Ist Ihr Opa 81 Jahre alt? Hat er die Handelsschule abgeschlossen? Leidet er an Multipler Sklerose und benötigt Hilfe beim Toilettengang? Ist er auf ein Beatmungsgerät angewiesen? Dann merken Sie sich seinen Tod für Herbst 2022 im Kalender vor. Denn er hat wahrscheinlich noch 17 Monate zu leben. Wobei eine gewisse Unsicherheit besteht: 25 Prozent der Menschen mit diesen Eigenschaften schaffen es nur fünf Monate. Weitere 25 Prozent leben allerdings auch noch 3,4 Jahre.
Diese Zahlen entstammen einem Online-Rechner eines kanadischen Forschungsteams zur Prognose von Todeszeitpunkten. Das Tool „Elder-Life Calculator“ fragt Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss und Vorerkrankungen der Personen ab, deren ungefähren Todeszeitpunkt man erfahren will. Außerdem zieht der Rechner Informationen über Schwierigkeiten im alltäglichen Leben hinzu: Kann sich die Person noch selbst Essen zubereiten, kann sie das Telefon benutzen, hat sie Probleme bei der Körperhygiene? Auch Symptome wie Kurzatmigkeit, Gewichtsverlust oder Appetitlosigkeit, eine mögliche Chemotherapie, Beatmung oder Dialyse und Krankenhausaufenthalte kann man angeben.
Am Ende der etwa dreiminütigen Befragung erhält man dann ein Ergebnis, das die individuelle Lebenserwartung auf Basis der vorher gegebenen Antworten vorhersagt. Unser fiktiver 81-Jähriger vom Anfang bekommt dieses Ergebnis:
Wem die Anzahl der Monate oder Jahre noch nicht ausreicht, kann sich auf Wunsch sogar noch das Datum anzeigen lassen, an dem der Tod voraussichtlich eintritt, zumindest die Jahreszeit und das Jahr.
Eine ziemlich zynische Planbarkeit des Todes. Sorgen Sie dafür, dass die Trauer um Ihre Liebsten auch gerade in Ihren Terminkalender passt.
Gedacht ist der Test für die Menschen, die über 50 Jahre alt sind und vermutlich innerhalb der nächsten fünf Jahre sterben werden. Die Daten, auf denen die Vorhersage basiert, stammen von kanadischen Krankenversicherungen. Um den Rechner zu entwickeln, wurden Datensätze von über 400.000 Versicherten im Alter von 50 Jahren oder darüber ausgewertet. Das Forschungsteam will mit dem Tool nach eigener Aussage erreichen, dass die Pflege am Lebensende besser geplant werden kann.
Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Tod
Ausfüllen kann den Test eigentlich jeder – nicht nur für sich selbst, sondern auch für die eigenen Angehörigen, Patient:innen oder jede beliebige Person, in deren Leben man genug Einblick hat, um alle Fragen beantworten zu können. Sie wissen, dass die betagte Nachbarin zweimal die Woche zur Dialyse muss? Mal sehen, wann ihr Haus wohl zum Verkauf steht. Die Bekannte ruft immer öfter nachts an, weil sie die Tageszeiten nicht mehr auf die Reihe bekommt? Wie lange muss ich mich damit noch rumschlagen?
Die Prognose soll angeblich helfen, zu entscheiden, wann eine Palliativpflege eingeleitet werden sollte. Palliativpflege bedeutet, dass nur noch Schmerzen und Symptome gelindert werden, unter denen die Betroffenen leiden – nicht aber die Ursache der Krankheit bekämpft wird. Das passiert zum Beispiel, wenn keine Aussicht mehr besteht, den Zustand der Person langfristig zu verbessern, oder die Therapien, die nötig wären, wenig Aussicht auf Erfolg haben, aber dafür unangenehme Nebenwirkungen mit sich bringen.
