In Brüssel spitzt sich diesen Herbst die Diskussion über die Zukunft der europäischen Innen- und Justizpolitik zu. Während die Innenminister im Rat immer weitere Befugnisse wollen, regt sich im Parlament mittlerweile Widerstand gegen eine Europäische Überwachungsunion.
Aufrüstung der Inneren Sicherheit in 5-Jahres-Schritten
Die Europäische Union macht seit 1999 immer fünf-Jahres-Pläne für den Bereich der Polizei- und Justiz-Zusammenarbeit. Daraus werden dann Aktionsprogramme entwickelt, die in konkreten Richtlinien und Projekten münden. In den letzten Jahren gehörten dazu unter anderem die Vorratsdatenspeicherung, die EURODAC-Datenbank mit Fingerabdrücken von Asylbewerbern, das Schengen-Informationssystem II, die biometrischen Reisepässe und ähnliche Projekte. Das derzeit geltende „Haager Programm“ läuft Ende des Jahres aus.
Ab 2010 soll dann bis 2014 das „Stockholm-Programm“ gelten, das derzeit von der schwedischen Präsidentschaft mit den anderen Regierungen verhandelt wird. Die Kommission hat im Juni eine Vorlage dafür gemacht, und die Vorarbeiten liefen im Rahmen der berüchtigten „Future Group“, einer informellen Arbeitsgruppe der Innenminister, die Wolfgang Schäuble unter der deutschen Ratspräsidentschaft eingerichtet hatte. Endgültig verabschiedet werden soll das Stockholm-Programm auf dem EU-Gipfeltreffen Anfang Dezember in Brüssel.
Auf dem Weg zur Europäischen Überwachungsunion?
Neben einigen sinnvollen Ideen wie einer besseren Harmonisierung des europäischen Familienrechts besteht das Stockholm-Programm derzeit aus einem Sammelsurium von Überwachung und Grenzabschottung. Auf den ersten Blick wird zwar betont, dass der Bürger und seine Rechte im Zentrum der Erwägungen stehen müssen, aber bei genauerem Hinsehen merkt man schnell, dass er vor allem in Zentrum der Überwachung stehen soll.
Während das Haager Programm das „Prinzip der Verfügbarkeit“ einführte, nach dem den Strafverfolgern in ganz Europa die Daten ihrer Kollegen grundsätzlich verfügbar gemacht werden sollen, geht man nun einen Schritt weiter zum „Prinzip des Zugriffs“. Damit soll der Zugriff in Teilen automatisiert geschehen, und viele Datenbanken, die ursprünglich für ganz andere Zwecke aufgebaut wurden (Asylanträge, Visa und Reisen, Zollkooperation und anderes), sollen für EUROPOL und die nationalen Polizeibehörden offenstehen. Auch im Zuge der SWIFT-Verhandlungen mit den USA wird derzeit hinter verschlossenen Türen diskutiert, ob die EU nicht auch selber sämtliche Banküberweisungen in Europa überwachen und auswerten soll. Für all das sollen auch gemeinsame IT-Standards entwickelt werden, damit die Rasterfahndung und der automatische Abgleich noch ungebremster von statten gehen können. EUROPOL soll zu einer zentralen Informationssammel- und auswertebehörde ausgebaut werden. Auch mit Drittstaaten soll Europol Abkommen schließen können, die den Austausch personenbezogener Daten beinhalten.
Eine Reihe der im Entwurf der Kommission noch grob skizzierten Maßnahmen ist bereits vor der Verabschiedung des Stockholm-Programms in konkrete Gesetzgebungsvorschläge übersetzt worden und wird derzeit schon in Brüssel verhandelt. Dazu gehört unter anderem die IT-Agentur für den Betrieb der ganzen Datenhalden, der Zugriff von EUROPOL auf diverse andere Datenbanken wie die EURODAC-Fingerabdrücke oder die Zolldaten, der Datenaustausch zwischen EUROPOL und mit Drittstaaten (die aktuelle Liste umfasst neben der Schweiz, Norwegen, den USA und Kanada auch Länder wie Marokko, Kolumbien, Russland oder China!) und einiges mehr. Die Sperrung von Webseiten, die Kinderpornografie enthalten, ist auch bereits in der Mache.
