Nun ist eingetreten, was sich bereits seit Monaten abzeichnete: In den Vereinigten Staaten ist das bundesweite Recht auf Abtreibung gekippt. Der Supreme Court hat gestern die jahrzehntealten Grundsatzurteile „Roe v. Wade“ und „Planned Parenthood v. Casey“ aufgehoben. Sie garantierten seit einem halben Jahrhundert den verfassungsrechtlichen Schutz der Abtreibungsrechte bis zur 24. Schwangerschaftswoche.
Die Konsequenz: Jetzt kann jeder US-Bundesstaat eigene Abtreibungsgesetze geltend machen. In mindestens neun Bundesstaaten ist Abtreibung damit ab sofort verboten, darunter Wisconsin, Utah und Oklahoma. Weitere Verbote werden in den kommenden Tagen erwartet. Insgesamt könnte das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch in der Hälfte der US-Bundesstaaten bald massiv eingeschränkt oder ganz abgeschafft sein.
Die New York Times schreibt, betroffen sei das Selbstbestimmungsrecht von über 26 Millionen Frauen im reproduktionsfähigen Alter. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Aufhebung der wegweisenden Urteile zu einer extrem prekären Versorgungssituation von ungewollt Schwangeren führt. Tausende Menschen protestieren für den Schutz der reproduktiven Rechte.
„Kein Recht auf Abtreibung garantiert“
„Roe war von Anfang an ungeheuerlich falsch“, schreibt der Richter Samuel Alito in der 66-seitigen Erklärung des Supreme Courts. „Wir sind der Meinung, dass Roe und Casey verworfen werden muss.“
Der Supreme Court trifft diese Entscheidung im Rahmen des Falls „Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization“. Der Fall geht auf ein Gesetz zurück, das der Bundesstaat Mississippi im März 2018 verabschiedet hat. Es verbietet Abtreibungen nach den ersten 15 Schwangerschaftswochen. Die Klinik Jackson Women’s Health Organization (JWHO), die in Mississippi Abtreibungen anbietet, hat vor Gericht gegen das Abtreibungsverbot geklagt. Der Bundesstaat hat daraufhin den Supreme Court gebeten die Präzedenzfälle Roe und Casey und damit das bundesweite verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung aufzuheben.
In einer gestrigen Mehrheitsentscheidung haben die zuständigen Richter:innen mit fünf Stimmen zu vier Gegenstimmen entschieden, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten kein Recht auf Abtreibung garantiere. „Die Verfassung verbietet es den Bürgern eines jeden Staates nicht, Abtreibung zu regeln oder zu verbieten. Roe und Casey haben sich diese Befugnis angemaßt“, so Alito.
So erschreckend die Entscheidung des Supreme Courts ist, sie kommt wenig überraschend. Ein geleakter Entwurf hat bereits vergangenen Monat offenbart, dass der Supreme Court plant das Urteil zu kippen. Pro-Choice-Aktivist:innen machen seit Monaten auf die drastischen Konsequenzen aufmerksam, die ein Post-Roe-Welt mit sich bringt.
Die Post-Roe-Realität
Mehrere Bundesstaaten haben bereits vor der Entscheidung des Supreme Court Gesetze erlassen, die das Abtreibungsrecht verschärfen oder fast ganz abschaffen. Bisher konnten diese „Trigger-Gesetze“ in den jeweiligen Staaten nicht greifen. Jetzt treten sie automatisch in Kraft.
Andere Staaten, etwa Alabama und Mississippi, haben Abtreibungsverbote und Beschränkungen, die bereits vor dem Präzedendzfall Roe gegolten hatten, zwischenzeitlich verfassungswidrig waren und nach Roe wieder greifen können. In neun Staaten greifen bereits seit gestern Abtreibungsverbote, in einigen sind Abtreibungen sogar in Fällen von Vergewaltigungen und Inzest verboten, etwa in Kentucky, Arkansas, South Dakota und Oklahoma. Weitere Verbote sollen folgen.