Sich wissenschaftlich fundiert mit dem Tod auseinanderzusetzen, ist nicht die schlechteste Idee. Zum selbstbestimmten Leben gehört selbstbestimmtes Sterben unmittelbar dazu. Das muss noch nicht einmal die Diskussion um das Thema Sterbehilfe berühren. Allein schon Wahlfreiheit beim Ort des Todes, bei der Frage nach weiteren medizinischen Behandlungen bei unheilbaren Erkrankungen und bei der Entscheidungsfindung, wenn die sterbende Person nicht mehr selbst gefragt werden kann, gibt Betroffenen das Gefühl der Kontrolle.
Keine standardmäßig Pflegeplanung in Deutschland
Die verbleibende Lebenszeit kann für geschulte Pflegekräfte dabei ein Entscheidungskriterium sein, wann eine palliative Pflege eingeleitet werden soll. Der Zeitpunkt, an dem man sich entscheidet, die eigentliche Krankheit nicht mehr zu bekämpfen, muss wohlüberlegt gewählt werden, in Zusammenarbeit mit den Patient:innen und ihren Angehörigen. Stefan Görres, Leiter der Abteilung für Interdisziplinäre Alterns- und Pflegeforschung der Universität Bremen, erklärt gegenüber dem Science Media Center, wie der Prozess der Entscheidungsfindung im besten Fall aussehen sollte:
Ein erfolgreiches ACP [Advanced Care Planning] beginnt mit der Eröffnung eines Gesprächs anhand eines Interviewleitfadens über die Lebensgeschichte der Bewohner. Es schließen sich Fragen zum Alltagsleben und der gewünschten Lebensqualität der verbleibenden Monate der Bewohner an und wechselt dann allmählich zu den Fragen der Pflege am Lebensende. Der Abschluss des Gesprächs widmet sich Inhalten von Patientenverfügung und dem Umfang beziehungsweise den Grenzen der Palliativversorgung.
Eine solch ausführliche Erhebung der Ausgangssituation und der Wünsche der Betroffenen kann Görres zufolge die Pflegeplanung wesentlich erleichtern und die Qualität der Pflege am Lebensende verbessern. In Deutschland werde eine solche Befragung aber nicht standardmäßig durchgeführt: „Wer […] soll die aufwendige Befragung durchführen? Die Kassen, Pflegende? Per se liegen die notwendigen Daten in Deutschland ja nicht vor.“
Nutzen des Modells noch nicht nachgewiesen
Für einen Algorithmus, der den Todeszeitpunkt bestimmt, sieht er gar keinen Bedarf: „Natürlich ist eine Planung […] wichtig und auch als Anspruch der Betroffenen einzufordern. Eine professionelle Pflege erkennt diese Notwendigkeit aber auch ohne einen Algorithmus, und deshalb wäre dies kein Grund für dessen Einsatz an dieser Stelle, wo es darum geht, etwaige Schwachstellen einer unangemessenen Pflege zu entdecken.“
Neben der Notwendigkeit des Tools stellen Fachleute auch die wissenschaftliche Aussagekraft des „Elder-Life Calculators“ in Frage. Stefan Lange, stellvertretender Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, weist beim Science Media Center darauf hin, dass die Ergebnisse einer Studie mit kanadischen Versicherten nicht unbedingt auf andere Länder mit anderen Gesundheits- und Pflegesystemen übertragbar seien. Wenn der kanadische 81-jährige Patient noch 17 Monate hat, muss das nicht auch für den deutschen Opa gelten. Die Merkmale, die der Rechner abfrage, wirken auf ihn zwar vernünftig gewählt. Er könne sich auch vorstellen, dass die Anwendung des Modells nützlich sei. Das sei aber noch nicht ausreichend überprüft worden.
