Big TechKhan gegen Goliath

Sie gilt als brillante Juristin und Kritikerin großer Tech-Konzerne. Seit kurzem ist sie die jüngste Chefin in der Geschichte der US-Wettbewerbsbehörde FTC. Lina Khan im netzpolitischen Porträt.

Lina Khan während einer Anhörung des Senatsausschusses
Lina Khan bei einer Anhörung vor dem Senatsausschuss für Handel, Wissenschaft und Verkehr. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / UPI Photo

Lina Khan gilt als juristisches Wunderkind: Die 32-jährige Amerikanerin stößt mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten einen Wandel im Wettbewerbsrecht an – und sorgt damit für Schrecken bei den großen Tech-Konzernen. Kürzlich ernennt sie US-Präsident Joe Biden zur Vorsitzenden der U.S. Federal Trade Commission (FTC). Damit ist Khan die jüngste Chefin in der Geschichte der Kartellbehörde und zugleich eine, deren zielstrebiger Wille dem Kampf gegen Monopole neue Energie verleihen soll.

Wettbewerbsfeindliche Praktiken großer Technologiekonzerne rücken immer stärker in den Fokus der politischen Aufmerksamkeit. Erst im Vorjahr veröffentlichte der Unterausschuss für Wettbewerb im US-Repräsentantenhaus eine bahnbrechende Untersuchung, die Ungleichgewichte in digitalen Märkten offenlegt. Inzwischen haben die US-Demokraten neue Gesetzesvorschläge auf den Weg gebacht. Im Visier stehen insbesondere die großen Fünf: Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft (GAFAM).

Der Kampf gegen unfaire Wettbewerbstaktiken wird auf beiden Seiten des Atlantiks eifrig geführt, denn auch die EU unter der Führung von Kommissionsvizechefin Margrethe Vestager plant mit ihrem Digitale-Dienste-Gesetzespaket Schritte gegen die Marktherrschaft der Tech-Konzerne. Mit Lina Khan erhält Vestager ein prominentes Gegenüber zur Seite gestellt.

Dem US-Wettbewerbsrecht auf den Grund gehen

In Fachkreisen international bekannt macht Khan ihr Forschungspapier „Amazon’s Antitrust Paradox“, das sie 2017 während ihres Jura-Studiums an der Yale Law School veröffentlicht. Die damals unbekannte Studentin legt auf 96 Seiten dar, warum Amazon zu einem monopolistischen Konzern werden konnte, ohne durch das Wettbewerbsrecht gehemmt worden zu sein.

Sie argumentiert in ihrer Arbeit gegen den seit den 1970ern herrschenden Konsens, dass sich das US-Wettbewerbsrecht lediglich auf das Wohl der Verbraucher*innen und damit auf Produktpreise konzentrieren dürfe. Damit geraten Unternehmen vor allem dann ins Visier der Behörden, wenn sie höhere Preise setzen. Da Amazon jedoch oft als Preisdrücker auftritt, ignorieren die Kartellbehörden den Konzern lange. Das Unternehmen habe sich so im Laufe der Zeit eine monopolistische Stellung im Online-Handel erarbeiten können, argumentiert Khan.

Laut Khans Untersuchungen unterschätze „das derzeitige Recht das Risiko von Verdrängungspreisen und wie sich eine Integration über verschiedene Geschäftsbereiche hinweg als wettbewerbswidrig erweisen kann“. Denn Amazon fungiert nicht nur als Einzelhändler, sondern beispielsweise auch als Marketingplattform, Kreditverleiher, Buchverlag, Hardwarehersteller und führender Anbieter von Cloud-Serverplatz. Selbst Dienstleistungen, die einen Vorteil für Konsument*innen bieten, so Khan in einem Interview mit der BBC, könnten dennoch der Allgemeinheit Schaden bringen: etwa Arbeitnehmer*innen, der kleineren Konkurrenz und der Demokratie als Ganzem.

Wie wenig erfasst Tech-Konzerne wie Amazon bisher vom US-Wettbewerbsrecht sind, hat ein US-Bezirksgericht vergangene Woche gezeigt: Das Gericht hatte eine Wettbewerbsbeschwerde der FTC gegen Facebook abgewiesen, da diese „rechtlich unzureichend“ sei.

Während der Zuspruch für die Arbeit Khans wächst, gibt sich die junge Juristin gelassen. „Ich denke nicht in grandiosen Dimensionen über meine Arbeit. Ich fühle ihre Dringlichkeit, aber hüte mich auch vor Überheblichkeit“, sagt die Juristin. Vielmehr begegne sie der Herausforderung mit Respekt, einen fairen Wettbewerb zu gestalten. In Interviews und auf den etlichen Veranstaltungen, zu denen man sie einlädt, bleibt die junge Frau meist im Hintergrund. Sie sei extrem bescheiden und konzentriere sich auf Ideen und starke Argumente, beschreibt eine ehemalige Kollegin Khans ihre Arbeitsweise.

