Auf dem Frankfurter Tag des Online-Journalismus hab ich gestern über „Alles offen – Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kennen“ gesprochen. Dabei ging es um Ansprüche an einen neuen Journalismus aus Nutzersicht. Die Vorträge der Tagung, u.a. von Kathrin Passig, Jan Schmidt, Richard Gutjahr, Klaus Raab und Dirk von Gehlen, gibt es hier zum Nachschauen. Hier sind meine Punkte, die selbstverständlich vollkommen subjektiv sind:
1. Fragt Eure Leser und hört ihnen zu
2. Die Inhalte sollen auch gelesen, geschaut oder gehört werden können? Dann packt die Dateien auch zum herunterladen hinzu.
3, Macht mehr Inhalte zum Einbinden in Blogs und anderen sozialen Medien
4. Alle Inhalte auch in Formaten der Wahl. Offene Standards gewinnen.
5. Ladenöffnungszeiten bei Kommentaren sind bequem aber uncool
6. Korrekturen schaden nicht, aber bitte offen und transparent
7. Mehr Quellen-Transparenz
8. Eine Story kann auch erst der Anfang sein. Die Leser können sie mit weiter entwickeln.
9. Inhalte des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk weitgehend unter Offene Lizenzen stellen, wir haben dafür bezahlt!
10. Im Internet ist noch genug Platz – Schluß mit dem Depublizieren.
11. Mehr kuratieren, verlinkt auf gute Angebote im Netz, werdet Wegweiser
12. Gute Leserbeiträge hervorheben
13. Nutzer wollen Mediatheken-Software. Schonmal aus der Bahn auf die Mediathek zugegriffen?
14. Filter individualisieren – Wo ist der Fußball-Filter?
15. Warum nicht mehr Full-RSS? (Von mir aus auch mit Werbung)
16. Journalismus braucht Haltung – Mehr Mut zur Meinung
17. Hört mehr auf die jungen Journalisten in Euren Häusern, die gute und kreative Ideen haben und lasst sie experimentieren
Alles sehr sinnvolle Regeln, so eine Zusammenfassung wollte ich schon immer mal sehen!
Nr. 5 und Nr. 12 sind mir aber noch nicht ganz klar:
Auf welchen Webseiten gibt es denn Öffnungszeiten?
Und inwiefern sollten Leserbeiträge hervorgehoben werden? Vom Betreiber oder anderen Lesern?
Lg Dario
@Dario: z.B. bei sueddeutsche.de gibt es (noch) Ladenöffnungszeiten. Das betrifft dann vor allem immer diejenigen, die nicht tagsüber kommentieren können. Gute Leserbeiträge sollten natürlich vom Betreiber hervorgehoben werden, bzw. warum nicht auch über soziale Mechanismen durch andere Leser? Auf jeden Fall meinte ich damit, dass man die Nutzerbeiträge nicht nur im Kommentarkeller liegen lassen sollte, zumindest nicht die guten Beiträge. Erhöht die Qualität und ermuntert die Leser.
Okay, vom Betreiber hervorgehobene Beiträge sehe ich ein, aber sowas wie Daumen hoch/runter á la Youtube führt meiner Erfahrung zu nichts gutes…
Kann im Grunde allem zustimmen, jedoch braucht es zuvörderst eine Rückbesinnung des sogenannten Qualitätsjournalismus auf ebendiesen. Wenn ich mir in Neoliberalen-Stammtischen wie dem „Presseclub“ zum x-ten Mal anhören muß, wie die Geladenen in der ersten Person Plural beständig davon reden, wie „wir“ von der Krise profitiert haben, indem „wir“ die Agenda 2010 beschlossen haben, aber, weil „wir“ trotzdem noch über „unsere“ Verhältnisse gelebt haben, den „Gürten“ werden „enger schnallen“ müssen, und keiner (wirklich keiner, auch nicht der Moderator) einlenkt, wenn das „Jobwunder“ mit Aussicht auf „Vollbeschäftigung“ runtergebetet wird (unser täglich Arbeitslosenzahlen-Tiefstand gib uns heute) – dann ist meine erste Forderung: MEHR KRITISCHE DISTANZ. Vor allem: MEHR POLITISCHE BILDUNG.
