Was die EU meint, wenn sie über Desinformation spricht

Europas Regierungsspitzen debattieren beim EU-Gipfel, wie Falschnachrichten in sozialen Netzwerken unsere Demokratie manipulieren. Wir sollten dabei nicht nicht nur über Einflussnahme von außen reden, sondern auch über die Rolle der großen Internetkonzerne.

"Tendre aveu", von Pierre Carrier-Belleuse
Geflüsterte Gerüchte gab es immer. Doch nie reisten Falschinformationen schneller als heute. – CC0 Wikmedia

In Brüssel wird heiß diskutiert, ob und in wie weit manipulative Nachrichten im Netz zur Spaltung unserer Gesellschaft beitragen. Heute beraten die Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedsstaaten auf höchster Ebene darüber, wie Desinformation bekämpft und Wahlen besser geschützt werden können.

Unter Desinformation versteht man die bewusste Verbreitung von Falschnachrichten und irreführender Information, um Schaden anzurichten oder zum eigenen Profit. Der Begriff wird abgegrenzt von bloßer Fehlinformation ohne böswilliger Täuschungsabsicht – im Englischen Misinformation – sowie von künstlerischen Formen wie Satire und Parodie.

Was ist Desinformation?

Seit der US-Präsidentschaftswahl 2016 verbreitete sich der Begriff Fake News. Dieser meinte ursprünglich aus finanziellen und politischen Motiven verbreitete Falschnachrichten, wird aber inzwischen für fast jede Form von falscher Information oder unerwünschter Meinung verwendet. Fake News ist zum politischen Kampfbegriff geworden, etwa von US-Präsident Donald Trump, der damit unliebsame Presseberichte diskreditieren will. Auf Wunsch einer EU-Expertengruppe wird Fake News in Dokumenten der Europäischen Union nicht mehr offiziell benutzt. Die Experten verankerten stattdessen den Begriff Desinformation, der bereits im Kalten Krieg für gegnerische Propaganda verwendet wurde.

Madeleine de Cock Buning
Madeleine de Cock Buning leitete die EU-Expertengruppe zu Desinformation - Alle Rechte vorbehalten European Union

Die Angst vor Desinformation beruht auch auf dem Medienwandel: In der alten Welt vor dem Internet waren Zeitungen, Radio und Fernsehen die Torwächter dessen, was wir sehen und was nicht. Heute gibt es eine schier unüberschaubare Zahl an professionell aussehenden Inhalten. Nicht immer lässt sich auf den ersten Blick unterscheiden, was seriöse Quellen sind und was nicht.

Ukraine-Krieg und Cambridge Analytica

Europäische Regierungen bemühen sich seit einiger Zeit, Desinformation im Netz zu bekämpfen. Auf der Agenda steht das Thema spätestens seit dem Ukraine-Konflikt 2014. Osteuropäische EU-Staaten werfen Russland vor, einen „Informationskrieg“ im Netz zu führen. Der Begriff Desinformation wird beim Militär als Teil sogenannter hybrider Bedrohungen verstanden, zu denen auch Cyberattacken auf Wahlsysteme zählen. Der Europäische Auswärtige Dienst betreibt seit 2015 die East StratCom Task Force, die gegen russische Desinformation vorgehen soll. Auf der Webseite EUvsDisinfo sollen EU-Mitarbeiter falsche Informationen im Netz identifizieren und widerlegen.

Desinformation kommt aber nicht unbedingt von außen, das zeigte der Fall Cambridge Analytica. Die Mittel zur Manipulation durch soziale Medien stehen jedem offen, der über Geld und geeignete Ressourcen verfügt. Das schließt, wie bei Cambridge Analytica, explizit Wahlbeeinflussung durch heimische politische Akteure ein.

Sorge um die Europawahl im Mai

Vor der Europawahl im Mai wächst in der europäischen Bevölkerung die Sorge über Wahlbeeinflussung. Das ergab zuletzt eine Befragung von Eurobarometer. Eine Mehrheit von 60 Prozent der Befragten in Europa fürchten, dass ausländische Akteure oder kriminelle Gruppierungen Wahlen beeinflussen könnten. Zwei Drittel sind besorgt, dass ihre Daten für gezielte politische Botschaften missbraucht werden könnten.

