Am vergangenen Donnerstag ging in Sao Paulo in Brasilien die NetMundial-Konferenz zur Zukunft der Internet Governance zu Ende. Über den ersten Tag und die Konfliktlinien, sowie den Unterschiedlichen Positionen zum Multistakeholder-Ansatz hatte ich vergangenen Donnerstag schon gebloggt. Ein erstes Statement zum Ausgang findet sich hier.
Heute will ich nochmal den zweiten Tag beschreiben und wie das Abschlußdokument in diesem Multistakeholder-Ansatz zustande kam. Nach vielen Begrüssungsreden fanden am Mittwoch, den ersten Tag, drei Sessions im Plenum statt, wo die vier unterschiedlichen Stakeholder-Communities in zwei Minuten Beiträgen Verbesserungsvorschläge für die Principles und die Roadmap (Die beiden Teile des Abschlußdokuments) vortragen konnten. Im Anschluß fand Abends nach 21 Uhr die erste Drafting-Session in einer Hotelbar statt, die offen war und wo beide Teile an getrennten Tischen unabhängig voneinander diskutiert werden konnten.
Das „High-Level Multistakeholder Committee“ entscheidet
Im Vorfeld der Konferenz wurde dafür die Idee eines „High-Level Multistakeholder Committee“ geschaffen.
Dieses bestand aus 27 Vertretern, davon zwölf von Staaten, die auch Co-Hosts waren, zwölf von den Stakeholdern Civil Society, Technical Community, Academia und Business (Jeweils drei), dazu die EU-Kommission und die beiden UN-Organisationen DESA und ITU. Die Stakeholder-Communities konnten Vorschläge für Teilnehmer aus ihren Reihen machen, die dann in einem intransparenten Verfahren von der brasilianischen Regierung ausgewählt wurden. Die Teilnehmer des HLMC sassen also an zwei runden Tischen mit jeweils einem Beamer vor sich in einer Hotelbar, zu der aber alle Zugang hatten, und sollten auf Basis deszuvor erstellten Diskussionspapieres Verbesserungen aus Onlinekonultation und Plenum miteinander verhandeln. Das ging erstmal Nachts bis 1 oder 2 und am Donnerstag Morgen gegen 10 Uhr weiter. Parallel gab es am Donnerstag nochmal zwei Sessions in Plenum, wo man Verbesserungsvorschläge machen konnte, was aber etwas Gaga war. Denn es gab nicht den in der Nacht zuvor verhandelten Stand zu sehen und vor allem fing das Drafting-Commitee parallel in der Bar wieder an, miteinander zu verhandeln. Bis um 17 Uhr hatte man sich dann auf ein gemeinsames Papier geeinigt, was dann in die letzte Runde des „High-Level Multistakeholder Committee“ ging.
Besser als das Abschlußdokument: Das vermeintlich fertig ausgehandelte Dokument.
Stand zu dieser Zeit: Es gab einen starken Satz zu Massenüberwachung, der zu dem Zeitpunkt als Kompromiss stehen geblieben ist, bei Netzneutralität war keine Einigung möglich und so sollte die Debatte vertagt werden (u.a. dank USA, EU und Business) und bei Providerhaftung gab es eine Okaye Version. In der letzten HLMC-Session sassen dann alle 27 Teilnehmer an im Hufeisen an Tischen zusammen und diskutierten den Text nochmal zusammen, der auf einem Beamer an die Wand geworfen wurde. Alle anderen im Raum standen drum herum und hörten zu. Dabei zeigten sich dann diverse Schwächen des Ansatzes. Die Sitzung begann schon unter Zeitdruck, eigentlich sollte die Abschlußsession im Plenum beginnen, alles war bereits in Kleingruppen ausverhandelt, aber dann kamen die Sonderwünsche.
Vergesst den Zwischenstand, jetzt gehts nochmal los.
Brasilien wollte erstmal wieder Netzneutralität rein haben und drohte mit Abbruch. Die USA wollten den Satz zu Massenüberwachung wieder raushaben und drohten mit Abbruch. Indien fand das alles nicht so toll. Und Business wollte in Form von Hollywood (MPAA, Disney & Co) zusammen mit der US-Regierung den Teil zu Providerhaftung geändert haben. Das führte dann dazu, dass Providerhaftung erstmal wie Netzneutralitäöt verlagert werden sollte. Dann war ich irgendwann kurz draußen was zu trinken holen und als ich wieder reinkam, war Providerhaftung verändert wieder drin. Aber leider mit ACTA-Text, weil die USA sonst drohten, alles abzubrechen. Zwischendurch war beinahe alles am Scheitern, was sicherlich auch im Sinne einzelner Vertreter war, aber letztendlich wurde sich nach 2-3 Stunden Verhandlung von allen Teilnehmern des HLMC dann auf einen Text geinigt, der aus unserer Sicht einige entscheidene Fehler hatte, aber wiederum andere Gewinne bedeutete.