Die gesamten Wahl-, aber auch viele Talkshowsendungen (Illner und co.) sind größtenteils apolitische Simulationsgebilde, die sich erschöpfen in boulevardistischem Pausenhof-Geschwätz über Wer-mit-wem, Farbkombinationen, personelle „Machtkämpfe“, „Putsch“versuche, Kanzlerkandidaten, Koalitionsbrüche und so weiter. Wenn eine von der Leyen von der geschaffenen Transparenz beim Hartz-IV-Regelsatz spricht, sich mit einem geladenen „Experten“ irgendwelche nicht überprüfbare Zahlen (auch nicht auf den Internetseiten des Ministeriums) zuwirft, erwarte ich von – in dem Fall war es Illner – daß sie einen Termin über eine Sendung ausmacht, in der Frau Ministerin an einer Flipchart die Transparenz unter Beweis stellt. Mit anschließender Diskussion, die DANN auch eine Grundlage hätte, die jedem einsichtig gemacht worden wäre.
Was ich auch erwarte: Wenn ein Precht lediglich als Volksphilosoph und Autor vorgestellt, seine Tätigkeit bei der INSM aber verschwiegen wird, welche UNBEDINGT erwähnt gehört, wenn jemand seine Forderungen nach einem sozialen Arbeitsjahr für Rentner propagiert, unterstelle ich – berechtigt oder nicht – dem Moderator der Sendung wahlweise Täuschungsabsichten oder äußerst schlampiges Arbeiten.
Auch ach so liebevoll inszenierte Soaps wie „Merkozy“ oder der Vergleich der Lebensgefährtinnen von altem und neuem französischen Präsidenten können meinetwegen von Frauke Ludowig, in den RTL2-„News“ oder im SAT.1-Frühstücksfernsehen nach Lust und Laune besprochen werden, aber nicht dort wo ich beispielsweise mal eine INHALTLICHE Auseinandersetzung mit dem ESM-Vertrag erwarte. Den Politsprech von „Stabilität“, „Rettung“ u.ä. ohne jeden Hinweis auf die Brisanz des Vertragstextes erwarte ich von Seibert auf dem Pressesprecherstuhl, nicht aber auf dem in „heute“ und co.
Wenn Schäuble auf einem Bankenkongreß(!) die bis vor kurzem noch als Verschwörungstheorie abgetane fehlende oder eklatant defizitäre Souveränität der Bundesrepublik seit Kriegsende quasi im Vorbeigehen ausspricht und auch zukünftig so recht nichts mit völkerrechtsverbindlichen Verträgen anzufangen wissen will, dann erwarte ich HIER den öffentlich gemachten Skandal statt einen ARD-Brennpunkt über Ballacks Wade oder Beitrag um Beitrag über die Bezeichnung der Kanzlerin als Amphibium.
Dies mein Rant für heute.
Was mir an der Diskussion fehll: Wer bezahlt Journalisten, die sehr bewusst und stur nicht von Werbung abhängig sein wollen? Es gibt viele davon, viele Gute, viele engagierte. Ohne einen Urheberrechtsschutz können sie ihre Artikel gar nicht erstellen, weil sie dann keine Einnahmen erzielen. Man kann viel über Reichweiten schreiben, über zu veröffentlichende Daten. Aber nicht darüber nachzudenken, wer die Recherchen für die Daten bezahlt, das ist zu kurz gedacht. Bei uns sitzt ein Redakteur teilweise eine Woche an wenigen Seiten. Wie soll seine Arbeit finanziert werden? Bisher dadurch, dass die Leser bei uns ein Jahresabonnement abschließen. Streuen wir unsere Infos kostenlos durchs Netz, dann haben wir nach einiger Zeit keine Abos mehr. Und dann gibt es unsere Infos eben nicht mehr. Punkt.
Bis auf 16: dáccord.
Ich bin allerdings eher der Meinung, dass wir weniger die Meinungsartikel en masse bräuchten, sondern mehr auch Mut zur reinen Darstellung, ohne dass gleich dem Leser appetitlich serviert wird, wie die Meinung dazu ist.
