In einem „Policing Capability Enhancement Programme“ (I-CORE) will Interpol seine Informationstechnologie komplett erneuern und vorhandene Daten besser vernetzen. Insgesamt soll der Einsatz biometrischer Daten und „Big Data“-Anwendungen ausgeweitet werden. Zugleich entsteht eine einheitliche Informationsarchitektur, mit der sich zunehmend verknüpfte Datenbanken einfach abfragen lassen sollen.
„I-CORE“ soll bis 2030 in mehreren Etappen realisiert werden und umgerechnet rund 80 Millionen Euro kosten. Jetzt sucht die internationale Polizeiorganisation mit Sitz in Lyon Sponsoren für einzelne Vorhaben. Interpol verfügt über einen sehr knappen Haushalt, der von den Mitgliedern bestritten wird und für Modernisierungen wie „I-CORE“ keinen Platz bietet. Das Programm wurde von den 194 Mitgliedstaaten auf der Interpol-Generalversammlung im Oktober 2019 in Santiago de Chile einstimmig beschlossen.
Biometrische Daten für Polizei „an vorderster Front“
Für den Umbau der bestehenden Datenbanken und die Anschaffung digitaler Technologien gibt Interpol sieben Ziele aus: An oberster Stelle stehen die Bekämpfung des Terrorismus und der irregulären Migration, es folgen die allgemeine Kriminalität und Sicherheit im Cyberspace, die Bekämpfung von Korruption und Menschenhandel sowie Umweltkriminalität. Insgesamt will Interpol 12 neue Projekte realisieren, eine erste Phase soll bis 2022 drei Bereiche abdecken.
Zu den Prioritäten von „I-CORE“ gehört die verbesserte Nutzung biometrischer Daten für polizeiliche und grenzpolizeiliche Zwecke. Interpol führt eine Datenbank mit Fingerabdrücken gesuchter StraftäterInnen, inzwischen können dort auch Gesichter gespeichert und durchsucht werden. Die Informationen sollen nun auch PolizistInnen „an vorderster Front“ zugänglich gemacht werden. Gemeint sind Abfragen bei Personenkontrollen, wozu die BeamtInnen mit mobilen Systemen zur Abnahme von Fingerabdrücken und Gesichtsbildern ausgerüstet sein müssen.
Einheitliche Informationsarchitektur
Nach eigenen Angaben betreibt Interpol 18 Datenbanken, darunter zu Fahndungen mit Haftbefehl, aber auch zu Straftaten im Bereich der Umwelt-, Cyber- oder organisierten Kriminalität. Dort sollen 100 Millionen Datensätze gespeichert sein, Polizeien und andere Behörden führen darin weltweit 4,6 Milliarden Abfragen pro Jahr (oder 146 Abfragen pro Sekunde) durch.
Diese Systeme sind Interpol zufolge nicht untereinander vernetzt. In vielen Mitgliedstaaten werden außerdem unterschiedliche Datenformate genutzt, was eine zentrale Speicherung in Lyon erschwert. Bis 2022 will Interpol deshalb mit „I-CORE“ eine einheitliche Informationsarchitektur einführen. Dann soll es möglich sein, alle Datenbanken mit einer einzigen Suchfunktion abzufragen.
Rasterfahndung in Massendaten
Interpol will die Informationen in den verschiedenen Datenbanken außerdem mit neuer Technik erschließen. Anwendungen zur Verarbeitung von Massendaten („Big Data“) sollen neue Zusammenhänge finden und damit Ermittlungsansätze liefern. Diese intelligente Analyse vorhandener Datensätze ist in westlichen Ländern längst Standard. Oft erlaubt es aber der Datenschutz nicht, verschiedene Informationssysteme miteinander abzugleichen, hierfür müssten zunächst Gesetze geändert werden. Juristisch ist Interpol keine staatliche Organisation, sondern ein in Frankreich eingetragener Verein. Es ist unklar, ob dies die polizeiliche Rasterfahndung in den Interpol-Datenbanken erleichtert oder erschwert.
Obwohl es um digitale Modernisierung geht, klingt die Projektbeschreibung von „I-CORE“ an vielen Stellen verstaubt. Interpol schreibt, die Polizei in aller Welt sehe sich mit einem „Daten-Tsunami“ konfrontiert, der in eine „wertvolle Quelle verwertbarer Informationen“ verwandelt werden soll. Diese Formulierung hatten vor zwölf Jahren die EU-InnenministerInnen in einer „Zukunftsgruppe“ benutzt, die nach der deutschen Ratspräsidentschaft 2007 den Startschuss zur Erneuerung der polizeilichen EU-Informationssysteme und digitalen Ermittlungsmethoden gegeben hatten.
Früher gut vernetzter BKA-Vize
Die digitale Spätzündung bei Interpol geht vielleicht auf den seit 2014 amtierenden Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock zurück. Seinerzeit war Stock Vizepräsident des Bundeskriminalamtes (BKA) und dort für die informationstechnische Modernisierung zuständig. Zu den Vorhaben in seiner Amtszeit gehörten die europaweite Vernetzung biometrischer Datenbanken oder Tests mit Gesichtserkennung. Auf EU-Ebene hatte Stock in den Nullerjahren maßgeblichen Einfluss auf die Sicherheitsforschung und verfügte über gute Kontakte zu europäischen Rüstungskonzernen. Als BKA-Vize war er damals auch gern gesehener Gast bei Polizeimessen und -konferenzen.
Auch heute gibt das BKA in der Europäischen Union bei vielen IT-Projekten den Ton an. Die Wiesbadener Behörde hat für die Einführung einheitlicher Datenformate gesorgt und ist im EU-Projekt „Interoperabilität“ mit dem umfassenden Ausbau des Informationsaustauschs befasst. Zu den Pilotprojekten gehört auch die Einführung eines EU-weiten Registers für Akten aus polizeilichen Ermittlungen. Die BKA-Datei mit Lichtbildern wächst jedes Jahr beträchtlich, noch in diesem Jahr will die Behörde ein neues Gesichtserkennungssystem beschaffen.
Schützenhilfe aus Deutschland
Gut möglich also, dass das BKA seinem ehemaligen Vize und jetzigem Interpol-Generalsekretär Schützenhilfe im Projekt „I-CORE“ leistet. Viele der Maßnahmen lassen auch Ähnlichkeiten zum EU-Projekt „Interoperabilität“ erkennen, etwa die einheitliche Suchmaschine für verschiedene Datenbanken oder ein „Datensilo“ für biometrische Informationen.
So nimmt es nicht wunder, dass sich das Bundesinnenministerium auch an der Finanzierung von „I-CORE“ beteiligt. Die neue Ausstattung im Bereich der Informationstechnologie wird in der ersten Phase mit fünf Millionen Euro unterstützt, immerhin rund ein Drittel aller entstehenden Kosten. Unterzeichnet wurde die Finanzierungsvereinbarung von Jürgen Stock und seinem Nachfolger, dem jetzigen BKA-Vizepräsident Michael Kretschmer.
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