Abseits von Kontroversen um Privatsphäre und Sicherheit gibt es globale Auseinandersetzungen zwischen Kontrolle und Freiheit in der digitalen Welt. Oftmals wird angenommen, das Internet ermögliche eine Emanzipation der Nutzer, welche die bestehenden Unterschiede zwischen verschieden Weltregionen reduziert. Die Kommunikation wird immer günstiger und immer mehr Informationen sind für die breite Masse verfügbar. Doch die technischen Entwicklungen und das massenhafte Sammeln und Analysieren von Daten sorgen für Abhängigkeiten ganzer Bevölkerungen und Regionen von in der Regel westlich geprägten Diensten.
Nie zuvor hatte eine einzelne Branche so viel Macht über die gesamte Welt. Dabei lässt sich ein ungleiches Verhältnis zwischen den Entwicklern und Anbietern der entsprechenden Dienste, die meist aus westlichen Industriestaaten stammen, und der weltweiten Nutzerverteilung erkennen.
Beispielweise importiert Nigeria, ein technisch relativ gut entwickeltes Land in Afrika, 90 Prozent der genutzten Software. Während Afrika 14 Prozent der weltweiten Bevölkerung beheimatet und 20 Prozent der weltweiten Landflächen ausmacht, betreffen gerade mal 2,6 Prozent der weltweiten „geotagged“ Wikipedia-Artikel den Kontinent. Zudem stammen 90 Prozent der Anträge zur Registrierung intellektuellen Eigentums in Afrika von auswärtigen Entwicklern.
Die tiefgreifende und exponentielle Ausbreitung von Software führt zur zunehmenden Kontrolle der Gegenwart, Vorhersage der Zukunft und Beeinflussung von Individuen und ganzen Volksgruppen durch eine kleine Gruppe von Unternehmen und somit zu einer digitalen Hegemonie durch diese. Unter dieser Hegemonie reproduzieren sich die globalen Verhältnisse von Wissensproduktion und Wohlstandverteilung. Die Digitalisierung scheint zunehmend zur Konservierung der Nord-Süd-Abhängigkeiten zu führen, anstatt eine Emanzipation von diesen zu herbeizuführen.
Regierungen und Bürgerbewegungen sind gleichermaßen betroffen
Die zunehmende Verbreitung des Zugangs zu globalen Kommunikationsplattformen steht dem Verlust der Möglichkeiten gegenüber, die Rechte dieser Plattform-Nutzer zu schützen oder am Gemeinwohl orientierte Kommunikation zu organisieren. Dieses Spannungsverhältnis wird außerdem von regionaler und globaler Netzpolitik beeinflusst und somit auch direkt zur Angelegenheit von Nationalstaaten. Neben der alltäglichen Kommunikation geht es auch um die Automatisierung von Verwaltungsdienstleistungen und das Vermögen, diese extern zu beeinflussen.
Im Streben nach globaler Dominanz durchdringen die Dienste der gigantischen Internetkonzerne jede Regierung, jeden Bürgerbewegung und jeden Akt der Kommunikation von Personen, die entsprechende Plattformen nutzen. Dadurch entsteht eine neuartige Form globaler Dominanz und Kontrolle, die unter dem Begriff des „Digital Colonialism“ zusammengefasst wird. In dem Talk der vergangenen re:publica wurden die Gefahren von digitalem Kolonialismus und damit einhergehende Befürchtungen diskutiert. Zudem wurden die Möglichkeiten des Auflehnens der Staaten des globalen Südens und entsprechende Strategien zum Etablieren einer nationalen beziehungsweise lokalen digitalen Souveränität angesprochen.
Den Talk gibt es auch als reinen Audio-Mitschnitt zu hören.
Digitale Hegemonie unterbindet Emanzipation des globalen Südens
Die Teilnehmer des Talks kommen aus Brasilien, Kenia und Guatemala und berichten in dem losen Gespräch über verschiedene Aspekte des „Digitalen Kolonialismus“. Zwischendurch wird eine zeitgeschichtliche Entwicklung der Kolonialisierung der Maya-Kultur sowie Formen des Widerstands gegen das Aufzwingen von fremder Kultur und Wissenschaftssystemen mit Hilfe einer Twitter-Timeline präsentiert. Durch diese Art der Darstellung sollen die Parallelen der damaligen Praktiken zu der heutigen technologischen „Unterdrückung“ dargestellt werden. Zudem wird betont, dass sich der Widerstand beziehungsweise das „Hacking“ gegen dominante fremde Einflüsse im Laufe der Geschichte prinzipiell ähneln.
Ein aktuelles Beispiel für das Nutzen fremder Dienste für eigene Belange gibt es in Angola. Dort haben sich Internetnutzer in geheimen Facebook-Gruppen organisiert und Dateien via Wikipedia ausgetauscht.
Der Kapitalismus habe die Emanzipations-Bestrebungen nach der „Dekolonialisierung“ zunichte gemacht und zu einer neuen Art imperialistischen Praxis geführt, wird zu Beginn der Vortrags behauptet. Durch Copyright- und Datenschutz-Bestimmungen würden die neuen Formen des Kolonialismus auch in Staaten außerhalb des globalen Südens gebracht.