Ein „xy hat das und das getan, dabei hat er xy wiederholt“ ist mir lieber als ein „dass xy überhaupt die Chance hatte, dies zum xten Mal zu wiederholen ist ein Affront gegen blubb“.
Es gibt ja schon so viel Meinungsartikel, dass reine Infoartikel, die dem Leser überlassen, wohin die Meinungsreise geht, kaum mehr zu finden sind.
@#2: Alex, großartig. ich erst so tl;dr – alerdings ist dein post große medienkritik auf engstem raum, qualität und prägnanz. die essenz deiner kritik gelebt.
allerdings möchte ich das ergänzen: wenn die bildzeitung meinetwegen nur aus sicht eines idioten den esm beleuchtet (pleite..), weil sie ihren lesern zuhören (quasi die o.g. regeln befolgen!), dann ist wichtig, die qualitätsmedien als qualitätsuser auch wieder auf ihre augabe hinzuweisen. wie oft schreibst du z.b. ener zeitung, dass ihr reationeller anteil am artikel bestenfalls gefährlich ist? klar müssen die zuhören, wieder qualität liefern, aber wir müssen es auch fordern. insofern ist der ansatz von markus der einzig logische im sinne unserer („wir“) optionen. zumindest meiner.
danke für deinen rant in jedem fall!
Danke und Zustimmung. Kritik muß dann aber, wenn schon nicht durch- (siehe etwa oft im Tagesschau-Forum), dann wenigstens ERKENNBAR ankommen. Entindividualisierte Standardschreiben à la „Vielen Dank für … nehmen Ihre Kritik ernst … hoffen Sie auch weiterhin als Zuschauer …“, erweisen sich leider nur allzu oft als wirkungsloses Placebo.
So muß ein Herr Jauch auch akzeptieren WOLLEN, daß er in der ARD nicht mehr „stern TV“, sondern eine als politisch ausgewiesene Talkshow moderiert. Dort (RTL): Samuel Koch, hier (ARD): politische Brisanz. Selbst Anne Will hatte und hat da noch mehr Biß, relativ gesehen. De facto gleicht aber auch schon der dem eines Prothesenträgers auf ein aufgeweichtes Brötchen.
Ich erwarte ja schon gar nicht den ganz großen Wurf, jetzt, sofort, aber wenn ich als Einstimmung zu einer angeblich politischen Sendung mit einem Einspieler konfrontiert werde, angereichert mit Clownsmusik, dem für all die vielen Scripted-Reality-Formate so typischen ironisch-süffisanten Off-Kommentar, irrelevanten Straßenumfragen, klamaukartig zusammengeschnittenen Statement-Schnipseln (gern auch in Wiederholung) etc., vergeht mir schon alles. Da reibe ich mir die Augen und frage, ob ich nicht bei „Oops! Die Pannenshow“ gelandet bin. Als politisch interessierter Bürger sehe ich weder mich noch das vorgeblich Diskutierte ernst genommen.
Hier könnte man beispielsweise und ganz konkret anfangen. Insgesamt: Themen und Inhalte in den Vordergrund, Personen und Persönliches in den Hintergrund. Nachhakende Moderatoren. Konfrontation. Nicht ständig abwürgen, weil unbedingt der vorbereitete Einspieler JETZT kommen muß (vor allem Plasberg betreibt das exzessiv). Journalisten, die nicht im „Wir“ sprechen, als säßen sie wöchentlich am Kabinettstisch. Vielleicht auch mal WENIGER Gäste, statt fünf oder sechs plus zwei weitere im Publikum. Bei sechzig Minuten Sendezeit KANN daraus keine ernsthafte Diskussion erwachsen.
Die neuen Möglichkeiten von Mediathek und co. erlaubten es grundsätzlich auch, vielleicht mal eine Viertelstunde dranzuhängen, wenn schon im TV Platz gemacht werden muß. Die auch in diesen Sendungen mantraartig von jedem so dringend abgeforderte Flexibilität fehlt völlig.
Die begrenzte Sendezeit nutzen statt zu verplempern damit, daß das Publikum auf irgendeinen Hot Button drückt, der dann an die Leinwand Charts mit Nullkommanix-Aussagekraft wirft.