Das Gutmacher Institute hat bereits vergangenes Jahr ein Schaubild der 26 US-Bundesstaaten bereit gestellt, in denen Abtreibungen mit dem Fall von Roe verboten werden könnten. Auch die New York Times bietet eine Übersicht, die ständig aktualisiert wird.
Ungewollt schwangere Personen müssen nun für Abbrüche in einen anderen US-Bundesstaat reisen. Strafbar machen sie sich trotzdem. Schwangere aus marginalisierten Gruppen sind besonders betroffen, da ihnen systematisch weniger Ressourcen wie Zeit oder Geld zur Verfügung stehen, um für eine Abtreibung meilenweit zu reisen.
„Wir werden auf jeden Fall Menschen sehen, die gegen ihren Willen gezwungen werden, schwanger zu bleiben“, sagt Neesha Davé gegenüber dem Texas Tribune. Sie ist stellvertretende Direktorin des Lilith Fund, einer Organisation für reproduktive Rechte in Texas. Texas hat bereits im September 2021 ein Gesetz verabschiedet, das Abbrüche nach der sechsten Woche verbietet. Mit der Entscheidung des Supreme Court tickt auch hier die Uhr: In 30 Tagen greift nun automatisch ein fast vollständiges Abtreibungsverbot – selbst in Fällen von Inzest und Vergewaltigung.
Abtreibungen in einer Zeit der digitalen Überwachung
Pro-Choice-Aktivist:innen haben nun noch eine weitere Sorge: Datenspuren im Netz könnten all jene in Gefahr bringen, die potenziell eine Abtreibung vornehmen möchten, sich darüber informieren wollen oder einfach nur schwanger sind. In Staaten, die Abtreibung kriminalisieren, könnten diese Spuren von Strafverfolgungsbehörden genutzt werden und möglicherweise als Beweismittel dienen.
Auch Datenschutzexpert:innen wie Eva Galperin warnen US-Bürger:innen davor, unbesorgt mit Daten umzugehen, die auf eine Schwangerschaft hinweisen können. Galperin ist Direktorin für Cybersicherheit bei der gemeinnützigen Organisation Electronic Frontier Foundation (EFF). Sie schreibt auf Twitter:
Der Unterschied zwischen heute und dem letzten Mal, als Abtreibung in den Vereinigten Staaten illegal war, besteht darin, dass wir in einer Zeit beispielloser digitaler Überwachung leben.
Galperin verweist auch auf die Verantwortung der Tech-Branche: Sie sei nun gefragt, um digitale Rechte in einer Ära nach Roe zu schützen. Zum Beispiel sollen Tech-Unternehmen den Nutzer:innen erlauben mit Pseudonymen auf Dienstleistungen zugreifen zu können.
Apps, die die Fruchtbarkeit oder Periode tracken, können ebenfalls zur Gefahr werden. Der Datenhändler Narrative hat bereits Daten von Menstruation-Apps zum Kauf angeboten, wie Vice berichtet hat. Potenziell könnten alle Apps, die in irgendeiner Weise mit Gesundheitsdaten arbeiten, sensible Informationen über eine vermutete Schwangerschaft offenbaren. Albert Fox Cahn vom Surveillance Technology Oversight Project (STOP) sagt gegenüber Vice: „Wenn es da draußen eine App gibt, die Gesundheitsdaten sammelt, wird sie bald ein Ziel sein.“
Privates Surfen und verschlüsselte Kommunikation
Auch Suchverläufe, in denen Abtreibungsmedikamente erwähnt werden, können als Beweis für einen Schwangerschaftsabbruch dienen. Bisher war es in den Vereinigten Staaten erlaubt Abtreibungspillen per Post zu verschicken. Es ist unklar, wie der Online-Versand nun weitergehen kann und wie sich die Rechtslage auswirken wird.