Ein wichtiger Faktor, wie beeinflussbar eine Wahl ist, ist die Wahlbeteiligung: Bei den EU-Wahlen der letzten 20 Jahre gingen europaweit weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten wählen, Schlusslicht war 2014 die Slowakei mit nur 14 Prozent. Je weniger Stimmen, desto mehr könnten kleinere Verschiebungen ins Gewicht fallen.

Die Wahl im Mai dürfte nach offiziellen Prognosen rechte Kräfte deutlich stärken. Die Wähler der Rechten schenken laut einer Studie mehr als andere Wähler Falschnachrichten Glauben – beispielsweise über Geflüchtete.

Verhaltenskodex mit Schwächen

Die EU-Kommission kündigte im Vorjahr einen Maßnahmenkatalog gegen Desinformation an. Herzstück der Vorschläge ist ein freiwilliger Verhaltenskodex für Online-Plattformen, in dem Youtube, Facebook, Twitter und weitere Anbieter mehr Transparenz versprechen. Der Kodex gilt seit September. Anders als beim Vorgehen gegen Urheberrechtsverstöße und „terroristische Inhalte“ schuf die Kommission gegen Desinformation keine neuen Gesetze, sondern überließ den Plattformen ihr Vorgehen selbst.

Im Kodex bekennen sich die Plattformen dazu, politische Werbung offenzulegen. Sie schränken ein, dies „könne“ die Identität der Werbenden und ihrer Ausgaben umfassen. Zudem gelobten die Plattformen, „Daten für unabhängige Untersuchungen von akademischen Forschern und generelle Informationen über Algorithmen“ zur Verfügung zu stellen.

EU-Kommissarin Mariya Gabriel
EU-Kommissarin Mariya Gabriel stellte den Verhaltenskodex zu Desinformation vor - Alle Rechte vorbehalten European Union

Bereits seit dem Vorjahr bieten Facebook, Google und Twitter in den USA und in Großbritannien Archive für politische Anzeigen an. In Kürze soll es Archive für alle EU-Staaten geben. Die Transparenzmaßnahme hat aus Sicht von Wissenschaftlern aber Schwächen. Die Archive bieten nämlich nur ungefähre Informationen dazu, wie viel für eine Anzeige ausgegeben wurde und wen sie ins Visier nahm. Die Daten sind nicht per Schnittstelle verfügbar. Eine unabhängige Analyse der Daten ist daher schwierig.

Experimente der letzten Monate machen deutlich, dass es noch immer leicht für anonyme Akteure ist, im Netz auf manipulative Art politische Werbung zu buchen. Recherchen von Vice in den USA zeigten, wie einfach es ist, falsche Konten von Politikern anzulegen und in deren Namen zu werben. Der britische Guardian berichtete, dass Brexit-Befürworter vor Weihnachten zehntausende Pfund für Facebook-Werbung ausgaben, ohne dass nachvollziehbar ist, wer dahinter steckt und woher das Geld stammt.

Blockierter Zugang für Forscher

Facebook behindert zudem aktiv die Bemühungen von unabhängigen Beobachtern, selbst Untersuchungen anzustellen. Journalisten und NGOs kritisierten den Konzern für eine Änderung, die ihnen das Sammeln von Anzeigen aus dem Newsfeed erschwerte. Während das kleinere Twitter grundsätzlich Zugang zu seinen öffentlichen Daten gewährt, gibt Facebook nur ausgewählten Wissenschaftlern Zugriff. Das Ausmaß der Desinformation auf Facebook lässt sich dadurch nur schwer abschätzen, urteilt eine Studie der Stiftung Neue Verantwortung.

Klar: Nach dem Skandal um Cambridge Analytica ist Vorsicht beim Datenzugang durch Dritte angebracht, selbst wenn es Forscher sind. Doch in ihrem Vorgehen widerspricht Facebook seinen eigenen Versprechen aus dem EU-Verhaltenskodex.

Die Freiwilligkeit ist generell die große Schwäche des Verhaltenskodex. Die Firmenvertreter formulierten ihre eigene Verantwortung bewusst schwammig. Der Kodex wird darum seit seinem Start von der eigenen Expertengruppe der EU als unzureichend kritisiert (siehe pdf).

