Brauchen wir überhaupt Regeln für Netzneutralität, wenn es überall gut ausgebautes Breitband mit ausreichender Kapazität gibt? Was passiert, wenn neben dem Best-Effort-Internet, so wie wir es heute kennen, sogenannte Spezialdienste bevorzugt behandelt werden? Und wie lassen sich solche Spezialdienste überhaupt definieren? So lauteten einige der Fragen, die im gestrigen Fachgespräch zum Thema Netzneutralität behandelt wurden.
Eine beachtenswerte These stellte der Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder auf, der alle Angebote als Sonderdienste definiert sehen möchte, die „wohlfahrtsstiftend“ seien. „Also explizit nicht nur Notfalldienste, Sicherheitsdienste, sondern auch Dienste für die Industrie, für Industrie 4.0, oder auch Dienste, zum Beispiel für junge Unternehmen, die Bandbreiten oder spezielle zugesicherte Qualitäten brauchen.“ Zwar bekennt sich der Providerverband dazu, den Netzausbau vorantreiben und weiterhin Best-Effort-Internet anbieten zu wollen, was das Problem weitgehend entschärfen würde, ohne Spezialdienste wäre jedoch so einiges nicht mehr möglich, warnte Rohleder:
„IPTV ist ein solcher Spezialdienst, der in Deutschland ja möglich ist. Aber wenn Sie diesen Dienst verunmöglichen, indem Sie ihn letztlich verbieten durch eine entsprechende Regelung der Netzneutralität, heißt das, dass Sie das Thema IPTV vom Markt nehmen müssen. Und das ist eine Frage, die müssen Sie sich stellen als Politiker, ob Sie IPTV verbieten wollen.“
Selbstverständlich bleibt IPTV trotz Netzneutralität möglich, das weiß auch Rohleder ganz genau. Bitkom bevorzugt aber offensichtlich ein durchkommerzialisiertes Internet, in dem vertikal integrierte Konzerne den Ton angeben und an möglichst vielen Stellen der Wertschöpfungskette abkassieren. Da kommt jedes Argument recht, auch wenn es noch so sehr an den Haaren herbeigezogen ist.
Rohleder bemühte sogar den Umweltschutz, um sich für ungehindertes Netzwerkmanagement stark zu machen. Gegen Netzwerkmanagement hat natürlich niemand etwas einzuwenden, solange es technischen Zielen dient und nicht wirtschaftlichen. Denn wenn man trotz ausreichender Kapazitäten künstlich die Bandbreite beschränkt, lassen sich dadurch entstehende Engpässe monetarisieren, indem man gegen Bezahlung Spezialdienste anbietet. Das ließ Rohleder jedoch nicht gelten und verwies auf die deutschen Kommunikationsnetze, die zwei Prozent der Energie verbrauchten, weil sie permanent, Tag und Nacht, unter Volllast laufen würden. Wir müssten uns fragen, ob wir es unmöglich machen wollen, zu Zeiten von niedriger Last Teile der Infrastruktur herunterzufahren,
„weil wir prinzipielle Bedenken gegen Netzwerkmanagement (…) haben, oder ob wir nicht zu einer neuen Abwägung dieser Rechte, nämlich der Rechte auf Informationzugang und wie sie auch von vielen proklamiert werden, auch von uns, auf den Zugang zum Best-Effort-Internet, abwägen gegen das Recht auf eine gesunde Umwelt, und gegen die Pflicht, den Energieverbrauch in Deutschland zu reduzieren.“
Nicht ganz so weit gehen wollte Wilhelm Eschweiler, Vizepräsident der Bundesnetzagentur, forderte aber ebenfalls ein Nebeneinander von Internetzugängen nach dem Best-Effort-Prinzip und Spezialdiensten. Als Grundvoraussetzung des Internetzugangs sieht er gesellschaftliche Teilhabe, der Ansatz dürfe aber Geschäftsmodelle nicht verhindern. Dieser Spagat sei in den USA gelungen, wo letzte Woche Regeln für Netzneutralität in Kraft getreten sind. Diese verbieten zwar Spezialdienste nicht ausdrücklich, die Regulierungsbehörde FCC nimmt sich allerdings das Recht heraus, solche Angebote auf Fall-zu-Fall-Basis zu überprüfen und gegebenenfalls zu untersagen. Damit will die Behörde verhindern, dass das Internet, wie wir es kennen, aufs Abstellgleis gestellt wird und Spezialdienste nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel darstellen würden. Ähnlich stellte Eschweiler die Position der deutschen Regierung in den Trilog-Verhandlungen dar und bezeichnete den Vorschlag als „weise“.
