Das sächsische Innenministerium hat die Übermittlung von Corona-Listen an die Polizei verschwiegen. Im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge waren im März und Anfang April Daten von Infizierten sowie von Menschen in häuslicher Quarantäne weitergegeben worden. Von den Maßnahmen waren womöglich mehr als Tausend Personen betroffen – wie viele es wirklich sind, ist unbekannt, da sich die Datensätze überschneiden. Bekannt wurde all dies durch die Antworten von Innenminister Roland Wöller (CDU) auf zwei Kleine Anfragen von Kerstin Köditz, innenpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion im Landtag (7/2257, 7/2839).
Am 27. März hatte ein Sprecher des Innenministeriums netzpolitik.org noch schriftlich mitgeteilt: „Der Polizei Sachsen liegen keine Daten vor, wer mit dem Coronavirus infiziert wurde.“ Eine Falschbehauptung, wie sich nun herausstellt. Auch auf unsere erneute Nachfrage einen Monat später hatte die Behörde ihre Darstellung nicht korrigiert. Wöller selbst habe von der Übermittlung erst Mitte Juni erfahren, behauptet sein Ministerium und räumt nun eigene Fehler ein.
Wie eine Sprecherin uns an diesem Montag mitteilte, habe die Pressestelle auf unsere Anfrage im März geantwortet, ohne Rücksprache zu halten – etwa mit den Polizeidienststellen, bei denen sensible Gesundheitsdaten in großer Zahl eingegangen waren. So sei es zu der falschen Aussage gekommen. „Das ist ein Missstand, den wir in Zukunft beheben müssen.“
Umso kurioser wirkt die Antwort vor dem Hintergrund, dass wir im März zuvor noch gefragt hatten, ob es richtig sei, zu schreiben, das Ministerium wisse gar nicht, ob seine Polizei Zugang zu Corona-Listen habe. „Nein, das wäre inhaltlich falsch“, teilte der Sprecher damals mit. Und nun gibt dieselbe Behörde an, genau dies sei damals der Fall gewesen.
Übermittlung begann schon Anfang März
Die Übermittlung der Corona-Listen in Sachsen begann der Behörde zufolge am 5. März. Das Ministerium gibt an, die Polizeidirektion Dresden habe die Gesundheitsdaten beim Landratsamt in Pirna erbeten. Dieses ist für den Kreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge zuständig, wo damals gerade der erste Corona-Fall Sachsens festgestellt worden war. In den Datensätzen, die per E-Mail an die Polizei gingen, waren Namen und Adressen von Betroffenen enthalten.
Die Übermittlung an die Polizeidirektion erfolgte über einen Zeitraum von elf Tagen. Anders als vom Innenministerium zunächst behauptet, wurde sie damit nicht „unverzüglich“ eingestellt. Am 17. März löschte die Polizei angeblich alle Daten. 114 Menschen waren nach Angaben des Ministeriums von dieser Weitergabe betroffen – eine Zahl, die wohl nur deshalb relativ niedrig ausfiel, weil die Verbreitung des Virus in Sachsen noch am Anfang stand.
Am 23. März vereinbarte der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge abermals eine Weitergabe von Corona-Listen, diesmal an die Polizeireviere Sebnitz, Freital-Dippoldiswalde und Pirna. Gestoppt wurde sie erst am 5. April — zwei Tage nachdem das Innenministerium die pauschale Übermittlung von Infizierten-Daten per Erlass verboten hatte. Wie aus Wöllers Antworten hervorgeht, kamen bei den Polizeirevieren insgesamt Tausende, seither angeblich gelöschte Datensätze zusammen.
Landkreis ließ Anfrage Ende April unbeantwortet
Auch der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge trägt Verantwortung an dem Informationsdebakel. Wir hatten uns dort schon am 30. April erkundigt, ob der Kreis Corona-Listen an die Polizei gegeben hatte. Hätte das Landratsamt damals Auskunft gegeben, wäre die Übermittlung schon vor langer Zeit ans Licht gekommen. Das Amt bat jedoch zunächst um Fristverlängerung und ließ unsere Anfrage dann gänzlich unbeantwortet.
Ein Versehen, wie eine Sprecherin uns an diesem Montag schreibt. Wie schon beim Innenministerium will auch das Landratsamt nicht absichtlich so gehandelt haben. „Es kann auf keinen Fall die Rede davon sein, dass hier etwas vertuscht werden sollte.“
Der Kreis spricht inzwischen selbst von einer „ungerechtfertigten Datenübermittlung“ und kündigt an, den Vorfall konsequent aufzuarbeiten – „um künftig derartige Verstöße auszuschließen“. Ein Findungsprozess, der offenbar Zeit brauchte.
