Am Schreibtisch sitzt ein Mädchen mit großen Kopfhörern, das Kinn in die Hand gestützt, es ist vertieft in Gedanken, in Musik oder das Studium. Der Kanal „Lofi Girl“ auf YouTube hat 10,8 Millionen Abonnent:innen. Das Erfolgsrezept sind unaufgeregte Musik und Live-Streams – sie locken eine große Fangemeinde an.
Am 10. Juli hat YouTube einen Livestream von Lofi Girl gesperrt, weil ein anderer Kanal eine Urheberrechtsbeschwerde eingereicht hatte. Dabei handelt es sich um das malaysische Label FMC Music. Basis für deren Beschwerde ist ein US-Urheberrechtsgesetz, der Digital Millennium Copyright Act (DMCA). Bei YouTube kann ein Verstoß gegen den DMCA einfach per Formular gemeldet werden. In der Nachricht von YouTube an Lofi Girl heißt es, aufgrund einer Urheberrechtsverletzung könne das Video nicht mehr wiedergegeben werden. Würden sich solche Verletzungen häufen, müsse die Plattform den Kanal ganz sperren. Um das zu vermeiden, solle Lofi Girl nur Inhalte hochladen, die nicht gecopyrighted sind. Doch das hat der Kanal schon immer getan. Die Musik gibt Lofi Girl über das Label Lofi Records heraus und sichert sich damit die Rechte an der eigenen Musik.
Die Videos von Lofi Girl wurden zu Unrecht gesperrt, das gestand auch YouTube später ein. Es liegt die Vermutung nahe, dass dem Kanal mit der Meldung geschadet werden sollte. Dass gezielt angebliche Verstöße gemeldet werden, um einen bestimmten Kanal zu treffen, kommt nicht selten vor. Plattformen wie YouTube haben große Schwierigkeiten, zu bestimmen, wann Meldungen über angebliche Urheberrechtsverletzungen eigentlich unbegründet sind. Besonders problematisch ist eine solche Sperrung für Kanäle, die von den Werbeeinnahmen abhängen. Das betrifft Kreative auf Plattformen wie YouTube, aber auch bei TikTok, Roblox oder Instagram. Im Netz kursieren Anleitungen dazu, wie man es schafft, Accounts Anderer sperren zu lassen.
Wie leicht sich das DMCA-System missbrauchen lässt, zeigt auch ein anderer Fall. Im März verschickte YouTube Nachrichten zu angeblichen Urheberrechtsverletzungen an mehrere Streamer, die „Destiny“ spielten, ein beliebtes Online-Game. Auch einige Videos von Bungie, dem Entwickler des Spiels, wurden gesperrt. Verantwortlich war ein YouTuber namens „Lord Nazo“. Er hatte ein E-Mail-Konto erstellt, über das er sich als Bungies Urheberrechtsverwaltungsfirma ausgab. Darüber reichte er 96 Beschwerden gegen die größeren Destiny-YouTuber ein. Bungie verklagte ihn schließlich auf 7,6 Millionen Dollar. Dabei sei es darum gegangen, ein Exempel zu statuieren.
Twitter-Hashtag erzeugte Druck auf YouTube
Auf Twitter zeigte sich Lofi Girl schockiert über die Sperrung des eigenen Livestreams. Bereits Anfang 2020 musste der Kanal, damals unter dem Namen ChilledCow, schon einmal hinnehmen, dass Fans nicht auf einen Livestream zugreifen konnten, weil der laut YouTubes gegen Nutzungsbedingungen verstieß. Auch diese Sperrung war aus Sicht von Lofi Girl ungerechtfertigt. Es gebe leider noch immer „keine Art von Schutz oder manueller Überprüfung dieser falschen Behauptungen.“ Letzten Endes hätte der Kanal „keinen Einfluss darauf, und das Traurige daran ist, dass es keine Möglichkeit gab, vorher Einspruch zu erheben bzw. dies zu verhindern.“ Über den Hashtag #BringBackLofiGirl auf Twitter erhielt die Angelegenheit Aufmerksamkeit.
Auf den öffentlichen Druck hin hat YouTube schließlich reagiert. Das Konto des Klägers habe man gekündigt. Die Copyright-Strikes seien gelöscht und die Videos wiederhergestellt worden, erklärte die Videoplattform. Dabei könne es manchmal 24 bis 48 Stunden dauern, bis die Videos wieder aufgerufen werden können. „Es tut uns sehr leid, dass das passiert ist, und wir danken dir für deine Geduld.“ Zwar wurden die Vorwürfe gegen Lofi Girl inzwischen zurückgezogen. Aber wenn man auf die neuesten Livestreams klickt, erscheint folgender Text: „Dieses Video wird gerade verarbeitet. Versuche es später noch einmal.“
Im Text oben geht es um einen Kanal mit über 10 Millionen Fans, da musste Youtube handeln. Kleinere Kanäle werden aber nicht darauf hoffen dürfen, dass Youtube irgendwelche Entscheidungen revidiert.
