Wenn wir über Themen politisch diskutieren, dann können wir sie in den meisten Fällen einem bestimmten Politikfeld zuordnen. Die Hitzewelle des Sommers 2018 wird dann vom Wetter zum Klimaphänomen und so zu einem Teil der Umweltpolitik.
Über die Berechtigung privater Krankenversicherungen streiten wir im Kontext der Gesundheitspolitik, und wenn die Bahn wieder stundenlang Verspätung hat, können wir das als Schicksalsschlag hinnehmen oder aber verkehrspolitisch betrachten.
Politikfelder stellen einen argumentativen und institutionellen Rahmen bereit, innerhalb dessen politisch über Themen nachgedacht, gestritten und entschieden werden kann. Denn Politikfeldern liegt die gesellschaftliche Übereinkunft zugrunde, dass in ihrem Kern etwas auf dem Spiel steht, um das es sich zu kämpfen lohnt – etwas, das dem Gemeinwohl dient und als schützenswert gilt: die Umwelt, die Gesundheit oder die Verkehrsinfrastruktur.
Aber welches Politikfeld bildet den Bezugsrahmen für Debatten über die Digitalisierung? Einige Politiker*innen, Journalist*innen und Bürger*innen sprechen heute von Digitalpolitik.
Noch vor einigen Jahren wäre die Antwort eindeutig eine andere gewesen: Netzpolitik.
Seit den 1990er-Jahren war das Internet immer wieder Gegenstand politischer Diskussionen. Es wurde dabei jedoch stets bestehenden Politikfeldern zugeschlagen: Die Potenziale der Informationsgesellschaft gehörten in den wirtschaftspolitischen Diskurs, während aufgrund der ersten globalen Computerviren sicherheitspolitische Bedenken aufkamen. Erst um das Jahr 2005 entstand ein gemeinsamer, wenngleich umstrittener Bezugspunkt für Debatten um Nutzung und Regulierung des Internets: die Netzpolitik.
Der Begriff Netzpolitik wurde von einer öffentlichkeitswirksamen Protestbewegung geprägt. Ihr Erfolgsrezept bestand darin, die Verteidigung von Bürgerrechten, wie Meinungsfreiheit und Schutz der Privatsphäre, mit der Idee eines freien, offenen und selbstbestimmten Internets zu verknüpfen.
Diese Idee stellten die Aktivistinnen erfolgreich Gesetzesvorhaben zur Vorratsdatenspeicherung oder zum Filtern von Internetinhalten entgegen. Bald setzten sich auch immer mehr Politiker*innen und Minister*innen dafür ein, den Besonderheiten des Internets Rechnung zu tragen und sie nicht den Prioritäten anderer Politikfelder unterzuordnen.
Das Internet als solches konnte die breite Anerkennung als schützenswertes Gut erwerben – „das Netz“ wurde politikfeldtauglich. Dazu trugen auch die Wahlerfolge der Piratenpartei bei, die andere Parteien unter Zugzwang setzten, sich ebenfalls netzpolitisch zu profilieren.
Netzpolitik wurde zum Shootingstar unter den Politikfeldern. Doch der Erfolg war nicht von Dauer.
Digitalisierung en marche
Seit einigen Jahren nämlich verliert das Netz als politischer Bezugspunkt an Bedeutung. Stattdessen drehen sich die Debatten um Digitalisierung. Es geht nicht mehr vorrangig um das Internet als eigene, schutzwürdige Sphäre, die freiheitliche Kommunikation ermöglicht. Im Vordergrund steht vielmehr die digitale Durchdringung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
In der allgemeinen Wahrnehmung beginnt sich die Digitalisierung als fundamentaler Transformationsprozess neben Phänomene wie den Klimawandel einzureihen. Das mit dem Begriff verbundene Themenspektrum weitet sich aus. In der politischen Debatte allerdings fehlt ein gemeinsamer normativer Bezugspunkt: Was steht im digitalen Zeitalter auf dem Spiel? Welches Gemeinwohl gilt es vorrangig zu schützen?
Deutet diese Uneinigkeit darauf hin, dass das Internet sein Politikfeld verliert? Mit dem Begriffswechsel von der Netz- zur Digitalpolitik verschwinden die netzpolitischen Akteure und Diskurse nicht einfach von der politischen Bildfläche. Es findet aber eine Transformation des Politikfeldes statt.
Zwei Entwicklungen sind denkbar: Das Feld könnte sich ausweiten. Digitalpolitik würde dann Netzpolitik als eigenständiges Politikfeld ablösen und ein deutlich breiteres Themenfeld umfassen. Obwohl netzpolitische Argumente und Themen integriert werden, muss neu ausgehandelt werden, was auf dem Spiel steht.
Ein eigenes Schutzgut der Digitalisierung hat sich bisher nicht durchgesetzt. Kandidaten sind die Forderung nach „digitaler Souveränität“, die nach den Enthüllungen durch Edward Snowden von Vertretern der IT-Wirtschaft und -Sicherheit vorgebracht wurde, und eine eher bürgerrechtliche Auslegung „digitaler Selbstbestimmung“.
Eine zweite mögliche Entwicklung ist die Ausdifferenzierung des Feldes. Der einheitliche Blick auf den Komplex digitaler Themen zerfällt. Diese werden stattdessen sowohl in etablierte als auch in neue Politikbereiche eingegliedert. Die Digitalisierung würde dann sowohl in der Cyber-Sicherheitspolitik als auch in der Verkehrspolitik („Smart Cities“) oder der global orientierten Wirtschaftspolitik verhandelt, während Netzpolitik als marginalisiertes Feld fortbesteht.
Welche Variante sich in Zukunft durchsetzt, ist keine rein akademische Frage. Ob, wie und welche Politikfelder sich als eigenständige thematische und institutionelle Konstellationen durchsetzen, bestimmt, was unsere Gesellschaft als besonders schützenswert und damit als relevant betrachtet – seien es die Rechte künstlicher Intelligenzen, die Sicherheit nationaler Infrastrukturen oder der selbstbestimmte Umgang mit Digitaltechnologie.
Ronja Kniep und Julia Pohle sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der Forschungsgruppe Politik der Digitalisierung. Pohle forscht seit 2015 am Wissenschaftszentrum Berlin zu Themen, Akteuren und Institutionen der globalen und nationalen Internetpolitik. Zuvor arbeitete sie für die UNESCO in Paris und promovierte in Brüssel. Kniep forscht zu den Themen Digitalisierung, Netzpolitik, Überwachung und Nachrichtendienstkontrolle. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Doktorandin an der FU Berlin.
Ronja Kniep spricht gemeinsam mit Jeanette Hofmann zu dem Thema, am 13. September bei unserer Konferenz „Das ist Netzpolitik!“ in der Berliner Volksbühne.
Hier das gesamte Programm. Tickets sind noch erhältlich.
Dieser Text erschien zuerst in der Institutszeitung des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
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