Inzwischen fordert auch die EU-Kommission mehr Transparenz der beteiligten Firmen. Der fehlende Zugang für Forscher und Fact-Checker zu Daten von Facebook, Google und Twitter erschwere etwa eine Einschätzung darüber, wie viele Bots und Fake-Konten auf den Plattformen Desinformation verbreiteten, kritisiert die EU-Kommission. Die Plattformen hätten in ihren Fortschrittsberichten zur Umsetzung des Verhaltenskodex unzureichende Angaben dazu gemacht.

Facebook-Chef Mark Zuckerberg im EU-Parlament
Facebook-Chef Mark Zuckerberg im EU-Parlament - Alle Rechte vorbehalten European Union

Facebook und Google müssen aber fürs Erste keine Regulierung ihrer Werbegeschäfte fürchten. In Brüssel herrscht bis nach der Europawahl im Mai politischer Stillstand. Eine neue EU-Kommission steht frühestens im Herbst, erst dann kann die Arbeit an neuen Gesetzen beginnen.

Turnübungen für Wahlsicherheit

Während strengere Regeln gegen Desinformation nicht in Sicht sind, setzte die Europäische Union zögerliche Schritte zur Sicherung des Wahlvorgangs. EU-Kommissionspräsident Juncker kündigte im September 2018 mehrere Maßnahmen an. Eine Änderung der Regeln für europaweite Parteienfamilien macht finanzielle Sanktionen für Datenschutzverstöße bei politischer Werbung möglich, jedoch gilt dies nur für eine überschaubare Menge an EU-Finanzhilfen.

Auf Vorschlag Junckers bildete sich ein Netzwerk nationaler Wahlbehörden. Ein Treffen im April 2018 auf Einladung von EU-Kommissarin Vera Jourova hatte deutlich gemacht, wie schlecht die Mitgliedsstaaten auf die Kontrolle von Online-Wahlkämpfen vorbereitet sind. Die nationalen Wahlbehörden diskutieren nun regelmäßig in Brüssel, wie Wahlen besser geschützt werden können. Bisher trafen sich die Staaten zweimal. Das Kooperationsnetzwerk ist jedoch nur ein Forum zum Ideenaustausch, handfeste Ergebnisse sind keine zu erwarten.

Schwachstelle der Vorstöße Junckers ist, dass die Europäische Union kaum Kompetenzen bei der Wahlgesetzgebung hat. Der Ablauf und die Sicherung von Wahl ist Angelegenheit der Nationalstaaten. Die EU kann hier bloß unterstützen, was in den Staaten passiert – oder auch nicht.

Frühwarnsystem und Cyber-Simulation

Die EU-Staaten planen auf Anregung der Kommission ein Frühwarnsystem. Zuständige Behörden in den Mitgliedsstaaten sollen über das System Nachrichten über Desinformationskampagnen im Netz austauschen. Kontaktbehörde für Deutschland ist das Auswärtige Amt. Die EU-Staaten wollen Informationen auch mit der NATO und den G7-Staaten teilen. Das Frühwarnsystem soll laut der Kommission ab Ende März verfügbar sein. Das System ist ein reines Informationstool – selbst wenn Staaten gezielte Desinformation vor der Wahl entdecken und einander melden, bietet das System keine Hilfe, etwas dagegen zu tun.

Die Kommission wünscht sich zudem eine bessere Koordinierung und Finanzierung von Cybersicherheitsforschung, um Wahlsysteme vor Hackangriffen zu schützen. Eine Probe aufs Exempel gegen hybride Attacken auf den Wahlprozess soll eine Cybersicherheitssimulation bieten, die für April geplant ist. Dazu verraten Kommission und Mitgliedsstaaten bisher kaum Details.

Wahlspenden als Einfallstor

So wichtig die Sicherung des Wahlprozesses ist, sie ist nur eines von mehreren Einfallstoren für die illegitime Wahlbeeinflussung. Eine Schwachstelle ist offenkundig, wird aber kaum angetastet: Spenden und andere Geldflüsse an politische Parteien und für Wahlkämpfe.