Aber das Grundproblem bleibt, und darum drehte sich im Kern die gesamte Debatte: Begünstigen Spezialdienste Innovation, oder benachteiligen sie den Markteintritt kleiner, noch unbekannter Start-Ups, die es sich nicht leisten können, anders als etablierte Anbieter für Überholspuren zu bezahlen – wenn es etwa nach der deutschen Telekom geht für „ein paar Prozent Umsatzbeteiligung“. Davor warnten die restlichen Sachverständigen Alexander Sander von Digitale Gesellschaft e.V., Ben Scott von der Stiftung neue Verantwortung sowie Thomas Lohninger von der Initiative für Netzfreiheit. Start-Ups müssten im schlimmsten Fall mit jedem Provider Verhandlungen führen, um ihr Angebot überhaupt an den Mann bringen zu können. Ein segmentierter Markt würde zwangsläufig dazu führen, dass Verknappung zum Geschäftsmodell wird, so Lohninger, und brachte ein Gegenbeispiel aus den Niederlanden, die Netzneutralität gesetzlich verankert haben: Der Provider KPN verdoppelte über Nacht das Transfervolumen für seine Kunden, weil er sein eigenes IPTV-Angebot nicht via Zero Rating anbieten durfte. Weil davon letztlich alle profitiert haben – KPN, die Kunden sowie der Wettbewerb –, zeigt das Beispiel anschaulich, wie hohl die Argumentation der Bitkom ausfällt.
„Wohlfahrtsfördernd“ ist doch volkswirtschaftlich gesprochen alles, was irgendjemand sehen/hören/konsumieren will, oder?
Wenn mir Katzenvideos gefallen und ich mir deshalb Katzenvideos anschaue, dann steigert das meine persönliche Wohlfahrt. Gleiches gilt für uigurische Musik, Games, InstantMessaging, OnlineShopping, Navigation, meine Online-Heizungssteuerung oder was auch immer. Im Endeffekt müsste man dann doch – nach Herrn Rohleder – das gesamte Internet als Spezialdienst anbieten.
Einzige Ausnahme: Dinge, die niemanden (=exakt null Personen) interessieren. Wobei es das wohl kaum geben dürfte.
Sollte man korrigieren: Netzneutralität würde Netzzugangsanbietern IPTV verbieten.
Genau. Netzneutralität verhindert IPTV. Weil es momentan nicht möglich ist, Bewegtbilder in hoher Auflösung durch’s Internet zu jagen. Macht deshalb auch niemand. Vor allem Youtube nicht.
Was für eine dumme Ausrede! Man beachte auch das rhetorische Mittel, mit dem Rohleder die Tatsache, dass IPTV „nicht mehr möglich ist“ in ein Verbot verdrehen möchte, um Netzneutralität als Verbotsmaßnahme zu stigmatisieren. Ganz billige Kiste.
Die Argumentation mit dem Umweltschutz ist Blödsinn, schlicht und einfach deswegen, weil die verwendeten Geräte halt pro transportiertem Byte eine gewisse Menge Energie verbrauchen und die ändert sich natürlich nicht, wenn ich die Bytes umsortiere. Im Gegenteil, dadurch dass Downloads dann länger brauchen verbrauchen die Endgeräte mehr Strom und Router, die mit Spezialanforderungen für Verkehr klarkommen verbrauchen normalerweise mehr Strom.
Hab mal einen Artikel geschrieben dazu, wo ich am Ende auch auf IPTV eingehe:
http://www.krawallursache.de/2015/06/26/netzneutralitaet-was-die-telekom-nicht-verstanden-hat/