Der Originalartikel von Dr. Tom Fisher erschien unter dem Titel „Social media intelligence and profiling in the insurance industry… it’s not only the price you pay that will be affected“ bei Privacy International. Übersetzung von Alex Hiller.
Finanzdienstleister arbeiten eifrig daran, immer mehr Daten über unser Leben zu sammeln. Das ist zwar nichts Neues, denn auch schon früher wurden Daten über Kontostände oder ähnliches gesammelt. Doch nun betrachten sie auch unsere Profile in sozialen Medien sowie deren Kontakte und Interaktionen. Diese Daten werden auf neue, unerwartete Weise benutzt. Dazu gehört auch, Persönlichkeitsprofile zu erstellen, um Risiken bei der Kreditvergabe abzuschätzen und daraus Beitragshöhen zu bemessen.
„Firstcarquote“, eine Erstwagen-Versicherung der Auto-Versicherung Admiral, ist hier ein führendes Beispiel. Jüngst wurde ein Produkt-Launch auf halbem Weg verhindert. Die Versicherung hatte vor, anhand der Facebook-Beiträge junger Kund*innen ihre Persönlichkeit zu bestimmen und diese Informationen für vorteilhafte Versicherungsangebote zu benutzen. Mit diesem missglückten Versuch schadete Admiral nicht nur dem eigenen Ansehen. Zukünftig muss sich die gesamte Versicherungsbranche ernsthaften Fragen stellen.
Admiral musste es unterlassen, die Profildaten junger Facebooknutzer*innen zu nutzen, dennoch arbeiten Partner-Unternehmen von Admiral durchaus mit der Persönlichkeits-Profilierung durch soziale Netzwerke, um Vorhersagen und Entscheidungen über Menschen zu treffen. Die Analyse sozialer Medien beinhaltet, Daten von sozialen Netzwerken wie Facebook zu sammeln und auszuwerten. Das kann sich auf Informationen aus Profilen, Beiträgen, Bildern und Metadaten wie Standortangaben erstrecken. Nur, ist die Welt auch bereit, die Konsequenzen von Social-Media-basierten Risikoeinschätzungen zu tragen?
Admirals Firstcarquote
Im November 2016 kündigte Admiral ein neues Produkt an – die Erstwagenversicherung Firstcarquote -, das die Facebook-Beiträge von jungen Fahrer*innen nutzen sollte, um ihre Persönlichkeit und mögliche Risiken einzuschätzen. Verstärkte Medienaufmerksamkeit erlangte das Produkt, als Facebook ankündigte es zu blockieren, da es seine Nutzungsbedingungen verletze.
Der Produkt-Launch könnte als kalkuliertes Medienspektakel bezeichnet werden, da Admiral auf firstcarquote.com berichtete, es habe sich um das „vermutlich meist diskutierte Produkt einer Autoversicherung“ gehandelt. Nach dem ersten Fehlschlag wurde Firstcarquote erneut aufgelegt, diesmal mit einem obligatorischen Facebook-Login sowie einem Persönlichkeitsquiz, das die Analyse von Facebook-Beiträgen ersetzte.
Versicherungen und die Persönlichkeitsprofilierung
Ein solches Interesse an der Analyse sozialer Medien war nicht nur eine einmalige Aktion von Admiral. Daten sozialer Medien spielen eine wachsende Rolle im Finanzsektor und Admiral sieht die Profilierung weiterhin als legitimes Mittel an, um jungen Fahrer*innen vergünstigte Autoversicherungen anzubieten.
Bezüglich Firstcarquote besitzt die App noch ein obligatorisches Facebook-Login. Das aber gewährt den Zugriff auf Account-Informationen und nicht auf Informationen aus Beiträgen. Account-Informationen sind Name, E-Mail-Adresse, Geschlecht, Geburtsdatum, aktueller Wohnort und das Profilbild. Eine App, die nur solche Daten abfragt, wird nicht genauer von Facebook überprüft.
Weitaus interessanter und weniger bekannt als die App ist die Zusammenarbeit Admirals mit VisualDNA. VisualDNA ist ein Unternehmen, das Persönlichkeitsprofilierung betreibt, um die Kreditwürdigkeit von Personen für Kreditgeber einzuschätzen. Laut eines Mastercard-Berichts trägt VisualDNA dazu bei, Eigenschaften wie „Aufgeschlossenheit“, „Neurotizismus“ und „emotionale Stabilität“ zu messen. Das soll helfen, die Kreditwürdigkeit von Personen einzuschätzen – insbesondere bei Kund*innen, über die aufgrund mangelnder Kreditnehmer*innen-Geschichte wenig bekannt ist.