Warum diese Eile? Warum wartet man nicht, bis im Dezember die Staats- und Regierungschefs der EU das Stockholm-Programm endgültig abgesegnet haben und dann in Ruhe ein Aktionsprogramm daraus entwickelt wurde? Diese Eile liegt am Lissabon-Vertrag, dessen baldiges Inkrafttreten mit dem irischen „ja“ vor einer Woche so gut wie sicher ist und für Anfang 2010 erwartet wird. Dann nämlich hat das Europäische Parlament endlich auch ein Veto-Recht im Bereich Justiz- und Polizeizusammenarbeit. Dieser Bereich war bisher den Regierungen vorbehalten, das Parlament wurde nur konsultiert.
Welches Europa wollen wir?
Die Europa-Abgeordneten sind traditionell etwas bürgerrechtsfreundlicher als der Rat der Regierungen, weil in letzterem vor allem die Innenminister den Ton angeben. Und sie sind im Vorgriff auf den Lissabon-Vertrag deutlich selbstbewusster geworden und verlangen schon jetzt Mitspracherechte oder ein Vertagen der Überwachungsvorhaben, bis das Parlament mit darüber bestimmen darf. Die Debatten im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) seit der Sommerpause über die oben genannten Vorhaben zeigen bereits, dass eine wachsende Zahl der Abgeordneten ein deutliches Unbehagen gegenüber noch mehr Überwachung und Datensammlung verspürt. Dies gilt übrigens nicht nur für die Grünen oder Liberalen, sondern man hört skeptische Stimmen auch von Sozialdemokraten und sogar Konservativen.
Die Vorsitzenden der Ausschüsse für bürgerliche Freiheiten, für Recht und für Verfassungsangelegenheiten haben diese Woche nun den Entwurf einer Resolution des Europaparlaments zum Stockholm-Programm vorgelegt, der am Donnerstag gemeinsam mit Vertretern der nationalen Parlamente diskutiert wurde. Der Text ist etwas weniger überwachungsfreundlich als der Entwurf aus der Kommission, hat aber immer noch merkwürdige Stellen drin. So wird immer noch davon geredet, dass Sicherheit und Freiheit „ausbalanciert“ werden sollten – als gäbe es keinen Kernbereich von Grundrechten, die solchen Abwägungen nicht zugänglich sein dürfen, und als würde Sicherheit immer notwendigerweise mit Freiheitsbeschränkungen hegergestellt werden müssen. Viele Abgeordnete haben daher auch Änderungsanträge angekündigt.
Hier wird sich in den nächsten Wochen daher die Diskussion über die Frage zuspitzen, die bereits durch die ganzen Einzelmaßnahmen in der Luft liegt: Welches Europa wollen wir? Eines von Überwachung und Misstrauen, von Generalverdacht und flächendeckender Speicherung und Auswertung harmloser und legaler Aktivitäten, eines in dem die Sicherheitsbehörden immer mehr Wissen und damit Macht bekommen? Oder ein Europa, das die Bürger- und Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt, Grundrechtsbeschränkungen nur im Einzelfall nach richterlicher Überprüfung erlaubt, und generell von Offenheit und Vertrauen gekennzeichnet ist?
NGOs und Aktivisten mischen sich ein
Dass diese Debatte von großer Bedeutung ist, sieht man auch daran, wie sich die Zivilgesellschaft hier einmischt. Während beim Haager Programm vor fünf Jahren nur ganz wenige Expertenvereine Stellungnahmen eingereicht haben, wird man beim Stockholm-Programm förmlich erschlagen von Hintergrundpapieren, Kommentaren und anderen Interventionen. Von amnesty international über die Europäische Menschenrechtsliga und diverse Flüchtlingsverbände, den Deutschen Anwaltverein, die britische Rechtsvereinigung, bis hin zum Deutschen Industrie- und Handelskammertag findet man teils knappe und zugespitzte Kommentare, teils längere Hintergrundpapiere. Auch diverse nationale Parlamente, der Europäische Datenschutzbeauftragte und die EU-Grundrechteagentur haben sich zum Thema geäußert. Überwiegend gehen die Dokumente in Richtung „mehr Rechtsstaat, weniger Überwachung“. (Update: Auf Telepolis gab es vor ein paar Wochen einen Artikel dazu, der u.a. die wichtigsten Stellungnahmen kurz zusammenfasst.)