„Nichts an ihrer Karriere ist typisch“

Geboren und aufgewachsen in London, ist die Tochter zweier Pakistaner*innen im Alter von elf Jahren mit ihrer Familie nach New York gezogen. Nach einem Studium am Williams College beginnt sie 2011, bei der New America Foundation zu arbeiten. In dem linken Think Tank entdeckt sie unter der Leitung des Ex-Journalisten Barry Lynn ihr Interesse für anti-monopolistische Forschung. In einem Interview mit der BBC erzählt sie, wie sie bei der New America Foundation erstmals beobachtete, wie sich US-Märkte und die Wirtschaft im Laufe der Zeit zentralisiert hatten. Khan forschte und berichtete zur Agrarbranche, Hühneraufzucht oder der Schokoladenindustrie. Sie habe damals gesehen, dass es einen Trend in vielen Wirtschaftsbereichen gebe: Nur wenige Unternehmen kontrollierten den Markt.

2014 beginnt Lina Khan ihr Jura-Studium an der Yale Law School. Daraus entsteht „Amazon’s Antitrust Paradox“, in dem sie Antworten auf die wachsende Marktkonzentration vieler Branchen liefert. Die Arbeit wird binnen 18 Monaten fast 150.000 Mal heruntergeladen und avanciert zum vielzitierten Jura-Referenzwerk. Danach klettert Khan die Karriereleiter hoch. Mit ihrem ehemaligen Chef Barry Lynn und weiteren Partner*innen gründet sie 2017 die NGO Open Markets Institute. Ein Jahr darauf tritt Khan eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Columbia Law School an, im gleichen Jahr setzt sie als juristische Mitarbeiterin zum ersten Mal einen Fuß in die Federal Trade Commission.

Unter Leitung des Demokraten Rohit Chopra hat sie Gelegenheit, ihre Kenntnisse des Kartellrechts in einer Bundesbehörde anzuwenden – mit großer Anerkennung. Chopra ist angetan von Khans Fähigkeiten und ihrer rasanten beruflichen Entwicklung. Er betont: „Nichts an ihrer Karriere ist typisch. Man sieht nicht viele Jurastudierende, die bahnbrechende juristische Forschungen veröffentlichen, oder Forschungen, die so schnell einen so großen Einfluss haben.“

Damit jedoch nicht genug – 2019 veröffentlicht Khan eine weitere kartellkritische Arbeit, die als „The Separation of Platforms and Commerce“ die Monopolstellung der Digitalkonzerne durch die Aufteilung ihrer Geschäftsbereiche thematisiert. Im selben Jahr wird sie Anwältin im US-Justizausschuss, 2020 folgt auf die Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Columbia Law School eine Junior-Professur, die sie bis heute inne hat. Wenn sie bei der vielen Arbeit und den Terminen noch Zeit findet, trifft sie sich mit hochrangigen Politiker*innen wie der Demokratin und Big-Tech-Kritikerin Elizabeth Warren oder tauscht sich in Übersee mit EU-Beamten über kartellrechtliche Strategien aus. Binnen kürzester Zeit feiern Medien sie als rettende Heldin.

Zwischen „neuer Brandeis“-Schule und Alexandria Ocasio-Cortez

Einen großen Einfluss auf Khan hat Barry Lynn, der jahrelang ihre Arbeit im Wettbewerbsrecht begleitet hat. „Er hat auf jeden Fall meinen Blick auf diese Themen geprägt“, betont Lina Khan in einem Interview mit der Financial Times. Er habe sie auf die Arbeit von Ökonomen aufmerksam gemacht, die sich mit Fragen von Macht und Dominanz in Märkten beschäftigt haben. Das sei etwas, das „in der zeitgenössischen Version der Ökonomie ausgeblendet wird“, sagt Khan. Zusammen mit Lynn und anderen Menschen, darunter auch dem Rechtswissenschaftler und Netzneutralitäts-Verfechter Tim Wu, entwickelt Lina Khan auch die „neue Brandeis“-Schule der Kartellregulierung.

Diese ist angelehnt an den Juristen und US-Verfassungsrichter Louis Brandeis, der vor über einem Jahrhundert als „Anwalt der Menschen“ den Blick auf Kartellrecht formte und Großindustrielle wie John D. Rockefeller bezwang. Im Gespräch mit der Financial Times betont Khan, die „Brandeis-Bewegung“ sei mehr als nur Kartellrecht. „Gesetze spiegeln Werte wider“, sagt sie. Daher gehe es nicht bloß um Kartellrecht, sondern auch um Werte wie Gerechtigkeit. Geprägt fühlt sich Khan auch von der Philosophin Hannah Arendt und dem Ökonomen Joseph Stiglitz.