Der Digital Defense Fund hat deswegen eine Anleitung veröffentlicht, wie Betroffene vermeiden können, dass die Telefongesellschaft den eigenen Browserverlauf einsehen kann. Die Organisation hat sich nach der Wahl von Ex-Präsident Trump gegründet, um der Bewegung für Abtreibungsrechte Sicherheits- und Technologieressourcen bereitzustellen.
Die Aktivist:innen empfehlen ungewollt Schwangeren nun auf Messaging-Apps mit Ende-zu-Ende Verschlüsselung umzusteigen. Außerdem schlagen sie zwei kostenlose Angebote von Virtuellen privaten Netzwerken (VPN) vor. Nutzer:innen können mit diesen privat surfen, ohne dass die Netzwerke protokollieren, was man im Netz tut.
Kleiner Etappensieg in Deutschland
Während der Kampf für reproduktive Selbstbestimmung in den Vereinigten Staaten eine enorme Niederlage verzeichnet, konnten Abtreibungsbefürworter:innen in Deutschland zumindest einen kleinen Teilerfolg feiern. Am selben Tag an dem das Roe-Urteil kippte, hat die Bundesregierung das sogenannte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche unter Paragraf 219a endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Die Bundesregierung schreibt in einem Gesetzentwurf zur Änderung: „Ärztinnen und Ärzte müssen Frauen unterstützen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen.“
Viele VPNs sind da durchaus auch riskant da dahinter oft Firmen stehen welche Daten erfassen oder gar sogar verkaufen. Gerade bei gratis Angeboten. Auch ist davon auszugehen das viele VPNs, gerade die mit Geschäftssitz in China oder Russland von Geheimdiensten betrieben werden.
Da wäre vermutlich die Verwendung des TOR-Borwsers die sichere Alternative um die eigene IP Adresse zu verdecken. Zudem sollte man die Cloud Dienste von Google, Microsoft und Facebook meiden, den die loggen durchaus auch Browser Verläufe (Angeblich um diese zu Synchronisieren).
Naja, nach Vergewaltigung z.B. durch Vater oder Verwandte… wird ein Gesetz, das das nicht regelt, jetzt wirklich Bestand haben? Immerhin muss durch diesen fundamentalen Wegfall ein staatliches Gesetz für sich bewertet werden, z.B. wenn es das nicht geregelt hat, was durch den Wegfall gegebenenfalls regelungsbedürftig wird…
Amüsanter Rechtschreibfehler bei einem tag, dem Thema jedoch nicht angemessen ;)
https://netzpolitik.org/tag/abreibungspillen/
Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis das auch in D wieder kommt. Spätestens, wenn nach der nächsten Wahl Merz die Macht übernimmt.
„mit fünf Stimmen zu vier Gegenstimmen“
Waren es nicht 6:3?
Das ist vielleicht ein wenig verwirrend und wurde in den deutschen Nachrichten auch nicht durchgehend korrekt berichtet: Der Supreme Court hat in dem besagten Urteil in einer 6-zu-3-Entscheidung das betroffene Gesetz von Mississippi aufrechterhalten (Gestational Age Act) und zugleich in einer 5-zu-4-Entscheidung das Roe-Urteil aufgehoben (und auch das Casey-Urteil).
Roberts brauchte halt ein Feigenblaettchen.
Mir nicht klar, warum Roberts ein Feigenblättchen gebraucht hätte. Seine inhaltlichen Argumente kann man ja nachlesen und nachvollziehen.
Roberts sieht sich gerne als „nicht extrem“, aber eben nur, wenn es der „konservativen“ Sache nicht schadet.
2 Nachfragen:
„Ungewollt schwangere Personen müssen nun für Abbrüche in einen anderen US-Bundesstaat reisen. Strafbar machen sie sich trotzdem.“
> Ich habe gestern von einer Amerikanerin erfahren, dass genau das rechtlich nicht möglich sei, also dass ein Abbruch, der in einem anderen Staat als dem Wohnsitzstaat (wo es verboten ist) durchgeführt wurde, nach der Rückkehr bestraft werden könne. – Vielleicht könnte die Redaktion diese Aussage nochmal überprüfen?