Beide Parteien betrachteten dies als eine vorteilhafte Partnerschaft. VisualDNA, welche „die Vorteile der patentierten und einzigartigen Psychometrie-Tests für Krediteinstufungen bereits bewiesen“ haben wollen, zeigten sich über die Zusammenarbeit mit Admiral erfreut, da sie sich erhoffen, ihren „Ansatz auch auf andere Formen der Risikobewertung zu übertragen“. Ebenso befand Admiral: „Je mehr wir über das Verhalten unserer Kunden wissen, desto besser können wir ihnen einen an ihr individuelles Risiko angepassten Preis geben.“
Wie tief diese Beziehung ist, zeigt sich vielleicht daran, dass der Informatiker Dr. Yossi Bornstein als „Hauptdatenwissenschaftler von Firstcarquote“ beteiligt ist – vormals war er bei VisualDNA als Risikoanalytik-Leiter angestellt. Er publizierte bereits für VisualDNA über Persönlichkeitstests. Desweiteren nutzt Admiral ein Cookie von VisualDNA auf seiner Website, obwohl nicht klar ist, ob das Profilierungs-Cookie zur Risikobewertung oder zu Werbezwecken eingesetzt wird.
Admirals erste Pressemitteilung stellte einen hohen Anspruch an den Nutzen von Persönlichkeitstests junger Fahrer*innen für Versicherungen: „Es ist wissenschaftlich belegt, dass einige Persönlichkeiten mehr dazu tendieren, Unfälle zu verursachen, als andere.“ Später schwächten sie diese Aussage ab: Es gebe „zunehmend wissenschaftliche Beweise dafür, dass Persönlichkeitsmerkmale mit dem Fahrrisiko korreliert werden können“. Letztlich fragen sie über einen Post auf ihrer Facebook-Seite: „Beeinflusst die Persönlichkeit das Fahrverhalten? Kurz gesagt: Vielleicht.“ Ob es nun eine Korrelation zwischen Persönlichkeit und Risiko junger Fahrer*innen gibt oder nicht, sei dahingestellt. Es zeigt sich hier, dass zunehmend Persönlichkeitstests und andere Datenquellen durch den Versicherungssektor genutzt werden.
Die Erkenntnisquelle soziale Medien
Erkenntnisgewinn über soziale Medien ist eine wachsende Praxis im Finanzsektor. Facebooks Plattform-Richtlinien verhindern zwar den Zugriff auf Beitragsdaten, aber dennoch nutzt die Versicherungsbranche vermehrt Daten aus sozialen Medien, um Vorhersagen und Entscheidungen über Menschen zu treffen. In diesem Fall erlangte Firstcarquote große Aufmerksamkeit, weil Facebook fand, die Erstversion von Firstcarquote verstoße gegen seine Richtlinien.
Diese Version definierte Persönlichkeit hauptsächlich über Dinge wie Satzlänge und Ausrufezeichen. Worte wie „immer“ oder „nie“ (im Gegensatz zu „vielleicht“) könnten auf den Hang hindeuten, zu übertreiben. Termine zu einem bestimmten Zeitpunkt zu setzen, anstatt sich lose zu verabreden, sollte Aussagen über den Organisierungsgrad einer Person ermöglichen. Facebooks Plattform-Richtlinien regeln, inwieweit Apps Dritter Facebook nutzen können. Laut Facebook verstieß Admiral gegen Regel 3.15, die im Mai 2016 in den Richtlinienkatalog aufgenommen wurde:
Facebook-Daten dürfen nicht verwendet werden, um Entscheidungen über die Förderfähigkeit von Personen zu treffen, selbst wenn es um die Überprüfung von Anträgen oder Darlehensbelastungen geht.
Trotzdem spielen Daten sozialer Medien weiterhin eine wichtige Rolle im Finanzsektor. Insbesondere solche über Personen, die zuvor noch keinen Zugang zu Finanzgeschäften hatten. Diesen Personen wird mehr als anderen abverlangt, Dinge über sich preiszugeben. Datenanalyse für Darlehen zielt zum Beispiel hauptsächlich auf Personen ohne Kreditgeschichte. Das sind in der Regel die Ärmsten und am stärksten Verwundbaren. Es ist kein Zufall, dass Firstcarquote auf eine Gruppe ausgerichtet war, die zuvor keinen Zugang zu erschwinglichen Versicherungen hatte und daher notwendig Teile ihrer Persönlichkeit preisgeben sollte. Es scheint, manche gesellschaftliche Gruppen haben mehr Macht über ihre Privatheit als andere. Ist das gerecht?