Und bei uns ist das EU-Urheberrecht noch gar nicht umgesetzt. Manche Medienkonzerne (*hust* Springer *hust*) lobbyieren ja weiter für eine Hegemonie der „klassischen“ (Print)medien im Internet. Schutz vor falschen Sperrung will man da gar nicht im Gesetz stehen haben. Overblocking ist nämlich auch ein Geschäftsmodell.
Das Problematischste wird hier leider kaum erwähnt. Kleinere Kanäle, die nicht so populär sind, sind dem schutzlos ausgeliefert. Hier helfen keine Twitterhashtags um Aufmerksamkeit zu generieren. Es gibt unzählige Beispiele von „kleinen“ Youtubekanälen mit mehreren 10 000 Abonnenten, von denen ein oder mehrere Videos unrechtmäßig von anderen als Eigentum ausgegeben wird. Auf Beschwerden reagiert Youtube in diesen Fällen größtenteils nicht.
Das geht teils soweit, dass es Betrüger gibt, die Videos sperren lassen und dann vom Kanalinhaber 500$ fordern, wenn sie ihren „Claim“ der Urheberrechtsverletzung zurückziehen sollen. Selbst in diesen Fällen erkennt Youtube oft keine Fehler und antwortet automatisiert, dass alles seine Richtigkeit hat.
Wer ein konkretes Beispiel will: Der Youtubekanal „Ilia TS“ wurde vor 2 Jahren Opfer eines Betrügers der 500$ verlangte. Mit sog. Communityposts hatte er damals das Geschehen dokumentiert.
Das Spielfeld wird per Gesetz günstig für die Rechterecycler ausgelegt. Die Wurzel allen Übels ist das DMCA, für diesen Fall ist § 512 interessant. Das Notice-und-Takedown-Regime bevorzugt die Sender der Takedown-Notice. Die Plattform muss effektiv der Notice Folge leisten, da es bei Moderation in Masse viel wahrscheinlicher ist, Fehler zu machen. Wenn ein Fehler zu ungunsten des Senders gemacht wird, kann die Plattform ihren „safe harbor“-Schutz verlieren und wird haftbar für Schadenersatzforderungen.
Aus dem Bungie-Prozess: https://www.techdirt.com/2022/03/30/bungie-sues-does-over-destiny-dmca-takedowns-slams-youtubes-dmca-process/
> Doe Defendants were able to do this because of a hole in YouTube’s DMCA-process security, which allows any person to claim to be representing any rights holder in the world for purposes of issuing a DMCA takedown.
Bungie beschwert sich hier über Youtubes „DMCA-process security“, jedoch kann man den schwarzen Peter durchaus dem DMCA selbst zuschieben, wenn man nicht Rechterecycler wäre. Bungie ist Profiteur von digitalem Besitz. Sie werden sicher nicht das DMCA angreifen, ganz im Gegenteil, wollen sie ja ein „Exempel statuieren“. Ich halte es für falsch, sich auf Bungies Seite zu stellen, wenn es einem um den freie(re)n Zugang zu Kultur geht.
Im Falle von Lofi Girls falscher Notice könnte DMCA „§ 512(f) Misrepresentations“ zutreffen. Der Sender der falschen Notice würde haftbar gemacht und sanktioniert werden können. In der Praxis sind die US-Gerichte jedoch sehr zurückhaltend, was die Durchsetzung von § 512(f) angeht.
Das Kernproblem ist, dass es keinerlei Sanktionen gibt, mit den falsche Vorwürfe geahndet werden.
Das ist ein gravierender Fehler in der Gesetzgebung. Aber auch bei Google/Youtube, die es durchaus in der Hand hätten, in ihren AGB sehr schmerzhafte Vertragsstrafen zu verhängen bei missbräuchlichen Vorwurfen.
Das große Problem sind ja eigentlich auch nicht die falschen Claims. Das Problem ist der fehlende Support auf der Seite von Youtube, speziell bei kleineren Kanälen.
Und genau dieses Problem war zu erwarten, wenn man privaten Unternehmen eigentlich staatliche Aufgaben zuschiebt. Natürlich will Youtube das System möglichst günstig umsetzen, was zu mehr Automatisierung und wenigen menschlichen Moderatoren führt. Automatisierung auf KI-Basis oder auch ein Claim System, bei dem keine Beweise vorgelegt werden müssen, wird niemals perfekt sein und benötigt immer eine Widerspruchsmöglichkeit mit einer menschlichen Überprüfung.
