für Design digitaler Innovationen an der Universität der Künste Berlin.
Digitalisierung und digitale Transformation
netzpolitik.org: Wir hören oft, die Digitalisierung in Deutschland gehe nur schleppend voran. Ihr argumentiert in eurem Buch, dass es um die Digitalisierung gar nicht so schlecht stehe. Vielmehr sei die fehlerhafte digitale Transformation die Wurzel des Problems. Inwiefern unterscheidet dich die digitale Transformation von der Digitalisierung?
Johanna: Digitalisierung bezeichnet die Übertragung von etwas Analogem in Nullen und Einsen. Zum Beispiel findet Digitalisierung statt, wenn Landkarten eingelesen und dann in ein Gerät mit einem GPS-Empfänger übertragen werden. Bei diesem Prozess verändert sich zwar die Darstellungsform, aber nicht der Gegenstand oder die Qualität an sich – etwas wird nicht automatisch besser oder bürgerfreundlicher, weil es nun in digitaler Form vorliegt. Letztlich ist die Digitalisierung eine reine Übersetzung. Der digitale Transformationsprozess hingegen nutzt die Digitalisierung, um auf ihrer Grundlage den Gegenstand und seine Nutzung zu verändern. So können digitalisierte Landkarten dann eben auch anzeigen, wo die nächste Tankstelle ist, wo man am günstigsten tanken kann und wo gerade Stau entsteht. Die klassische Landkarte wird so auf der Grundlage einer digitalen Landkarte transformiert.
Sascha: Der Weg der digitalen Transformation ist somit komplexer als die bloße Digitalisierung eines Gegenstands. Eben weil sich während eines Transformationprozesses der Gegenstand an sich ändert, weiß man davor nicht, was das ideale Ergebnis ist. Das Ziel bleibt zunächst unscharf und der Prozess muss ausgehandelt werden. Das macht es auch schwierig, einen solchen digitalen Transformationsprozesses zu managen und es kann zu Missverständnissen kommen. Eine gelungene Digitalisierung bedeutet: das digitale Abbild entspricht dem Original. Wann eine digitale Transformation gelungen ist, lässt sich vorher nicht definieren.
„Die Technologie ist nie Selbstzweck“
netzpolitik.org: In eurem Buch beschäftigt ihr euch intensiv mit der Frage, wie so ein Aushandlungsprozess der digitalen Transformation aussehen kann. Wie können wir einen solchen Prozess starten?
Johanna: Wenn wir ein Produkt oder einen Prozess digital transformieren wollen, müssen wir festlegen, was wir erreichen wollen und wie wir dahin kommen. Dabei sollen wir uns erstmal mit den Bedürfnissen der Menschen auseinandersetzen, die das Ergebnis der Transformation nutzen sollen bzw. davon betroffen sind. Es ist wichtig, in einem solchen Aushandlungsprozess die Fragen zu stellen: Was brauchen wir wirklich? Und was sind die Probleme? Erst nachdem das ausgehandelt ist, sollten sich die Akteur:innen mit den technischen Möglichkeiten auseinandersetzen und so eine passende Lösung erarbeiten. Wir müssen also zunächst den sozialen Kontext und das zu lösende Problem analysieren. Die Technologie ist dann ein Werkzeug, das benutzt werden kann, um das Problem zu lösen. Die Technologie ist allerdings nie Selbstzweck.
netzpolitik.org: Ein Problem der digitalen Transformation seht ihr darin, dass häufig technisches Wissen im Vordergrund steht und die sozialwissenschaftliche Analyse in den Hintergrund gerät. Brauchen wir mehr Sozialwissenschaftler:innen im Bereich der Technologien?
Johanna: Die digitale Transformation wird häufig als „digitale Insel“ verstanden. Das heißt: Nur Menschen, die Informatik studiert haben, wird die notwendige Kompetenz zugesprochen, Digitalisierungsprozesse zu verstehen und angehen zu können. Dabei tauchen in solchen Prozessen oft bekannte Muster und Probleme auf, für die wir bereits im analogen Leben Lösungen gefunden haben. Menschen aus anderen Bereichen, etwa den Sozialwissenschaften, Politikwissenschaften oder der Philosophie, könnten ihr erarbeitetes Wissen teilen und es auf digitale Probleme anwenden.