Für den Nachweis eines Nutzens müsste man vergleichen, ob Menschen, bei denen das Modell angewandt wurden, signifikant besser gepflegt wurden als in der üblichen Versorgung. Auch Annette Rogge, Oberärztin Klinische Ethik am Uniklinikum Schleswig-Holstein, hält die Studienlage für zu dünn: „Einen nachgewiesenen Nutzen für den einzelnen Menschen von Vorhersagemodellen zu Mortalitätsrisiken gibt es aktuell nicht.“
Kommerzielle Interessen am Sterbeprozess
Und der Nutzen müsste enorm sein, um die Gefahren eines solchen Tools zu rechtfertigen. Wie soll gewährleistet werden, dass die älteren Herrschaften nicht den Lebensmut verlieren, wenn sie den Zeitpunkt ihres Todes vermeintlich genau kennen? Rogge befürchtet: „Vorhersagemodelle über Mortalitätsrisiken bringen die Gefahr der selbsterfüllenden Prophezeiung mit sich, indem sie zum einen Ängste, Depressionen und Selbstaufgabe beim Patienten/-in auslösen können und von Versorgungsseite zu früh Leistungen vorenthalten werden könnten.“
Das lenkt den Blick auf die kommerziellen Interessen, die Krankenkassen, die Gesundheitspolitik und Anbieter von Palliativleistungen an möglichst genauen Prognosen haben könnten. Alle drei Expert:innen, die das Science Media Center befragt hat, warnen ausdrücklich davor, dass derartige Tools die Versorgung verschlechtern könnten. Stefan Lange spricht von minimalistischer, preiswerter Versorgung, Anette Rogge von kommerziellen Interessen. Stefan Görres warnt vor einem Sterbe-Management: „Dann hätten wir es geschafft, auch diese Phase, die letzte, zu ,vermanagen‘ zur Freude all jener professionellen Dienstleister, die hier ein Geschäft wittern würden. Und natürlich wird Sterben auch aus Sicht der Versicherer ökonomisch kalkulierbarer.“
Ein nationales Gesundheitssystem basiert auf einer Güterabwägung. Therapien, Medikamente und Pflege kosten Geld. Wer eine Leistung in Anspruch nehmen muss, um seine Gesundheit zu erhalten, keine Schmerzen zu leiden oder nicht zu sterben, soll die Rechnung dafür im besten Fall nicht allein bezahlen müssen. Das Geld kommt von der Gesellschaft, als Steuergeld, als Versicherungsbeitrag.
Wo das Geld versickert
Dass die finanziellen Mittel begrenzt sind, führt in jedem Einzelfall zu einem ethischen Dilemma: Wie teuer darf eine Therapie sein und welchen Nutzen muss sie haben, damit die Gemeinschaft für sie bezahlt? Von der Intuition her dürfte das gar keine Rolle spielen. Doch was, wenn eine Behandlung so teuer ist, dass sie dem System so viele Mittel entzieht, dass die Versorgung aller anderen nicht mehr gewährleistet ist?
Es gibt keine abschließenden, standardisierbaren Antworten auf diese Fragen. Wem droht, an einer Krankheit zu sterben, die nur eine millionenteure personalisierte Therapie heilen könnte, wird vielleicht anders darauf reagieren als ein Mensch mit niedrigem Einkommen, der seine Brille selbst bezahlen muss und dadurch in finanzielle Schwierigkeiten gerät. Ein öffentlich-rechtliches Gesundheitssystem muss diese Debatten konstant austragen.
Betrachtet man aber die Kommerzialisierung in der Medizin, Gesundheitskonzerne, die Krankenhäuser profitorientiert betreiben, Pharmakonzerne, die lieber an Mitteln gegen Haarausfall forschen als dringend benötigte neue Antibiotika zu entwickeln, weil sie sich davon mehr Gewinn versprechen, oder das duale Versicherungssystem in Deutschland, bei dem sich Besserverdienende aus der solidarischen Versicherung für alle heraushalten und mit besseren Leistungen und früheren Terminen belohnt werden, wird deutlich, dass die begrenzten finanziellen Mittel vielleicht nicht nur an ethischen Grenzbereichen verloren gehen, sondern in einem kapitalistischen System versickern.