Denn der Kreis hat den Vorgang mittlerweile zwar beim Landesdatenschutzbeauftragten Andreas Schurig angezeigt, allerdings erst am 4. Juni – also rund zwei Monate, nachdem die Weitergabe durch den Erlass des Innenministeriums gestoppt worden war. Auch die Polizeidirektion Dresden soll Schurig am 9. Juli informiert haben. Der Landesdatenschutzbeauftragte selbst äußerte sich gegenüber netzpolitik.org zu den Vorgängen auf Anfrage nicht.
Die Betroffenen wurden nie informiert
Von all dem hätten die Betroffenen jedoch nichts erfahren, obwohl das Sächsische Gesundheitsdienstgesetz eine Benachrichtigung vorsehe, so das Innenministerium. Kerstin Köditz fordert nun, dass dies zügig nachgeholt werde. „Für mich am bedenklichsten: Dem Innenministerium war der gesamte Umfang der Übermittlungen zunächst nicht bekannt, man bekam das nach eigenen Angaben erst bei der Beantwortung meiner Kleinen Anfrage mit“, so die Linken-Landtagsabgeordnete in einer Pressemitteilung.
Valentin Lippmann, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion, äußerte gegenüber netzpolitik.org seine Verwunderung hierüber. Er selbst habe wie wir Ende März beim Innenministerium angefragt, ob Daten an die Polizei gegeben würden und keine wahrheitsgemäße Antwort erhalten.
„Der Vorgang wirft Fragen zur Informationsweitergabe auf“, sagte Lippmann. „Aufgrund der besonderen Sensibilität des Themas wäre eine aktive und unverzügliche Information des Innenministeriums darüber, dass es zumindest in einem Landkreis zur Weitergabe von Daten über Infizierte gekommen ist, angezeigt gewesen.“
Sachsen ist nun bereits das sechste Bundesland, bei dem bekannt wird, dass Corona-Listen an die Polizei geschickt wurden. Anfang April waren die Übermittlungen in Baden-Württemberg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen zu einem Politikum geworden. Zum Teil hatten Datenschützer:innen sie gestoppt. Später stellte sich heraus, dass auch Sachsen-Anhalt Daten von Menschen in Quarantäne an die Polizei übermitteln ließ. Das dortige Landesinnenministerium hatte dies wie nun auch in Sachsen zunächst verschwiegen.
Ihr hättet ja auch nach „irgendwas mit Kontaktlisten“ fragen müssen. Natürlich hat die Polizei nicht „die Daten“ „aller Infizierten“ („in Echtzeit und vollständig“) vorliegen, nie nicht.
Erschreckend, wenn man merkt wie lapidar hier Gesundheitsdaten behandelt werden. Noch erschreckender ist aber, wie bereitwillig hier die Gesundheitsbehörden zu willfährigen Lakaien des Polizeiapparts werden. (Man erinnere sich auch an die „AIDS-Register“, die manche Konstervativen in den 80ern angestrebt haben! Und stelle sich nun für einen Moment vor, dass Gesundheitsämter hier die Daten der Polizei zuschanzen würden – die passende Personenkennziffer gibt es in den Polizeidatenbanken ja sicher bereits)
Man könnte schon fast meinen, dass da System hintersteckt.
Die Daten werden weitergegeben, die Bürger trauen dem Braten nicht mehr und geben falsche Daten an, Corona breitet sich weiter aus; der Staat verschärft die Überwachung, weil wegen Corona.
Ich kann verstehen, dass diese Daten so manchem Ermittler das Herz höher springen lassen, aber ob es den Image Schaden wert ist?
Gibt es schon einen Auswertung darüber, in wie fern diese Daten zu einer Ergreifung geführt haben?
„Gibt es schon einen Auswertung darüber, in wie fern diese Daten zu einer Ergreifung geführt haben?“
Das musst du präzisiere: zu einer Ergreifung eines Täters? Oder „Ergreifung“ eines Zeugen?
Denn in den meisten Fällen die ich mitbekommen habe ging es nicht einmal um das Schnappen von Tätern, sondern nur darum _eventuelle_(!!!) Zeugen ausfindig zu machen.
Typo Zwischenüberschrift: Die BetroffenEN wurden nie informiert…
Danke für den Hinweis, ist jetzt korrigiert.