Sascha: Auf der einen Seite brauchen wir natürlich mehr Leute, die den sozialen Kontext verstehen, in dem wir etwas transformieren. Gleichzeitig reicht ihre reine Anwesenheit nicht aus – sie müssen auch Gehör finden. Der springende Punkt ist, dass die Bereitschaft da ist, miteinander verhandeln zu wollen. Informatiker:innen denken oft, sie haben die Antworten gefunden, weil sie Werkzeuge haben, um mit der Technologie umzugehen. Das Verständnis vom sozialen Kontext wird zu selten wertgeschätzt.
Teilhabe und Transparenz
netzpolitik.org: Euch ist nicht nur wichtig, dass der soziale Kontext untersucht wird. Ihr plädiert auch dafür, den Prozess der digitalen Transformation möglichst integrativ zu gestalten. Was genau versteht ihr unter digitaler Teilhabe?
Johanna: Die zentrale Frage ist doch: Wie gestalten wir die digitale Transformation so, dass sie gesamtgesellschaftliche Interessen reflektiert und Menschen aller Altersgruppen, sozialer „Klassen“ und mit verschiedenen physischen und kognitiven Möglichkeiten integriert? Die Pluralität der Gesellschaft sollte sich in diesem Prozess spiegeln. Wenn wir von Teilhabe reden, dann reden wir, mal ein Beispiel, auch vom barrierefreien Zugang zu Dokumenten. Kaum ein Ministerium stellt seine Dokumente barrierefrei zur Verfügung – doch ohne einen barrierefreien Zugang zu digitalen Dokumenten kann eben auch keine Pluralität in der politischen und gesellschaftlichen Partizipation erreicht werden.
netzpolitik.org: Eine Voraussetzung für digitale Teilhabe ist, dass Informationen transparent dargestellt werden und so zugänglich für alle sind. Die Open-Government-Bewegung zielt genau darauf ab und fordert, dass Daten, die von allgemeinem Interesse sind, von Regierungen und Verwaltungen offengelegt werden sollen. Ihr seht auch negative Aspekte der Transparenz. Wann ist Transparenz problematisch?
Sascha: Transparenz hat eine positive Konnotation. Darin liegt das Dogma begründet, dass mehr Transparenz automatisch gut sei – doch, ebenso wie Digitalisierung, ist Transparenz nie ein Selbstzweck. Wir nehmen irgendwie einen linearen Zusammenhang zwischen Transparenz und Sichtbarkeit an, gehen also davon aus, dass ein Mehr an Transparenz in jedem Fall dazu führt, dass bestimmte Informationen für die Bürger:innen sichtbarer werden. In der Wissenschaft gibt es das sogenannte „Transparenz-Paradox“ und das erklärt, dass mehr Transparenz nur dann zu mehr Sichtbarkeit führt, wenn bisher noch keine Informationen offenliegen.
Es gibt aber einen Punkt, ab dem zusätzliche Transparenz dafür sorgt, dass Informationen unsichtbarer werden. Das kennen wir etwa alle von Online-Datenschutzrichtlinien: Die eigentlich relevante Information ist für uns durch die Masse an Informationen unsichtbar. Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Es wäre in so einer Situation hilfreicher die Informationen zu illustrieren, sie zusammenzufassen oder sie thematisch zu gliedern, statt sie „nur“ transparent zu machen. Denn nicht selten fehlt den Nutzer:innen schlicht die Kompetenz, solche (Roh-)Daten zu interpretieren.
Überhöhte Erwartungen
netzpolitik.org: Ihr beschreibt, dass aufkommende Technologien teilweise über ihre eigentlichen Möglichkeiten hinaus überschätzt werden. Warum ist das so und zu welchen Problemen kann das führen?
Sascha: Wir beschäftigen uns in dem Buch mit dem Konzept des spekulativen Raums. Ich mag das Konzept deswegen so gerne, weil wir Technologie immer als Sprungbrett in eine potenzielle Zukunft sehen. Wir haben alle unterschiedliche Wünsche, Bedürfnisse und Herausforderungen und „unterstellen“ einer neuen Technologie, dass wir sie für unsere eigenen Zwecke einsetzen können. Das heißt, wir werfen die Technologie auf unsere Probleme und erwarten, dass sie dafür die Lösung ist. Der spekulative Raum macht deutlich, dass die Menschen zwar über die gleiche Technologie sprechen, aber über ganz verschiedene Zwecke der Technologie. Dadurch entsteht aber eine überhöhte Erwartung an eine Technologie.
netzpolitik.org: Inwiefern eröffnet die Blockchain-Technologie einen solchen spekulativen Raum?