Kein Algorithmus hilft beim selbstbestimmten Sterben
Ein Algorithmus, der die individuelle Lebenserwartung von pflegebedürftigen Menschen vorhersagt, um den Tod planbar zu machen, setzt diesen Entwicklungen die Krone auf. Pflegeplanung – wenn sie gut gemacht ist – kostet Geld. Sie berücksichtigt, was sich der sterbende Mensch wünscht, was medizinisch sinnvoll ist und prognostiziert nicht auf Basis von Durchschnitten und Wahrscheinlichkeiten das individuelle Sterbedatum für einen einzelnen Menschen, um den Tod am Fließband abzufertigen.
Ein Algorithmus ist nicht einfühlsam, er reagiert nicht flexibel auf außergewöhnliche Konstellationen. Der Elder-Life Calculator steht jedem Menschen völlig frei online zur Verfügung. Um ihn zu nutzen, ist es nicht nötig, sich die wissenschaftlichen Grundlagen und Beschränkungen anzueignen, die hinter dem Tool stehen. Nach drei Minuten Klicken steht man völlig allein da mit der Information, dass Opa noch knapp eineinhalb Jahre hat. Oder vielleicht auch nur fünf Monate. Möglicherweise aber auch 3,4 Jahre.
Für Expert:innen mag die Lebenserwartung ein Parameter sein, das bei der Planung des Lebensendes berücksichtigt wird. Doch dass Angehörige – womöglich ohne Einwilligung der Betroffenen – die Daten eingeben und am Ende von der Software eine Zahl mit enormer Unsicherheit bekommen, wird nicht zu einem selbstbestimmteren Sterben führen.
Ich prognostiziere:
Sollte sich bei uns durchsetzen, dass dieser letzte, bisher noch kaum berührte menschliche Daseinsbereich dem digitalen Irrsinn und dem „Effizienzdenken“ durch Algorithmen zum Opfer fällt, kann man in ein paar Jahren mit dem Streichen des Artikel 1 GG rechnen! Wundern würde es mich bei den derzeitigen Haltungen der Politik nicht.
Einfach nur abscheulich…anders kann man es nicht sagen.
„Kommerzielle Interessen am Sterbeprozess“
Wir wissen – von Natur aus – weder Tag noch Stunde…
Und das ist gut so!!!!
Bitte verbieten – Wer auch immer die Macht dazu hat.
Mit der Ueberschrift zum Thema eines tools zur Berechnung statistischer Lebenszeiterwartung habt ihr click bait Niveau des Boulevards erreicht. Glueckwunsch. Nicht.
Das tool berechnet keinen Todeszeitpunkt. Der take ist entweder Unverstaendnis oder Dramatisierung ala B*ILD.
Das tool berechnet eine statistische Lebenszeiterwartung und versucht ein bisschen Kontext und Einordnung durch die Angabe der top und bottom 25% zu liefern. Das ist natuerlich fuer den statistikfernen „Normalbuerger“ immer noch sehr einladend zu Missverstaendnis und Missbrauch, privat wie organisatorisch. Das bedarf mE weiterer Einordnung, vor allem einer viel klareren Darstellung, dass eine solche statistische Auswertung fuer einen Einzelfall immer eine grosse Unsicherheit beinhaltet. Von daher ist das eher ein Spielzeug als eine wirkliche Entscheidungsgrundlage.
Wie so oft ist nicht das tool ein Problem, sondern Unwissenheit oder Boeswilligkeit potentieller Anwender. Und wie immer ist die Loesung nicht das Verbieten oder Skandalisieren des tools, sondern die Vermeidung von Unwissen und Boeswilligkeit. Aber zugegeben: das mit dem muendigen Buerger habe ich auch aufgegeben.