Journalistin Rana Foroohar von der Financial Times trifft die Juristin 2019 für ein Interview. Lina Khan erinnere sie an die junge Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, die sich selbst als demokratische Sozialistin bezeichnet. „Ein weiterer aufstrebender Star, der es mit den Machthabenden in Washington aufnimmt“, schreibt Foroohar und fügt hinzu: „Beide scheinen keine Angst davor zu haben, große Dinge zu überdenken“. Lina Khans Haltung sorgt indes für Kritik republikanischer Abgeordneter, die sie und ihre Denkschule als „Hipster-Kartellrecht“ verspotten.

Auch die von Khan angefochtenen Tech-Unternehmen gehen gegen die Juristin vor. Amazon hat mit einer 25-seitigen Petition an die FTC eingefordert, dass sich Khan von kartellrechtlichen Untersuchungen zurückziehen soll, die den Konzern betreffen. Durch ihre Arbeit als Wissenschaftlerin und Autorin sei sie dem Unternehmen gegenüber kritisch eingestellt und könne daher nicht unparteiisch agieren.

Im Duo gegen Wettbewerbsfeindlichkeit

Inzwischen regt sich auf beiden Seiten des Atlantiks Widerstand gegen die Dominanz der großen Tech-Firmen. Während die EU an ihrem Digitale-Dienste-Gesetzespaket arbeitet, hat kürzlich das US-Repräsentantenhaus nachgezogen und sechs Gesetze vorgestellt, die die Marktmacht der großen Tech-Unternehmen beschränken sollen. Die neue FTC-Chefin Khan soll erweiterte Befugnisse erhalten, die Konzerne zu prüfen, Übernahmen zu verbieten und Geldstrafen zu verhängen. Denn deren strukturelle Übermacht sei nur durch neue Gesetze zu lösen. Firmen wie Amazon seien nicht das Problem, denn „der Zustand des Gesetzes ist das Problem, und Amazon stellt das auf elegante Weise dar“, glaubt Khan.

Khans ehemaliger Vorgesetzter bei der FTC, Rohit Chopra, schlägt unterdessen vor, der Federal Trade Commission die Befugnis zu erteilen, selbst wettbewerbsrechtliche Regelungen zu veranlassen. Denn die von Gerichten durchgeführte gegenwärtige Kartellrechtsregulierung sei „extrem langsam und langwierig“, so der Jurist. Ob die Vorschläge Anklang finden, ist allerdings noch ungewiss, da einige Republikaner bereits Widerstand ankündigen.

Was in den USA ins Rollen gerät, ist in Europa schon längst in vollem Gange. Margrethe Vestager gratuliert Lina Khan nach ihrer Ernennung an die FTC-Spitze – sie freue sich auf die Zusammenarbeit. Vestager begrüßt die Aussicht auf kartellrechtliche Veränderungen, die Menschen wie Lina Khan auch außerhalb europäischer Grenzen anstreben: „Was in den USA geschieht, ist ein Zeichen dafür, dass sich das globale Gespräch verändert hat“, sagt sie in einem Interview. Bei einem Videotelefonat vereinbaren die Behördenchefinnen eine engere Zusammenarbeit.

Regulierung mit oder ohne Zerschlagung?

Offen bleibt freilich die heikle Frage, welche Rolle das Thema einer möglichen Zerschlagung der großen Technologieriesen in Zukunft bei der gemeinsamen Arbeit zwischen EU und USA spielen wird. EU-Kommissionsvizechefin Vestager sieht eine Zerschlagung skeptisch und betrachtet diese nur als Notlösung.

Lina Khan hält in „Amazon’s Antitrust Paradox“ fest, die Trennung von Geschäftsbereichen wie etwa Einzelhandel und Marketplace bei Amazon könne Bedenken gegen die Monopolkraft des Konzerns reduzieren. Jedoch erklärte sie 2019, dass eine Entflechtung bei einem Konzern wie Amazon dem Problem der Monopolisierung nur geringfügig entgegenwirken könne. Denn dem Konzern werde vielleicht verboten, seine eigene Ware auf seiner Plattform zu verkaufen. Dies ist jedoch inzwischen nur ein kleiner Teil von Amazons Geschäft.

Spannend bleibt daher nicht nur, wie Lina Khan ihre Rolle als Behördenchefin nutzt. Auch die Frage nach dem Wie und die Bedeutung der Kooperation mit der EU-Kommissarin bleiben offen, denn die größten Konzerne stammen alle aus den USA – transatlantische Differenzen scheinen wahrscheinlich.

Eine Sache scheint immerhin gewiss: Khan wird ihrer neuen Aufgabe mit Feuereifer begegnen. Oder wie sie es 2018 in einem Interview mit der New York Times formuliert: „Ich stürze mich in die Dinge.“

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