Sascha: Bei der Blockchain-Technologie fragen wir uns häufig nicht, was die Technologie schon heute macht, sondern gehen davon aus, dass wir sie in Zukunft für irgendwas Bestimmtes einsetzen werden. Zum Beispiel wird die Blockchain in der Wissenschaft genutzt, um bestimmte schon bestehende Probleme in der Wissenschaft zu lösen. Das Spannende ist, dass die Technologie oftmals gar nicht fundamental was an den Problemen ändert. Oft gibt es auch andere Lösungen abseits dieser Technologie. Die Probleme der Wissenschaft sind oft keine technischen, sondern primär soziale, die in der Historie des Systems gewachsen sind.
Johanna: Wir haben sehr viele digitale Projekte in Deutschland, die scheitern. Vielleicht sind auch deswegen die spekulativen Räume so gesucht, weil man sich dann in solche Visionen und Ideale flüchtet. Oft zeigt sich das Phänomen, dass sich Menschen emotional an Technologien binden. Die aufkommenden Technologien haben den Reiz des Neuen und des Unbekannten. Sie sind wie ein Heilsversprechen. Man rennt so einer Technologie hinterher, die nicht unbedingt das ideale Werkzeug ist, um ein bestimmtes Problem zu lösen.
Neugierig und skeptisch bleiben
netzpolitik.org: Wie können wir vorgehen, damit die digitale Revolution doch noch glückt?
Johanna: Ich denke, wir brauchen in erster Linie einen Optimismus in der Gesellschaft. Ich beobachte, dass manche Leute schon gar keine Lust mehr haben, sich mit einem solchen digitalen Prozess auseinanderzusetzen, da es eben oft nur zu Pseudoveränderungen gekommen ist, die wenig für die einzelnen Bürger:innen verändern. Das macht müde und führt zu Resignation. Das blockiert die digitale Revolution da, wo sie möglich wäre.
Sascha: In dem Buch nutzen wir das Konzept „Skeptische Neugier“, um zu beschreiben, wie die digitale Revolution funktionieren kann. Das heißt, wir müssen neugierig sein, uns mit aufkommenden Technologien zu beschäftigen. Gleichzeitig müssen wir eine gesunde Skepsis behalten. Das hilft uns einzuordnen, was tatsächlich machbar ist, denn Neugier allein macht blind und Skepsis allein macht unbeweglich. Außerdem brauchen wir einen gewissen Pragmatismus. Man muss nicht für alles ein gewaltiges neues System bauen, manche Dinge sind auch einfacher lösbar.
netzpolitik.org: Vielen Dank für das Gespräch. Wir sind für die digitale Transformation bereit.
Hallo!
„Zum Beispiel wird die Blockchain in der Wissenschaft genutzt, um bestimmte schon bestehende Probleme in der Wissenschaft zu lösen.“
Da hätte ich mir etwas mehr spezifische Information gewünscht – insb. fehlt mir ein we in die Kreativität, wobei genau die Wissenschaft Blockchain sinnvoll einsetzen könnte, deshalb würde es mich doch sehr interessieren um was für spezifische Probleme es sich da handelt – zumal die Wissenschaft ja auch dmdas erste und ei Zuge Beispiel war.
Herzliche
Achim
„digitale Revolution“ – ich bin gar nicht so sicher, ob ich eine Revolution haben möchte. Im Endeffekt geht es darum Technologie die teilweise seit Jahrzehnten existiert, zu benutzen.
Und den offensichtlichen Unwillen in Deutschland, Investitionen zu tätigen, bevor das die andere Seite tut.
Es benoetigt eine Revolution, eine grundlegende Aenderung der Verhaeltnisse, um in Deutschland ueberhaupt in der Lage zu sein, erfolgversprechend qualifiziert ueber diese Nutzung nachzudenken und zu diskutieren.
Die Idee ist domänenspezifisch eingenordet natürlich Quatsch.