Auch Aktivistengruppen aus dem Antirepressions- und Flüchtlingsbereich haben sich mit dem Stockholm-Programm intensiv befasst. Gipfelsoli macht seit ungefähr einem Jahr eine Kampagne dazu, das internationale „No-Border“-Camp in Lesbos im August hat zu den Grenzabschottungs-Aspekten (die hier nicht so ausführlich behandelt werden konnten) intensiv gearbeitet, und seit kurzem gibt es ja die Kampagne „Reclaim your Data!“ zu den EU-Datenbanken, zu der netzpolitik.org auch mit aufruft (ein Bericht von der Auftaktveranstaltung am 1. Oktober ist hier). Für den EU-Gipfel zur Verabschiedung des Stockholm-Programmes im Dezember in Brüssel werden bereits Protestaktionen geplant.
Langsam tut sich also die Bürgerrechtsbewegung auch auf europäischer Ebene zusammen. Projektbezogen gibt es das zwar immer mal wieder, aber was noch fehlt, sind festere Strukturen der Zusammenarbeit, die auch kontinuierlich mit Leben gefüllt werden. EDRi oder ECLN haben zwar eine Reihe von Mitgliedern, aber viel mehr als ein Austausch über die einzelnen Aktivitäten auf den nationalen Ebenen läuft da auch noch nicht wirklich (bei EDRi könnte sich das ändern, seit dort wieder jemand in Brüssel fest angestellt ist). Und eine Wissensdatenbank wäre schön, etwa in Form eines Wikis. Statewatch.org sammelt zwar (auf der „unübersichtlichsten Website der Welt“, so Matthias von Gipfelsoli auf der SIGINT) ganz viele offizielle Dokumente zu diesem Bereich, aber es gibt z.B. noch keinen wirklich guten Überblick der gesamten Aktivitäten von Bürgerrechtlern und Aktivisten oder eine Materialsammlung.
Ideen und Energie, etwa hier in den Kommentaren, sind daher sehr gern gesehen. Wer sich regelmäßig informieren will, kann auch das EDRi-Gram bestellen.
Alle schreiben viel, aber keiner liest es oder weiß, worum es geht. Es ist ja klar, dass linke Gruppierungen dieses neue Programm zum förmlichen Anlass für Auseinandersetzungen mit den Regierungen nutzen werden und agitieren. Es wundert auch kaum, dass auf den Fall der Grenzen im Inneren eine Verstärkung der Koordination der Außengrenzen folgen wird. Dafür wird eine Verwaltungsbehörde in Polen geschaffen.
Aber jenseits der Polemik zeigen sich alle Kreise extrem wenig informiert. Abgeordnete halten dann leicht gefühlige Reden, die wenig mit dem Text zu tun haben, oder wie bei Dir: „Welches Europa wollen wir? Eines mit Überwachung und Tötung von Babies? Oder ein Europa, wo alle Händchen halten.“
„Welches Europa wollen wir?“
Eins mit einzelnen souveränen Staaten, die nich Teil der EU-Diktatur sind.
Sprich EU wieder abschaffen.
@Mulder: Dass wir uns in einer EU-Diktatur befinden wäre mir neu.
@Mulder: Scheiss auf deinen Nationalismus.
Hallo
bevor ich bei den Piraten was mache, will ich erst mal mehr Infos haben. Ich hoffe das es keine Spass ist. Damit macht man kein Spass.
Bis dann
LG von Jürgen
http://www.gruene.at/justiz/artikel/lesen/48590/
die Grünen zu den Stockholm Programm
Es ist somit kein Spass.