Ein typischer Fall der Datennutzung aus sozialen Medien ist Big Data Scoring (BDS), eine Kredit-Bewertungsfirma, bei der Admiral im März 2016 Kunde war und die verlautbarte: „BDS ist die tiefgreifendste Informationsquelle des gesamten Internets, da es alle öffentlich verfügbaren Informationen nutzt.“
Eines ihrer Produkte, BDS Digital Footprint Data, sammelt Daten aus einer großen Auswahl an öffentlich verfügbaren Quellen. Dazu zählen soziale Medien, Blogs und Informationen aus Google-Suchanfragen. Außerdem werden Informationen über die genutzten Geräte und besuchten Orte gesammelt. Die Beschreibung des Cookies auf der Admiral-Seite beinhaltet die Speicherung von:
Informationen über den Webbrowser, den Computer des Nutzers, besuchte Unterseiten der Darlehens-Antragsseite, wie lange jeweils auf einer Seite verweilt wird, inwieweit die Seiten genutzt werden und welche Handlungen sie während des Seitenbesuchs sonst noch vollziehen.
Nachzuvollziehen, wie eine Seite genutzt wird, kann helfen, Betrug und Bots zu erkennen. Aber Cookies ermöglichen auch, Daten zu verknüpfen, um dann Schlussfolgerungen über jede*n Nutzer*in einer Darlehens-Seite zu ziehen: Die Art und Weise, wie die Formulare ausgefüllt werden, wird immer wichtiger im Vergleich zu deren tatsächlichem Inhalt.
BDS ursprüngliches Produkt aus dem April 2013 ermöglichte eine Analyse sozialer Medien, um Darlehensanbieter in ihrem Entscheidungsprozess zu unterstützen oder diesen gleich ganz zu ersetzen. Nach dem Zugriff auf eine breite Palette von Facebook-Daten, einschließlich Profildaten, Status-Aktualisierungen, Gefällt-mir-Angaben und Orten, entschied der Algorithmus über die Wahrscheinlichkeit darüber, ob die analysierte Person ein Darlehen zurückzahlen würde. Der CEO und Mitbegründer von BDS erklärte:
Alles zusammengenommen haben wir es meist mit 5.000-100.000 Zeilen an Daten pro Klient zu tun. Das ist oft mehr, als ihre Familien oder Angehörigen von ihnen wissen.
Außerdem spielte er die ernsthaften Implikationen für die Privatheit herunter:
Aus der Sicht eines Antragstellers kostet der Zugang zu Facebook-Daten nur zwei Klicks.
Soziale Konsequenzen: Die Industrie formt menschliches Verhalten
Die Versicherung junger Fahrer*innen greift weit tiefer als bloß in ihre Brieftasche. Die gesamte Gesellschaft wird durch sie beeinflusst. Der Preis der Versicherung ist nicht nur eine gute Risikoeinschätzung, weil die Versicherung möglicherweise auch unser Verhalten beeinflusst. Das Verhalten junger Fahrer*innen zu beeinflussen, ist ziemlich wichtig. Sie machen zwar bloß weniger als zwei Prozent aller Führerscheinbesitzenden aus, aber sind in beinahe zehn Prozent der gefährlichsten Unfälle involviert.
Traditionellere Preisgestaltungen können sich positiv auf die Sicherheit auf unseren Straßen auswirken. Zum Beispiel durch höhere Preise für leistungsstärkere und damit gefährlichere Wägen. Dies hält jüngere Fahrer*innen davon ab, Wagen zu fahren, denen sie nicht gewachsen sein könnten. Der Preis der Versicherungen ist aber nicht der einzige Faktor, der das Verhalten junger Fahrer*innen beeinflusst. Er ist nur ein Mittel, um sie zu größerer Sorgfalt auf der Straße anzuhalten, was letztlich allgemeinen Nutzen hat. Was aber würde mit unserem Verhalten passieren, wenn man anfinge, die Preise an der Art unserer Beiträge in sozialen Medien festzumachen? Junge Leute dazu anzuhalten, in vollen Sätzen zu schreiben, wird die Straßen kaum sicherer machen. Was nutzt das Ganze also der Gesellschaft?
Tatsächlich zeichnet sich ein gesellschaftlicher Schaden durch eine solche Nutzung von sozialen Medien durch den Finanzsektor ab. Es kann beeinflussen, wie wir kommunizieren, und betrifft damit alle. Kommunikation wird weniger ehrlich, wenn davon auszugehen ist, dass sie einen Effekt auf den finanziellen Status hat. Posten Freunde Beiträge, weil sie wirklich ihr Leben mit ihren Freunden teilen wollen? Oder versuchen sie eine gute Figur zu machen, weil sie in den nächsten sechs Monaten planen, eine Hypothek aufzunehmen?