Letztlich ist das kein Skandal, sondern stellt die Nutzung von Daten zur Verfuegung, die jede Versicherung genau so nutzt, oder mit denen regelmaessig irgendwelche Ratgeber irgendwo publiziert werden. Die alle missverstaendlich oder boeswillig sein koennen.
Ueber ausreichend grosse Gruppen hinweg sind derartige Auswertungen nicht nur sinnvoll sondern notwendig, sonst kann man nicht planen. Wobei auch das keine rueckkopplungsfreien Systeme sind, wie man leicht an den Pandemie-Modellen sehen konnte, wenn man wollte, aber das wollte natuerlich fast niemand.
Danke für deinen Kommentar. Ich sehe nicht unbedingt einen Widerspruch zwischen unseren beiden Haltungen. Ich mache in meinem Meinungsbeitrag deutlich, dass die Lebenszeitprognose für die Menschen, die sich professionell mit Pflegeplanung beschäftigen, ein Parameter sein kann, den es zu beachten gilt. Meine Kritik richtet sich einerseits gegen die Verfügbarkeit des Tools für jedermann und warnt vor der Gefahr, dass die Prognosen für kommerzielle Zwecke missbraucht werden könnten. Davor warnen ja auch die Expert:innen.
Die Überschrift ist in dem Fall eine Art Meta-Kritik. Denn sie beinhaltet genau die Information, die das Tool den Angehörigen gibt. Ist das verkürzt, reißerisch? Ganz bestimmt. Aber genau das ist Teil meiner Kritik am fraglichen Tool.
Insofern bedanke ich mich für die Kritik, es ist gut, wachsame Leser:innen zu haben, die auf Clickbait und ähnliches hinweisen. Als Spielerei hielt ich es in diesem Fall für vertretbar, weil es im Zusammenhang mit dem Inhalt des Artikels steht.
Jana Ballweber schrieb:
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„Meine Kritik richtet sich einerseits gegen die Verfügbarkeit des Tools für jedermann und warnt vor der Gefahr, dass die Prognosen für kommerzielle Zwecke missbraucht werden könnten. Davor warnen ja auch die Expert:innen.“
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Genau das waren auch meine Gedanken.
Und eben genau empfinde ich die Nutzungsmöglichkeit für *jedermann* ethisch sehr, sehr fragwürdig.
Wozu gibt es, in jedem größeren Krankenhaus, in vielen Kirchen usw. , Ethik-Kommissionen?
Dort arbeiten Fachleute mit entsprechenden Erfahrungen und mit (vielleicht ist das jetzt das falsche Wort) Empathie.
Dort, wo eine Maschine, ein Algorythmus eine ethische Grenzlinie überschreitet, sollte/ müsste der Mensch einschreiten.
Mir graut es vor einer Zukunft, wo Algorythmen mehr und mehr über uns Menschen entscheiden. Eine solche Zukunft will ich nicht.
Auf der Webseite des Projektes kommt u.a. Google Analytics zum Einsatz: https://webbkoll.dataskydd.net/de/results?url=http%3A%2F%2Fwww.respect.projectbiglife.ca%2F#cookies
Das Problem ist doch nicht der Algorithmus. Algorithmen werden von Menschen gebaut. Stimmt etwas mit den Annahmen die in den Algorithmus einfließen nicht in Bezug auf die Menschenwürde so stimmt genau das gleiche nicht wenn die gleichen Annahmen informell ohne den Algorithmus angewendet werden.
Klar, man kann den Algorithmen ggf. vorwerfen dass hier ein menschlicher Aspekt fehlt, aber ist der denn vorhanden wenn wir statt den Algorithmen dort z.B. einen Versicherungskonzern entscheiden lassen? Oder wenn das ein Krankenhaus-Doktor tut der den Patienten auch vielleicht nur insgesamt 1 Stunde in einem menschlichen Kontext (d.h. nicht z.B. betäubt im OP-Saal mit Tüchern die alles außer einem kleinen Haut-Quadrat abdecken) im ganzen Leben gesehen hat?