@richter169: In der Regel schreiben wir explizit hin, wenn irgendetwas Spass ist.
Interessant wäre ja zuerst einmal eine zentrale Linksammlung zu Texten und Grppen, die an dem Thema dran sind.
Das Ganze dann halbwegs geordnet wäre schon die halbe Miete.
Als nächstes müßte man wohl die Argumente zusammentragen und in einem Text zusammenfassen.
Den könnte man dann den verschiedenen Gruppen schicken mit Hinweis auf die Materialsammlung. und mit viel Glück nehmen die das zur Kenntnis und kommen miteinander ins Gespräch, verbessern den Text nach ihren Vorstellngen, übersetzen ihn in alle 1000 Sprachen der EU und machen ihn publik…
Passieren wird das wohl nicht.
„Passieren wird das wohl nicht.“
Dann beginnen wir doch einfach einmal:
0. Registriere ein Wiki bei einer Wikifarm oder setzt Dir ein Mediawiki auf zum Sammeln.
1. Als Erstes sollte man für das Thema wenigstens diesen rss Feeds regelmässig verfolgen (lassen):
http://register.consilium.europa.eu/servlet/driver?page=ResultExtRSS&typ=Latest&srm=200&md=200&ssf=FT_DATE+DESC&dd_FT_DATE=&lang=DE&fc=REGAISDE
2. Dann sollte man sich die Nummern der relevanten Dossiers notieren. Fast alle davon sind nur Entwürfe. Einige der Links oben im Text zeigen auf alte Inhalte. Eine „Future Group“ ist nur eine informelle Arbeitsgruppe, somit sehr wenig signifikant. Wo finden wir denn relevante Dokumente? Welche Prozesse sind wirklich wichtig? Zum Beispiel diejenigen, die in der Beratung im Parlamentsausschuss sind:
http://www.europarl.europa.eu/activities/committees/openWorksCom.do?language=DE&body=LIBE
Im Text genannt: Area of freedom, security and justice: Agency for the operational management of large-scale IT systems. Also die Schaffung einer Agentur, die ein Rechenzentrum betreibt. Das Einfachste hier wäre auf eine bestehende Institution zu verweisen, die diese bescheidenen Aufgaben übernehmen kann. In der Regel mag das Parlament keine neuen Institutionen. Die Agentur ist vermutlich nur Verhandlungsmasse im Rat. Das wird dadurch erhärtet, dass kein Ort festgeschrieben ist.
Dann haben wir
http://www.europarl.europa.eu/oeil/FindByProcnum.do?lang=2&procnum=CNS/2009/0049
Das ist wichtig, aber hat auch wenig mit Stockholm zu tun. Dazu am besten erst mal die Legende von der deutschen Ministerin entschleiern und genau gucken, was es an bestehenden Beschlüssen usw gibt. Angelilli ist Hardlinerin aus der UEN-Fraktion (rechts). Darum sollte sich jemand in jedem Fall kümmern.
OEIL ist generell gut zum Stöbern, was gerade anliegt:
http://www.europarl.europa.eu/oeil/file.jsp?id=9734023
Erik zeigt, wie man die Beobachtung automatisieren kann:
http://euwiki.org/Tratten/oeil/Candidates_for_monitoring
Er prüft mit Changedetection ob sich bei den dossiers, die ihn interessieren, was verändert. Er hat auf der Seite einige Namen von Dossiers gesammelt, die für ihn relevant sind. Alles wikibasiert. Es sind diese kleine Werkzeuge, das Arbeiten mit den Datenströmen, das es einfacher macht als noch vor einigen Jahren Überblick zu bekommen, selbst wenn man nicht vor Ort ist.