Positiv war:
Man konnte an allen Drafting-Sessions teilnehmen und den Prozess beobachten. Dieser war transparent und die Verhandlungen waren spannend. Sowas findet in der Regel hinter verschlossenen Türen statt und man bekommt nichts mit. Twitter war vor allem bei der letzten HLMC-Runde das bevorzugte Medium aller rund 80 Leute im Raum, wo in Echtzeit aktuelle Sachen kommuniziert wurden oder man anhand von Fotos den Diskussionstand einzelner Paragraphen des Abschlußtextes sehen konnte.
Negativ war:
Es gab kein Git oder Versionskontrolle. Es gab immer nur den Abschnitt des Textes zu sehen, der gerade verhandelt wurde. Den Rest musste man sich durch Fotos zeigen lassen, wo aber manchmal auch unklar war, welcher Stand das jetzt war und ob das immer noch aktuell ist.
Zum Schluß gab es Zeitdruck und einzelne Staaten wie die US-Regierung haben damit gespielt, einfach mal das ganze Experiment beenden zu können, indem sie sich verweigern und ihre Positionen durchsetzen. Es war mir nicht ganz klar, ob von Seiten der Zivilgesellschaft taktische Erwägungen ausreichend diskutiert wurden, wie man mit dieser Situation umgeht. Das war ja alles neu.
Es ging alles zu schnell. Für die Verhandlungen, das Drafting selbst, blieben weniger als 24 Stunden. Mehr Zeit hätte vielleicht bessere Kompromisse gebracht.
Staaten und einzelne Stakeholder wie Business verfügten über weitaus mehr Verhandlungserfahrung in solchen Runden und kennen auch alle Tricks (z.B. aus internationalen Handelsverträgen), um auch Machtspiele spielen zu können. Hier fehlte vor allem der Zivilgesellschaft und Wissenschaft die dafür notwendige Expertise und vielleicht auch Skrupellosigkeit, um dagegen halten zu können.
Der Zivilgesellschaft und Academia fehlten zum Schluß Juristen mit Menschenrechtskenntnissen, die sofort erkennen könnten, welche Bedeutung irgendwelche Begrifflichkeiten haben und welche Referenzen es in internationalen Papieren schon gibt, auf die man aufbauen kann.
Über den Ausgang der Verhandlungen gibt es unterschiedlichste Ansichten aus unterschiedlichen Perspektiven.
Der Multistakehodler-Ansatz:
Befürworter eines Multistakeholder-Ansatzes loben den experimentiellen Charakter und dass letztendlich ein Abschlußdokument zustande kam. Das sei ein erster Schritt in die richtige Richtung. Gegner dieses Ansatzes sehen sich in ihren Ansichten bestärkt, dass dabei nichts vernünftiges rauskommen kann. Ich tendiere mit meiner Meinung zu einer Mittelposition. Mir fehlt eine vernünftige Alternative, denn in diesem Fall Internet Governance heißt die Alternative ITU, verschlossene Türen und wo die Zivilgesellschaft am Zaun steht (Wenn sie es sich überhaupt leisten kann, zu den drei Wochen langen Treffen anzureisen). Aber so, wie in Brasilien, sollte ein zukünftiger Multistakeholder-Ansatz nicht ablaufen, da gibt es viel Verbesserungspotential.
Es war immer noch recht intransparent, wer wie ins HLMC gekommen ist, es gab zuviel Zeitdruck, Zivilgesellschaft war eher schlecht vertreten und dazu noch teilweise unerfahren (ist ja auch eine Ressourcenfrage und in solchen internationalen Prozessen hab ich auch wenig Erfahrung) und das Drafting geht auch noch offener, z.B. durch Versionskontrollen und nicht nur dem Bearbeiten an einem einzelnen Rechner und Beamer.
Das Abschlußdokument ist durchwachsen, aber wie Robin Gross auf IPJustice schreibt, hat auch die Zivilgesellschaft Gewinne erzielt: A Civil Society Perspective on NETmundial 2014 Final Outcome Document: A Remarkable Achievement, Despite Losses to Hollywood & Govts Over Specific Language on Most Controversial Issues.
Julia Powles sieht bei Wired.uk als Gewinner: Big business was the winner at NETmundial.
Lesenswert ist auch The Register: Tales from the Internet World Cup: ICANN tell nothing will change.
Monika Ermert schreibt in der Internet Policy Review: World internet cup in Brazil – a review.
Stefania Milan: NETmundial: Is there a new guard of civil society coming to the internet governance fore?
Ich habe immer noch nicht verstanden, was dieses Abschlußdokument überhaupt soll. Aber eins ist mir klar: nichts besonderes! Warum? Den beteiligten Gruppen, insbesonders den staatlichen und industirellen, fehlt es bei weitem an Idealismus, Altruismus und die Fähigkeit, über den eigenen Schatten zu springen. So zumindest kommt nie eine Magna Carta, eine Bill of Rights oder 95 Thesen zustande.
Klaus