Die Revolution muss natürlich nicht im Digitalen stattfinden, sondern im Standardkalkül der Herrschenden, z.B. auf Basis grundlegender Erkenntnis, die bisher „erfolgreich“ (alle sterben) verhindert gewusst zu werden wurde.
Das nicht zu verstehen, oder besser: nicht verstehen zu wollen, ist die Brot-und-Butter-Fick-Alle-Klitsche dieser Zeit. „Zur Hölle damit“ wäre vermutlich sinnvoller, sogar lokal-doofdeutsch betrachtet, selbst wenn ihr 50% daneben liegt. Denn wir gehen in den Abgrund mit Pseudoadeligen on the fucking Topping of Extinction.
Die Menge der Wähler wählt auf Basis von Quatsch. Mal sehen wie das weitergeht.
Wir brauchen keine Digitale Transformation. Was wir; schon seit langem; brauchen ist eine Soziale Transformation der Gesellschaft und das vor allem an den Stellen die so laut Knacken das weder Skeptische Neugier noch Pragmatismus helfen das zu übersehen. Denn die Digitale Welt war schon immer ein Abbild des Realen. Aber die Politik faßt keine Heißen Eisen an und so macht die Wirtschaft immer weiter in „NewTech“ – klebt ein Etikett auf Alten Wein in neuen Schläuchen und nennt es Innovation. Eigentlich meine ich wohl „Evolution“ statt Transformation. Aber sind wir denn dazu bereit, in einer Welt voller Katastrophen die sich beginnt auf zu lösen?
Es gibt keine Trennung von „digitaler“ und „normaler“ Welt. Alles, was wir Menschen machen oder erfahren können, ist real.
Das „Digitale“ ist ein grundlegendes Werkzeug wie Sprache oder Schrift. Es ist so fatal wie illusorisch, darauf „verzichten“ zu wollen. Aber wie jedes Werkzeug löst es alleine keine sozialen oder gesellschaftlichen Probleme, absolut d’accord.
Ob wir dazu bereit sind ist eine Frage, die sich nicht stellt: die Welt ist dynamisch, Änderungen passieren. Die Erzählung, sich nicht ändern zu müssen, dient nur den Hochprivilegierten, denen die Erkenntnis von Änderungspotenzial natürlich Angst macht: Angst vor all den anderen. Großer Teile der Medienbranche stehen halt fest auf deren Seite, siehe auch Klima, Bildung, Wirtschaft…
Ja, neugierig und skeptisch bleiben.
Neugierig: darauf, wie andere die Digitalisierung hinkriegen. Dänemark? Estland? Aber nein, da schlägt das NIH-Syndron zu (Not Invented Here).
Skeptisch: gegen den Einsatz von Closed-Source Produkten aus USA. Niemand weiß, was wirklich darinnen steckt, welche Daten der Anbieter sammelt und was er damit macht. Außerdem ist es mit vertretbarem Aufwand nahezu unmöglich, SW von beispielsweise Abobe, Microsoft oder Oracle so abzusichern, dass sie sowohl den üblichen Massenangriffen per SPAM, also auch potentiell gezielten Angriffen standhält. Die häufigen Erfolge von Ransomware in Behörden sprechen eine deutliche Sprache.
Die erste Voraussetzung für eine gelingende Digitalisierung wäre also:
PUBLIC MONEY, PUBLIC CODE!
https://fsfe.org/activities/publiccode/publiccode.de.html
Nur mit FOSS sind Bedenken und tatsächliche Gefahren bezüglich Datenschutz, Privatsphäre und Sicherheit auszuräumen.
Der zweite /Show Stopper/ dürfte ein noch stärkerer Gegner sein: unsere Kleinstaaterei, schönfärbend Föderalismus genannt. Sehr viele von Digitalisierung betroffene Strukturen leisten wir uns 17 (i.W: siebzehn) mal! Sechzehn Länder-Datenschutzbeauftragte und einen im Bund. :-( Dasselbe für Finanzverwaltung, Polizei, Verfassungsschutz, Bildung … Dann kommen noch autonome Kommunen hinzu, die jede ihr eigen Süppchen kochen. Solange es „der Politik“ nicht gelingt, all‘ die kleinen und großen Provinzfürsten an die Kandare zu nehmen, wird das nix mit der Digitalisierung.