Stockholm ist ein Arbeitsprogramm für die nächsten Jahre, ein Paket von zukünftigen Regelungsvorhaben. Das einzige, was da geschnürt wird, ist in welchen Bereichen grundsätzlich Handlungsbedarf gesehen wird. Sprich, Stockholm ist nichts anderes als eine Agendaplanung der Regulierung im Bereich der Justiziellen Zusammenarbeit. Aber man darf sich dass nicht so vorstellen, dass Top-down etwas aus einer Strategie abgeleitet wird, sondern mehr, dass bestimmte Projekte zusammengewürfelt werden in Bereichen wo formale Kompetenz zur Regulierung besteht.
Da man knappe Ressourcen hat, sich immer mit dem Konkreten beschäftigen. High level einzusteigen ist zumeist reine Zeitverschwendung. Am Ende zählt was auf dem Papier steht, nicht Weltanschauung und Absicht.
Man kann diese Verfolgung von Dossiers wunderbar crowdsourcen, was es dann sehr entspannt macht. Der beste Einstieg ist wirklich ein Wiki aufzusetzen und Material zu sammeln.
Also das mit der EU-Diktatur ist (momentan) sicherlich übertrieben, aber manchmal habe ich den Eindruck, daß manche vor lauter Europa-Euphorie verdrängen, daß die EU vielfach Ursprung oder Katalysator vieler Probleme ist, mit denen wir uns herumschlagen müssen.
Ich bin auch der Meinung, daß der Einfluß der EU massiv zurückgedrängt werden muß, und das schreibe ich, ohne mich in irgendeine rechte Ecke drängen zu lassen. Ich denke auch nicht, daß die deutschen Politiker und Bürokraten in irgendeiner Form besser wären als ihre europäischen Spiegelbilder. Aber wir, die Bürger, haben sie ein klein wenig mehr unter Kontrolle.
Klaus
Es ist erschreckend, dass die EU inzwischen „bushiger“ geworden ist als die USA. Die sollten sich mal am aktuellen Friedensnobelpreisträger orientieren: „So as Americans, we reject the false choice between our security and our ideals. We can and we must and we will protect both.“
Wir leben nicht in einer EU-Diktatur?
Du meine Güte! Ist das Blindheit oder bezahlte Propaganda? Euch ist wohl noch gar nicht aufgefallen, daß man mittlerweile noch nicht mal mehr pupsen kann ohne Genehmigung aus Brüssel?
Und auch ich bin dafür, die Souveränität der Staaten unangetastet zu lassen. Bin ich nationalistisch? Gar faschistisch? Genau, und vor allem bin ich jetzt ganz, ganz böse.
Die Meisten hier scheinen einen gehörigen Linksdrall zu haben, da sie andere diskriminieren und partou keine abweichende Meinung akzebtieren wollen. Dies ist ja ein bezeichnendes Hauptbestandteil linker Idiologie. Ebenso wie die Problemlösungen: relevante Dossiers zusammenfassen, Ausschüße bilden, anderen (vermutlich linken) Gruppierungen zugänglich machen. Diskutieren, lamentieren, Probleme ignorieren oder versuchen sie einfach tot zu quatschen. Bravo! Solche Typen braucht die Welt.
Gelegentlich habe ich denn Eindruck die LINKE sieht Ihren Einfluss auf die Menschen und damit Ihre Machtbestrebungen gerade den Bach runter gehen. Da EU-Bürokraten nicht nach ihrer Pfeife tanzen wollen. Na so ein Pech. Vielleicht solltet ihr euch mal aus euren Sitzungszimmern hinaus auf die Strasse trauen. Nicht (wie sonst üblich) um Randalle zu machen, sondern um mal mit den Menschen zu reden und vor allem: ihnen auch zuhören. Und zwar in ganz Europa. Dann wird euch evenduell ganz schnell klar, daß die Leute keinerlei Interesse an dümmlichen Vorschriften aus Brüssel haben. Das sie sich nicht in einem (links gewollten) Einheitsbrei verrühren lassen wollen. Das sie allesamt das Recht für sich beanspruchen, sich ihre Meinung selbst zu bilden ohne sich sagen lassen zu müssen das wäre \nationalistisch\ und somit schlecht und nicht akzeptabel. Und dann begreift Ihr vielleicht auch, das wir schon lange in einer EU-Diktatur leben.
einen schönen Tag noch.