Manchmal warte ich ungeduldig, schon halb elf, wann Zirkuspferde und Artisten in das Rund des Gasometers gelassen werden. Und dann besinne ich mich. Und stelle fest: Nicht „Stars in der Manege“, auch nicht „Das wunderbare Quiz der Tiere“. Wieder nur Jauch, wieder nichts gelernt.
blablablabla
die meisten Punkte unterschreibe ich, auch wenn ich sie vielleicht ein bisschen anders sortiert hätte, in konzeptionelle und technische Anforderungen. Vieles dreht sich ja um die Frage, dass Journalisten Dialog-Fähigkeiten entwickeln müssen.
Ich persönlich halte das „den richtigen Inhalt im richtigen Kontext“ für eminent wichtig, wie es auch Dirk von Gehlen angesprochen hatte. In vielen Medienhäusern wird Multimedia um Multimedia willen gemacht (oder benutzt wie beim Berliner Flughafencheck des RBB, wo die Reporterin Filmeinspieler ständig über das iPad startete). Erst überlegen, welche Geschichte will ich erzählen und dann entscheiden, welche Aufbereitung sich dafür anbietet.
das depublizieren hat bei mir nur dazu geführt, dass ich mir eine automatisierte lösung für meine bevorzugten angebote gebaut habe, um die paar angebote, die über itunes nicht in meinen speicher wandern, nicht täglich händisch herunterzuladen.
über die mediathek der anstalten könnte ich bei einer woche speicherfrist meinen konsum öffentlich-rechtlicher medien überhaupt nicht schaffen.
das „depublizieren“ nervt also zwar, hat aber letztlich bei mir nicht die gewünschte wirkung gehabt. und ein paar curl-optionen habe ich in den zusammenhang auch noch lernen können.
.~.
Danke!
Inhaltlich eine super Liste!
Und durch die Kürze auch sehr übersichtlich!
Einzige kleine Kritikpunkte von mir wären: Warum bleiben diese Punkte noch ein bisschen eingeschränkt bzw. zurückhaltend?
5. Ladenöffnungszeiten bei Kommentaren sind bequem aber uncool
–> Vorab-Moderation bei Kommentaren ist generell uncool. Alle (ohne Hyperlinks) erstmal sofort freischalten. Der Guardian macht das glaube ich laut seiner Policy im Normalfall so.
9. Inhalte des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk weitgehend unter Offene Lizenzen stellen, wir haben dafür bezahlt!
–> Warum nur weitgehend = nur fast alle? Sollte nicht alles des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks wie Public Domain werden?
11. Mehr kuratieren, verlinkt auf gute Angebote im Netz, werdet Wegweiser
–> Ergänzung: Fairerweise auf *alle* Quellen, auch von „kleinen“ Bloggern/Twitteren/Menschen im Netz direkt verlinken. Nie mehr die nur die lückenhafte Angabe: „Quelle: Youtube“.
Sorry für die radikalen Forderungen ;)
@@thecitizen_de: zu Punkt 9: Nicht alle Inhalte kommen direkt vom ÖR, oftmals kommen sie von Dienstleistern oder gar Nachrichtenagenturen. Das macht das frei lizenzieren komplizierter, weil vor allem sehr viel teurer. Deshalb bevorzuge ich die Formulierung „weitgehend“, damit meine ich alle selbst produzierten Beiträge.
Im Grunde kann ich das unterm Strich alles unterschreiben.
Das kann zu einem neuen Qualitätsjournalismus führen.
Aber: Ich gebe Alex recht. Wenn wir Qualitätsjournalismus wollen, müssen wir auch breit sein, dafür etwas zu bezahlen.
Denn keiner stellt seine Arbeitskraft für „Umsonst“ zur Verfügung.
Heute ist es doch leider so, und das berichten mir viele Journalisten, dass ein Job als Pressesprecher in einem Unternehmen mehr Kohle bringt, als bei einer Zeitung! (Chefredakteure und/oder Redaktionsleiter/in mal ausgeschlossen)
Gibt es eigentlich verlässliche Zahlen, in welchen Rahmen Verlage mit ihren Online Auftritten Geld verdienen?