In vielen Staaten herrscht wenig bis gar keine Transparenz darüber, wer Wahlkämpfe finanziert und wie das Geld ausgegeben wird. Das macht ein Blick in die Datenbank des Demokratieförderungsinstituts Idea deutlich: In sieben EU-Staaten sind Parteispenden aus dem Ausland erlaubt. Zehn Staaten erlauben anonyme Parteispenden zumindest bis zu einer gewissen Höhe. 13 von 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben keine Obergrenze für Ausgaben bei Wahlkämpfen, darunter auch Deutschland.

Aktuelle Beispiele veranschaulichen, warum das ein Problem darstellen könnte. Die AfD erhielt in Deutschland nach Berichten große Geldgeschenke aus der Schweiz – ein klarer Verstoß gegen das Gesetz, das Spenden über 1.000 Euro von Nicht-EU-Bürgern verbietet. Die Schwesterpartei der AfD in Frankreich, die Front National (inzwischen Rassemblement National) erhielt hohe Kredite von dubiosen russischen Banken. Diese Fälle wurden bekannt, doch nicht immer sind heikle Geldflüsse in das politische System offensichtlich.

Früher war zumeist mit freiem Auge zu erkennen, wenn eine wahlwerbende Gruppe über auffällig viele Mittel verfügte. Noch vor 20 Jahren finanzierten Parteien mit Spendengeld Zeltfeste, Broschüren und Plakate. Wenn sie deutlich mehr ausgaben als sonst, war das sichtbar und weckte kritische Fragen. (Freilich traf das nicht immer zu, wie die CDU-Spendenaffäre zeigte.)

Heute bieten soziale Netzwerke einen raffinierten Hebel, um unerkannt auf die Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen. Was hindert künftig einen Großspender, sein Geld statt in direkte Parteispenden einfach in quasi-anonyme Facebook-Werbung zu stecken? Und wie können wir koordinierte Kampagnen erkennen, wenn Facebook eine unabhängige Analyse seiner Daten behindert?

Das Problem beim Namen nennen

Wichtig ist, das Problem klar beim Namen zu nennen. Desinformation gab es immer. Doch erst Werbung in sozialen Netzwerken macht es möglich, soziale Netzwerke durch ein wenig Geld und Zeit in mächtige Kampagnenmaschinen zu verwandeln. Dieses Mittel steht praktisch jedem offen.

Mit dem Finger auf „die Russen“ zeigen ist einfach – und verkürzt. Die bessere Idee wäre, die Rolle der Plattformen stärker zu hinterfragen. Sie sind zum Umschlagplatz für dubiose Inhalte, Propaganda und manipulative Werbung geworden. Zugleich hintertreiben sie durch Lobbying in Berlin und Brüssel die öffentliche Kontrolle ihres Tuns.

Politische Werbung im Netz darf nicht unreguliert bleiben. Doch die Lösung sollte nicht sein, unerwünschte Inhalte aus dem Netz zu filtern. Ins Visier rücken sollte vielmehr das Werbegeschäft von Google, Facebook und Co. Die Plattformen müssen Verantwortung dafür übernehmen, wer bei ihnen Werbung kauft und für welchen Zweck. Auch sollten die Plattformen viel strenger prüfen, welche Inhalte mit Werbung zu Geld gemacht werden können.

Regulierung für die Plattformen muss Hand in Hand gehen mit der Überprüfung der Regeln für unser politisches System: Strengere Regeln für Wahlkampfspenden, mehr Transparenz bei Einnahmen und Ausgaben von Parteien. Demokratie sollte man nicht kaufen dürfen. Auch nicht übers Internet.

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Eine Ergänzung

  1. Aus meiner Sicht wäre es auch ausgesprochen wichtig, die Menschen besser für einen aufgeklärten Umgang mit Medien zu schulen.

    Dass man schaut, wer denn der Urheber eines Werbebanners oder eines Zeitungsartikels ist, welche Motivation hinter der Veröffentlichung stecken könnte und natürlich, dass man den Wahrheitsgehalt der Inhalte versucht zu validieren, sollte eigentlich selbstverständlich sein – ist es aber nicht.

    Hier sollte man ansetzen – in Schulen (ja, auch in der Hauptschule), Hochschulen und wo nötig auch in Universitäten. Aber auch bei Älteren, die dazu neigen, alles, was ihnen vorgesetzt wird, für bare Münze zu nehmen, so wie sie es aus Jahrzehnten des Tagesschau-Konsums gewohnt sind.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.