@Bürger, Sorry, aber Aussagen wie „Euch ist wohl noch gar nicht aufgefallen, daß man mittlerweile noch nicht mal mehr pupsen kann ohne Genehmigung aus Brüssel?“ sind ziemlicher Schwachsinn. Die EU hat ein Demokratie- und Transparenzdefizit, das ist aber lösbar.
@KlausM: Es genügt vollkommen, die „öffentliche Sphäre“ in Europa zu schaffen und die Kontrollrechte des Parlamentes zu stärken. Zur Zeit krankt es zumeist an der mangelnden Involviertheit der interessierten Öffentlichkeit. Die Kräfteverhältnisse lassen sich durch die entsprechenden technischen Hilfsmittel zum Bürger verschieben. Euroskeptiker machen zumeist den Fehler, dass sie sich mit denjenigen Institutionen anlegen, zu denen sie auf Sichtweite sind. Das sind aber zugleich diejenigen, die dem Bürger nahestehen im interinstitutionellen Konzert.
Was man sicherlich machen kann, das sind Kleinigkeiten mit großer Wirkung:
1. Dezentralisierung der Institutionen. Das Europaparlament sollte aus Brüssel verschwinden und nur in seinem Hauptsitz Strassburg arbeiten, die Generaldirektionen sollten über die Mitgliedstaaten verteilt werden, Delegationen im Rat besser durch die nationalen Parlamente kontrolliert werden.
2. ePartizipation, Videos von allen Anhörungen, usw.
3. Zivilgesellschafts- und Blogger-Stipendien an die Fraktionen zur Verteilung an ihnen zuarbeitende Akteure aus parteifernen NGOs ihres Vertrauens.
4. Verbesserung der Dokumentzugangsregeln, insbesondere in regulativen Handelsfragen.
u.v.m.
hey,
in einigen kommentaren wird der mangel an information beschrieben. einen guten überblick in mehreren sprachen bietet die kampagnenwebseite seit einem jahr, mit hintergrundtexten sowie aktuellen information hinsichtlich von protest und widerstand: http://stockholm.noblogs.org.
immer wieder gibt es auch in unterschiedlichen städten veranstaltungen dazu, zb am 26.10. in münster (http://www.f24-kultur.de) und auf dem bakj-kongreß in berlin am 30.10. (http://www.bakj.de/home.html), am 11.12. in wien (http://www.irks.at/call.html).
wers noch ernster meint: vom 19. bis 22. november gibt es in süddeutschland ein treffen europäischer aktivistInnen, die zum stockholm programm arbeiten oder allgemeiner der staatswerdung der EU kritisch gegenüber stehen und sich mehr mit ihrer innenpolitik beschäftigen wollen: http://www.gipfelsoli.org/Home/7768.html.
@markus:
Daß das Demokratie- und Transparenzproblem der EU lösbar sei, sehe ich noch nicht. Der Lissabon-Vertrag ist sicher kein Schritt in diese Richtung. Es hat meiner bescheidenen Meinung nach auch niemand aus der Politik Interesse daran, dies zu beseitigen, es ist filzinkompatibel.
@Rebentisch:
Schon das Wort „Euroskeptiker“ ist in zweifacher Hinsicht tendenziell negativ konnotiert. Es geht erstens um die EU und nicht Europa. Da besteht ein fundamentaler Unterschied, der jedem ernsthaften Diskutanten bewußt sein muß. Zweitens geht es nicht um Skepsis, sondern um profunde Kritik.
Davon abgesehen sehe ich Deinem eurokratisch anmutenden Kauderwelsch („interinstitutionellen Konzert“) keinerlei relevante Substanz. Die verstärkte Kontrolle durch nationale Parlamente im Punkt 1 hat ja unser Bundestag/-rat mit dem (korrigierten) Zustimmungsgesetz bezüglich Deutschland hervorragend vereitelt. Vorschläge 2-4 sind ja ganz nett, das bringt ein bißchen mehr Informationen für die Bürger, aber die Distanz der verantwortlichen Politiker und Bürokraten ist m.E. einfach zu groß, als daß sich wirksam Druck aufbauen läßt — die „öffentliche Sphäre“ hat einfach einen zu großen Durchmesser.