Das Verhältnis von Produktion und Konsumtion verschiebt sich zunehmend
Die Software eines Großteil der Menschheit und der Regionen der Welt werden extern designt und somit Wissen und dessen Produkte extern „aufgezwungen“ anstatt eigenständig generiert. „Viele Konzerne entwickeln Technologien für uns, nicht mit uns“, kritisiert die in Nairobi lebende Nanjira Sambuli.
Die Essenz des Internets, ebenso kreieren wie konsumieren zu können, werde zunehmend in Richtung des Konsums gekippt. Es entstünden immer mehr Konsumenten, die Inhalte und Funktionen von immer weniger Produzenten nutzten. Das liege einerseits an der Dominanz der englischen Sprache. Während lediglich 10-15 Prozent der Menschen Englisch sprechen, sind 60 Prozent der Internetinhalte in englischer Sprache gehalten. Andererseits nutzen Menschen in weniger entwickelten Ländern vermehrt Smartphones, um Internetzugang zu erhalten, da sie günstig sind. Doch die Produktion von Inhalten und Software gestaltet sich auf den kleinen Geräten recht schwer, was sie meist zu reinen Konsummitteln macht.
Globale Zensur und Kontrolle durch westlich geprägte Kriterien
Auch die Regulationsbestimmungen von Plattformen wie Facebook, die unter westlich geprägten Vorstellungen von Kultur und Moral entstanden, werden kritisiert. Zensur- und Löschungspraktiken führen zunehmend zur Kontrolle von Ideen und zum Verlust der Freiheit im Internet. Beispielsweise zensiert Facebook das Bild einer indigenen Frau, weil ihre Brüste zu sehen sind, obwohl das in dem entsprechenden Kulturkreis nichts Verwerfliches darstellt.
Durch solche und ähnliche Praktiken werde den Nutzern die Kultur des Silicon Valley, dessen Wertevorstellungen und allgemein neoliberale Paradigma aufgezwungen. Die Redner sprechen von der Entstehung eines „neuen Staats“, einer neuen kolonialen Macht durch Internetkonzerne in Koordination mit den Regierungen der EU und den USA. Diese hegemoniale Macht reicht bis zur Kontrolle von Demokratien durch intransparente Algorithmen.
Das Problem der digitalen Hegemonie wird außerdem durch globale Steuerflucht bestärkt. Während die gewinnbringende Kommunikation, Datenabgabe und der Konsum von Werbung in allen Ländern gleichermaßen stattfindet, zahlen die Internet-Unternehmen selten Steuern in dem Land, in dem auch der Gewinn entsteht.
Lösungsansätze: Kryptographie, Open-Source-Software und dezentrale Netzwerke
Nach all der Negativität kommen gegen Ende der Session auch positive Ansätze zur Sprache. Mit Ende-zu-Ende Verschlüsselung, Open-Source-Software und dezentralen Kommunikationsnetzwerken mit transparenten Algorithmen gebe es durchaus Möglichkeiten, die Abhängigkeitsverhältnisse zu überwinden. Entscheidend sei es, den zukünftigen Generationen die Nutzung dieser Werkzeuge zu vermitteln. Insofern liegt es an der globalen Zivilgesellschaft, die Verhältnisse zu überwinden.
Der 50 minütige Talk ist leider zu kurz, um das komplexe und vielschichtige Thema adäquat zu behandeln. Es wurden auch keine konkreten Lösungsstrategien präsentiert, sondern vielmehr eine Übersicht zu einer Problematik, der wir uns auf der vermeintlichen „Gewinner-Seite“ der digitalen Nord-Süd Verhältnisse oft nicht bewusst sind. Doch die Abhängigkeit von Institutionen, über die wir nicht bestimmen können, prägen auch zunehmend den Alltag in unserer Gesellschaft, wenn auch in geringerem Ausmaß.
Folgendes Zitat aus der Diskussion fasst die beschriebene Problematik zusammen:
The Master’s Tools Will Never Dismantle the Master’s House. They may allow us temporarily to beat him at his own game, but they will never enable us to bring about genuine change.
Weiterführende Informationen zu dem Thema finden sich in dem Artikel Digital Colonialism & the Internet as a tool of Cultural Hegemony.
Das Nord/Süd-Gefälle wird zu einem schon lange prognostiziertem Nord/Süd-Konflikt führen. Unklug wäre es die aktuelle Entwicklung zu ignorieren.
Was jedoch wundert ist, dass es seit Jahrzehnten ein offensichtliches West/Ost-Gefälle gibt, dass auch zu einem West/Ost-Konflikt führen kann. Auf dieser Achse jedoch wird eine mediale Erblindung kultiviert.
All dies, was auf der Nord/Süd-Achse beklagt wird, ist mehr oder weniger auf der West/Ost-Achse erprobt bzw. installiert. Der Hegemon auf dieser Achse sind die USA. Die Abhängigkeiten zu den USA werden immer weiter ausgebaut, auf digitaler Ebene, auf Waren-Ebene und auf politischer Ebene. Europa ist faktisches Kolonialgebiet, auch wenn die Politik andere Narrative bevorzugt.
Vielleicht sollten wir uns zuerst retten, bevor wir uns um andere kümmern. Selbstschutz geht vor. Nur so kann anderen auch geholfen werden.