Ein demokratischer Staat hat zudem zumindest theoretisch ein Interesse faire Bedingungen für alle Bürger umzusetzen. Einem gewinnorientiertem Unternehmen hat nur die Bestrebung den Gewinn und Umsatz zu maximieren.
volle Zustimmung! Über jegliche Rechtsverletzungen (nicht nur Urheberrecht, sondern auch Falschmeldungen, Beleidigung, Hass, Bedrohung etc.) haben ordentliche Gerichte zu entscheiden! Derlei Entscheidungen auf private, gewinnorientierte Unternehmen abzuschieben, ist ein tragischer Irrweg. Zumal wenn es sich um US-Unternehmen handelt, die keiner Moral verpflichtet sind – nur dem Geld.
Ich frage mich schon länger, ob bei YoutTube überhaupt menschliche Wesen Beschwerden prüfen.
Nachdem ich einen Kommentar, in dem gegen Migranten gehetzt wurde, gemeldet hatte, erhielt ich die Antwort, dass meine Beschwerde unter der Referenznummer xyz (sie war ziemlich lang) geprüft werde. Einige Tage später wollte ich von YT wissen, zu welchem Ergebnis man gekommen sei und gab dafür die Referenznummer an. YT wollte dann von mir weitere Informationen zum kommentierten Video haben, woraufhin ich darauf verwies, dass YT doch anhand der Referenznummer den Kommentar identifizieren können sollte. Bis ich den Ignoranten begreiflich machen konnte, dass es nicht um das Video, sondern um einen Kommentar unter einem Video geht, gingen einige Mails hin und her.
Um es kurz zu machen: YT konnte mit der eigenen Referenznummer nichts anfangen und wusste daher auch nicht um welchen Kommentar es geht.
Das zeigt mir, dass YT Augenwischerei betreibt, indem man so tut, als würde da irgend etwas geprüft werden.
Es ist naiv zu glauben, dass schon nach der ersten Meldung von einem Menschen etwas geprüft werden würde – die Flut an Meldungen macht das komplett unmöglich (und selbst wenn: auch Menschen machen Fehler). Auch wenn ich es immer noch für ein schönes Märchen halte wenn sich manche Leute wirklich vorstellen wie bei Youtube die Top-Anwälte im Meldezentrum sitzen und alles was gemeldet wird mit gesetzlichem Nachschlagwerk „überprüfen“.
Es läuft wohl eher so: nach x Meldungen automatische Sperre. Vorher nur dann, wenn auch eine „KI“ im gemeldeten Kommentar problemtisches zu erkennen glaubt. Menschlich geprüft wird bekanntermaßen nur sehr sehr wenig, und auch da oft nur mit Hindernissen, z.B. mit automatisch übersetztem Text in Billiglohnländern (Indien, Philipinen).
Ergebnisse von Prüfungen werden eigentlich von keinem Unternehmen (Google, Faceook, Twitter, etc) herausgegeben. Mich wundert hier also, dass dazu wirklich einige Emails ausgetauscht worden sein sollen.
Wenn nicht nach dem NetzDG gemeldet wurde kann man es eh vergessen.
Ich bin gestern über einen anderen Fall gestoßen und wollte den hier nur kurz teilen. Es geht um eine Vorlesung, die nach meinem Verständnis nicht mal in der Nähe des Graubereichs ist:
https://www.youtube.com/watch?v=IlU-zDU6aQ0
In einem der Kommentare schreiben die Kanalbetreiber (Pierce College), dass sie einen falschen Copyright Claim abwenden konnten. Hier hat es also wohl geklappt, aber wer weiß in wie vielen Fällen es anders verläuft…
Das Kernproblem ist, das Leute Youtube als Platform nutzen und damit die Kontrolle abgeben.
Klar, es ist wahnsinnig bequem und die Monetarisierung mittels Werbung ist ziemlich einfach und sicher – Für Google.
Youtube minus Quatsch als Infrastruktur? Wäre doch sinnvoll.
Im Grunde könnte man eine Art Spendensystematik machen, die vor allem der Finanzierung der Plattform dient, d.h. es wird auch transparent gemacht, was Speicherplatz bzgl. angebotener bzw. konfigurierter Formate so kostet, bei gegebenen Views. Vlt. auch ähnlich Patreon und dann könnte man auch Kategorien setzen (User, KI, Nutzer) und entsprechend Werbung nach Kategorien zeigen, wobei Werbekunden dann entscheiden, wie User/KI/Nutzer/Schnitt-Kategorien jew. gewichtet werden. Auf einem Entwicklungsplaneten ist sowas natürlich schwer zu machen, zwischen den ganzen Ölfässern und Flugzeugträgern.
Ein Lob der Homepage… naja. Gäbe Verlagen u.ä., sowie noch Schlimmerem wieder mehr Macht, wo solche der Erfahrung nach sicherlich nicht hingehört.
Eine geeignete Plattform wäre eine Aufgabe für öffentlich-rechtliche Medien.
Aber das wäre ja Zukunft, sowas braucht man in Deutschland nicht.
Da liegt doch nichts näher, als per Gesetz noch mehr zu bearbeitende Fälle draufzukippen…