Der Einsatz von Informationstechnologie zur Steuerung, Überwachung und Kontrolle von ArbeitnehmerInnen ist so alt wie diese Technologien selbst, die Potentiale zur Verschiebung von Machtverhältnissen in Betrieben sind beträchtlich. In Deutschland und Österreich haben auch deshalb Betriebsräte Mitbestimmungsrechte bei der Einführung von IT-Systemen. Aber auch jenseits der in konkreten Unternehmen eingeführten IT-Systeme spielen digitale Technologien und hier insbesondere soziale Medien eine zunehmende Rolle im Kontext von Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen.
Beispielsweise berichtete Aleks Scholz im März dieses Jahres im Techniktagebuch fast schon euphorisch von seinen Erfahrungen mit Twitter als Werkzeug zur Streikorganisation. Anfang des Jahres hatten sich über 40.000 Hochschullehrende im Vereinigten Königreich an Streiks gegen Rentenkürzungen beteiligt, Scholz zufolge war Twitter maßgeblich für den Mobilisierungserfolg:
Und wer weiß, ob es ohne Twitter funktioniert hätte. Abgesehen von regelmäßigen Rundmails mit Status-Updates findet die gesamte Organisation und Vernetzung auf Twitter statt. Die Kommunikation ist offen – wichtig, weil jeden Tag Tausende Neulinge hinzustoßen und weil man so direkt mit Journalisten oder Politikern in Kontakt treten kann. Informationen verbreiten sich schnell, begleitet von kritischer Reflexion. Mainstream-Medien bedienen sich direkt in unseren Feeds. Wir gewinnen den Kampf um die öffentliche Meinung. Abgesehen von neuen Erkenntnissen verbreitet sich auch der Enthusiasmus schnell. Streiken ist emotional anstrengend, aber zumindest ist man nicht alleine damit.
Ähnlich ermächtigend beschreiben Cecilia Varendh Mansson und Richard Whittington in einem aktuellen Forschungspapier (nicht frei zugänglich) den via Facebook organisierten Widerstand gegen die Verschlechterung von Konditionen im Direktvertrieb eines Kosmetikunternehmens in Nigeria.
Predictive Strike Policing
Dass die Organisation von Solidarität unter ArbeitnehmerInnen via Social Media aber auch mit Machtverschiebungen in Richtung Unternehmensleitungen einhergehen kann, demonstriert Forschung an der TU Wien, die mittlerweile auch zur Gründung eines Startups („Prewave“) geführt hat. Dessen Homepage wirbt mit der Möglichkeit, Risiken in der Zulieferkette („supply chain and sustainability risks“) vorhersagen zu können. Tatsächlich versteckt sich hinter dieser vermeintlich neutralen Formulierung ein Werkzeug zur Streikvorhersage auf Basis von Twitter und anderen Social-Media-Daten. Als Fallbeispiel dient dabei ein achtzehn Tage im Vorhinein vorhergesagter Hafenarbeiterstreik in Indonesien. Der Fall war Teil einer Doktorarbeit an der TU Wien, die jedoch bis April 2022 für den Verleih gesperrt ist.
Im schriftlich geführten Interview begründet Unternehmensgründerin Lisa Madlberger den Fokus auf Streiks mit dem ursprünglichen Ziel ihrer Doktorarbeit, „soziale Nachhaltigkeit in Supply Chains zu messen“. Dabei habe sich herausgestellt, „dass Streiks meist sehr deutliche öffentliche Signale für unzufriedenstellende Arbeitsbedingungen sind. Da dabei meist viele Menschen beteiligt sind, sind diese Signale auch in Social-Media-Daten deutlich erkennbar.“
Klar ist aber auch, dass Vorhersagen von sich vermeintlich anbahnenden Streiks naturgemäß auch präventive Gegenmaßnahmen von Unternehmen erlauben. Worin diese Gegenmaßnahmen letztlich bestehen – Verbesserung von Arbeitsbedingungen oder Ausforschung und Verfolgung von (potentiellen) StreikführerInnen -, bleibt dabei aber natürlich den Unternehmen überlassen. Für ArbeitnehmerInnen, die sich öffentlicher Social-Media-Tools für die Streikorganisation bedienen, sind mit Werkzeugen wie jenem von Prewave demnach erhöhte Risiken verbunden.
Reicht ein Code of Ethics?
Dass derartiges Predictive Strike Policing eine Reihe ethischer Fragen aufwirft, ist den Gründern von Prevawe inzwischen durchaus bewusst. Vor allem von gewerkschaftlicher Seite werden Tools wie das von Prewave äußerst kritisch gesehen. Madlberger verweist diesbezüglich auf die Einrichtung eines Ethikbeirats sowie eines Code of Ethics, der von GründerInnen, Mitarbeitern und Investoren unterzeichnet wurde:
„Wir nutzen nur öffentliche Daten, geben die Identitäten der User nicht preis und streben aktiv nach einer ausgeglichenen Nutzung der Daten, indem wir mit NGOs kooperieren.“
Digitale Streikvorhersage ist dabei keine Zukunftstechnologie mehr, sondern bereits in einigen Unternehmen etabliert. Das Unternehmen Seldn schreibt etwa auf seiner Webseite, dass sieben der „Fortune 100“-Unternehmen ihre Technologie bereits nutzen. Seldn verspricht sogar die Vorhersage von Streiks bis zu sechs Monate im Voraus.
Gerade wenn derartige Prognosetechnologien aber im Kontext transnationaler Lieferketten zum Einsatz kommen, geht damit auch noch ein postkolonialer Subtext einher. Ohnehin oftmals nur schwach ausgeprägte und prekäre Arbeitnehmerrechte können auf diese Weise weiter unterlaufen werden, z. B. indem Zulieferbeziehungen beendet werden. Und das allein auf Basis möglicher, statistisch vorhergesagter Arbeitskämpfe.
Für Gewerkschaften und potentielle Streikorganisatoren gilt es deshalb jedenfalls, sich zumindest der Möglichkeit präventiver Gegenmaßnahmen nicht nur von Seiten der bestreikten Unternehmen, sondern auch von deren Auftraggebern bewusst zu sein. Und in Vereinbarungen zwischen Unternehmen und internationalen Gewerkschaften sollten letztere zukünftig auf Klauseln drängen, die den Einsatz von Predictive Strike Policing entweder ächten oder nur gemeinsam mit der Arbeitnehmervertretung erlauben.
Der Beitrag wurde gemeinsam mit Gabriel Grill und Alexander Steiner recherchiert und verfasst.
Gegenmaßnahmen:
– Lohnerhöhung
– Verbesserung der Arbeitsbedingungen
– „Gefährderhaft“
„Der Fall war Teil einer Doktorarbeit an der TU Wien, die jedoch bis April 2022 für den Verleih gesperrt ist.“
Immerhin ist ein Paper von Madlberger dazu online frei zugäglich:
https://www.researchgate.net/publication/312259000_Supervised_Entity_Tagger_for_Indonesian_Labor_Strike_Tweets_using_Oversampling_Technique_and_Low_Resource_Features
Danke für den Hinweis!