Die Elemente sozialer Kontrolle können hierbei aber noch weit heimtückischer sein. Beispielsweise entwickelt China ein soziales Kreditsystem. Das ist angeblich eine Methode, um Verhalten online durch die Entwicklung einer „sozialen Kreditbewertung“ zu beeinflussen. In Indien lehnt ein Kreditgeber bereits Anträge von Menschen ab, die auf Twitter politische Beiträge hinterlassen, weil er befürchtet, das Geld von politisch aktiveren Menschen sei schwieriger zurückzufordern, sollten sie nicht zurückzahlen können.
Die Zukunft des Versicherungssektors
Wie der CEO des Finanzdienstleisters ZestFinance und ehemaliger Leiter des Informationsbüros von Google bereits 2013 sagte, glaubt man, „dass alle Daten Kredit-Daten sind, nur fehlt noch der richtige Nutzen“. Dasselbe könnte von der Versicherungsindustrie gesagt werden, nur hat das auch Konsequenzen für die Versicherungsindustrie.
Eine Publikation der Finanzaufsichtsbehörde aus dem Vereinigten Königreich über die Rolle von Big Data für den Verbraucherfinanzmarkt aus dem Jahr 2016 machte die zunehmende Segmentierung des Markts als Problem aus. Konsequenz ist, dass sich Konsument*innen mit höherem Risikopotential immer weniger bezahlbare Versicherungen leisten können.
Diese Gefahr lässt folgenden Schluss zu: Je mehr an die Vorhersagekraft von Algorithmen geglaubt wird und je mehr Daten so gesammelt werden, desto weniger werden die Marktsegmente. Schließlich bleibt nur noch eines übrig. Ein Versicherungsunternehmen könnte so sehr präzise die Risiken von Individuen einschätzen. Ab einem gewissen Punkt innerhalb eines solchen Prozesses steht die Versicherung vor einer existenziellen Bedrohung: Versicherungen würden nicht mehr auf dem kollektiven Risiko basieren, was eigentlich den Kern von Versicherungen ausmacht. Diese Veränderung in der Funktionsweise der Versicherungswelt ist enorm und betrifft die gesamte Gesellschaft.
Fazit
Obwohl Facebook Vorsichtsmaßnahmen ergreift, ist es dennoch klar, dass Persönlichkeitsprofilierung und die Datennutzung aus sozialen Medien weiterhin eine wachsende Relevanz im Versicherungssektor besitzen. Dies stellt eine Herausforderung dar, die sich weit über die Kosten, die Individuen für Versicherungen tragen, erstreckt und die die Allgemeinheit betrifft. Es stellt sich die Frage, inwieweit so etwas gerecht ist und letztlich, ob es nicht sogar eine Gefahr für die Versicherungsindustrie selbst darstellen könnte.
Soziale Medien für den Finanzdienstleistungssektor zu benutzen, beeinflusst das Verhalten in den sozialen Medien. Das Selbst in sozialen Medien ist zunehmend eines, das bei einem Vorsprechen beim Bankangestellten präsentiert würde: Ein Selbst, das sich mit einem leicht unguten Gefühl in den besten Sonntagskleidern präsentiert und jegliche Kontroversen, Politik oder gar Widerspruch vermeidet. In einer solchen Welt zu leben wäre, ehrlich gesagt, ziemlich uninteressant.
„Ich habe nichts zu verbergen, denn es betrifft nur andere“.
Aussage der Mehrheit und ich wette dies wird sich in andern Worten auch unter diesem Kommentar wiederspiegeln.
Und wenn sich dann auch noch ein paar Cent sparen lassen, dann ist ohnehin bei der breiten Masse das Hirn gänzlich ausgeschaltet. Geiz ist doch so geil!
Der Ansatz ist gerade in der Finanzindustrie falsch. Die müssen um den Preis ihrer Existenz irgendwelche Policen verkaufen. Genauso, wie andere Unternehmen ihre Produkte herstellen und vermarkten müssen. Das geht nur, wenn es möglichst wenige Anbieter des gleichen Produktes, also eine Preisgestaltungsmacht gibt. Mit der sgn. Nullzinspolitik wird allerdings die Pleite der Pleitiers verhindert und so kann es keine Inflation und keine steigenden Zinsen geben. Natürlich auch kein wirkliches Wirtschafts-Wachstum. Wir können gut damit leben, aber gerade die Finanzbranche dürfte mit oder ohne big data erhebliche Probleme haben. Uns trifft das erst später, wenn wir mal Rente oder andere Sozialleistungen von einem bankrotten Staat fordern. Denn der geht durch diese Nullzinspolitik natürlich auch unter.
Der auch von der Bundesregierung angezettelte Datenhype ist Unfug. Die können Daten haben, soviel sie wollen. Die Integrität und Authentizität der Daten ist in so einer „Facebook-“ u.a. sozialen Netzwelt(-blase) grundsätzlich nicht gewährleistet.