“ Datenspuren im Netz könnten all jene in Gefahr bringen, die potenziell eine Abtreibung vornehmen möchten, sich darüber informieren wollen oder einfach nur schwanger sind. In Staaten, die Abtreibung kriminalisieren, könnten diese Spuren von Strafverfolgungsbehörden genutzt werden und möglicherweise als Beweismittel dienen. “
> Da stellt sich mir die Frage was in div. Bundesstaaten neben dem konkreten Abbruch ebenfalls noch konkret verboten sein könnte. Soweit ich in verschiedenen US-Medien lesen konnte, ist doch stets nur der Abbruch selbst verboten? Oder gilt dies auch für den Versuch bzw. schon für die Informationsbeschaffung? Ein Verbot der Informationsbereitstellung (wie bis gestern in Dtl) würde in den USA mit freedom of speech kollidieren.
(Btw, ich will natürlich nicht die Notwendigkeit des Selbstschutzes in Frage stellen
mir ist klar, dass div. „ProLife“ Gruppen auch gefährlich sind)
Das hat mir „pro Life“ NULL zu tun.
Dieser Clan der „alten weißen Männer“ sind „pro power“, also „pro Macht“, aber nicht „pro life“
Denen ist die Mutter und auch das Kind scheißegal.
Die kümmern sich nicht um die Mutter während der Schwangerschaft, auch ist ihnen das Kind nach der Geburt egal.
Würde man sich um die Mutter während der Schwangerschaft kümmern, und dann nach der Geburt um Mutter um Kind bis das Kind einen Beruf erlernt hat,damit sich das „Kind“ dann selbst versorgen kann, DAS wäre „pro life“.
So ist das nur ein Erhalt der Macht, Frauenunterdrückung wie im tiefsten Mittelalter und der Dystopie von Atwood nicht weit entfernt.
Was diese Rechtsradikalen,Fanatiker und Trump-Boys machen wollen – Frauen unterdrücken und versklaven und ihre Privilegien aus der Zeit des Kolonialismus aufleben lassen.
Das ist ein „under his eye“, aber nichts mit „pro life“.
ALLE Gruppen von diesen Weißen, die sich „pro life“ nennen sind gefährlich.
ALLE.
In Mississippi (oder war es Oklahoma?) soll auch jegliche(!) Beihilfe strafbar sein. Wenn also (oft genanntes Beispiel) dein Uber-Fahrer mitkriegt, dass du zur Abtreibungsklinik gebracht werden willst, und der zieht das (jetzt wissentlich) durch, dann wäre das strafbar. Es geht also tatsächlich in einigen Bundesstaaten um soziale Verbannung.
Ist die Frage, ob „strafbar“ unbedingt „wird verurteilt“ heissen muss.
Ein Eintrag als Straftaeter in einer entsprechenden Kartei hat schon uU massive Folgen.
„Oder gilt dies auch für den Versuch bzw. schon für die Informationsbeschaffung“
Als Verdacht bei der Ein-/Umreise?
Ich glaube es gab schon so einen Fall. Gerne korrigieren, wenn nicht.
Was sollen denn „reproduktive Rechte“ sein? Abgesehen von der grammatischen Fehlkonstruktion – klingt schwer nach dem berüchtigten vierstöckigen Hausbesitzer – führt die Formulierung in die Irre: Selbst wenn die Autorin daraus korrekt ein Recht auf Reproduktion machte, also ein Recht auf Fortpflanzung, meint sie doch wohl das Gegenteil: ein Recht auf Abtreibung.
Warum nicht gleich so schreiben?
Das ist schlicht ein definierter Begriff: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Reproduktive_Gesundheit_und_Reproduktive_Rechte
Aber warum informieren wenn man einfach unwissend mosern kann? Zumal mit Zustimmung der Redaktion…