Dann habe ich doch lieber einen objektiven Algorithmus an dem man objektiv Kritik üben kann und den dann auch iterativ verbessern kann.
Algorithmen sind schon ein Problem, oder nach Ihrer Perspektive: dass wir sie einsetzen, oder uns sogar auf sie verlassen. Erst danach ist das Problem gelagert wie und wer sie baut.
Will sagen, Algorithmen werden in viel massiverem Maße zu „mehr“ Entscheidung führen, so wie flächendeckender eingesetzt. D.h. es werden auch Sachen entschieden, die man sich mit menschlichem Personal gespart hätte. Der Faktor Mensch steht dann auch für ein potentiell objekives Nachvollziehen von Entscheidungen nicht wirklich mehr zur Verfügung. Auch dabei wird ein Algorithmus die Vorauswahl treffen müssen, oder wir landen im „Beschwerdedjungel“, ohne Rückkehr in einen sicheren, managebaren Zustand.
Die Objektivität geht auch schnell flöten, z.B. bei Intransparenz, oder auch einfach bei Systemen, die auf neuronalen Netzen o.ä. basieren. Da ist man „objektiv“ bei „irgendwie hat das System diese Entscheidung getroffen, wir können es anders trainieren, aber nicht zu 100% sagen, ob es ähnliche Fälle in Zukunft dann genauer beurteilen wird – oh, und wir können auch nicht sagen, welche anderen Folgen das dann hätte“… das ist ein bischen wie mit Impfungen, nur ohne die positiven Effekte. Im „besten“ Falle hätte man objektiv nachvollziehbare Entscheidungen, aber weder Zeit noch das Personal, diese auszuwerten, sowie nicht die Resourcen, der immer größeren Menge an neuen „objektiv nachvollziehbaren Entscheidungen“ hinterherzugucken, weil solches immer mehr und immer flächendeckender zum Einsatz kommt.
Das Problem des Algorithmus an sich muss „früh“ angegangen werden. Wir sind jetzt eigentlich schon „spät“.
Freilich kann man ein solches Programm schreiben und mit allgemein zugänglichen Daten füttern. Allein die Zeitspanne zwischen den beiden Quartilen zeigt jedoch eine große Unschärfe des Ergebnisses, welche den Eingangsdaten inhärent ist und sich daher auch durch eine größere Datenbasis nicht verbessern lässt.
Beunruhigender ist m.E. die allgemeine Lebensdauerstatistik: In 0. Näherung passiert 50 Jahre gar nichts und die darauf folgenden 50 Jahre entsprechen 6 Sigma einer Gaußkurve. In 1. Näherung kann man dieses Modell verfeinern, indem man den Mittelwert von 75J auf derzeit 78J verschiebt, diese ggf. nach Männern, Frauen, Ost&West differenziert und in den ersten 50 Jahren eine konstante Todesrate durch Verkehrsunfälle, Krebs & Herzinfarkte in frühem Alter annimmt und so modelliert, dass bis zum Eintritt ins Rentenalter 1/5 der Menschen verstorben sind. Spätestens ab einem eigenen Alter von 50J gilt: Memento mori!
„Opa stirbt in 17 Monaten“
Aber nur wenn man es ihm nicht erzählt, sonst sind es 3, oder mit Urlaub und viel Bewegung vielleicht 50.
Bewusstsein ist in der [Online-] Wirtschaft noch nicht angekommen, Wissen darüber auch nicht.
Die Bestimmung bzw. Vorhersage von Todesursachen darf m.E. in Zukunft gerne automatisiert werden, maschinell exakt erstellte Datensammlungen können helfen zu verhindern, dass Erhebungen allzu politisch opportun ausfallen und wirtschaftliche Erwägungen oder persönlichen Ängsten usw. bei Prognosen mehr Gewicht als den wissenschaftlichen Fakten zugemessen wird.