Klaus
Also ich glaube nicht, dass die „Distanz“ zu den Verantwortlichen in Berlin wesentlich geringer ist. Leider beschäftigen sich zu wenige Menschen mit der EU und ihren Institutionen (Siehe die Wahlbeteiligung an den Europa-Wahlen).
Es ist halt bequem auf Europa zu schimpfen. Dazu benötigt es nicht viel (schon gar keine Ahnung).
Fakt ist: Die EU wird von den Politikern der einzelnen Staaten immer noch als Bühne für nationale Interessen missbraucht.
– Dinge, die beim Wahlvolk gut ankommen, darf die EU nicht anfassen.
– Dinge, die beim Wahlvolk unbeliebt sind, soll die EU regeln und werden dann mit den „Vorgaben aus Brüssel“ entschuldigt.
– Probleme, die von den einzelnen Regierungen gelöst werden können (von den Kompetenzen her) aber worauf diese keine Lust haben (weil sie sich dann z.B. mit bestimmten Lobby-Gruppen anlegen müssten) werden an Brüssel verwiesen weil man diese nicht „im nationalen Alleingang“ regeln könne oder dürfe.
Es ist schon billig, wie unsere gewählten Politiker die EU teilweise als Fußabtreter missbrauchen und zur Belohnung darf sich die EU dann noch treten und beschimpfen lassen.
@KlausM: Kennst du eigentlich deinen Abgeordneten in Brüssel? Das wäre doch schon einmal ein Anfang, die riesige „öffentliche Sphäre“ etwas zu verkleinern oder?
@Volker: Danke für den Kommentar,
@Volker: ich habe zwar der Form halber an dieser möchte-gern-demokatischen Alibi-Wahl teilgenommen, da es aber keine Direktmandate gibt und die Piratenpartei keine Abgeordneten stellt, kann ich keinen Abgeordneten als „meinen“ bezeichnen. Aber lassen wir diese Diskussion, das ist hier vermutlich nicht der richtige Platz und ich will Markus nicht länger nerven.
@Volker: Noch ein letzter Nachtrag: Deine Punkte sind zwar richtig, aber nur weil sich die EU instrumentalisieren läßt von den nationalen Parlamenten (und den Lobbyisten), entschuldigt sie das nicht.
@KlausM:
„Davon abgesehen sehe ich Deinem eurokratisch anmutenden Kauderwelsch (”interinstitutionellen Konzert”) keinerlei relevante Substanz.“
Dann hast Du keine Ahnung, das macht allerdings nichts. Populistische EU-Kritik knöpft sich z.B. sich die Abgeordneten des Parlamentes vor und ihre angeblichen Exzesse. Dabei ist dieses Parlament, das ja keine Regierung trägt, ein Kontrollorgan im Konzert vieler Institutionen. Es ist der Teil, der dem Bürger zugewandt ist. Die Lösung gegen die EU-Probleme ist aus dieser Sicht eine Wahlreform oder der Nationalstaat. Wichtiger wäre eine Stärkung parlamentarischer Befugnisse.
Speziell beim Stockholmprogramm: Das kommt aus den nationalen Innenministerien, genauso die Vorratsdatenspeicherung. Es sitzen dann in den Ratsarbeitsgruppen die Beamten aus den nationalen Ministerien mit ihren Kollegen aus anderen Mitgliedsstaaten. Es gibt einige öffentliche Dokumente, die viel zu wenig externe Kreise lesen, manche sind auch gar nicht öffentlich. Die Zusammensetzung und Existenz vieler dieser Gruppen beim Rat ist nicht offengelegt. Und irgendwann treffen sich die Minister bei der Fischerei-Ratssitzung und verabschieden, was ihre spezialisierten Beamten für sie ausgearbeitet haben.
Kritik am Europäischen Parlament ist sicherlich notwendig aber ein „Roter Hering“. Wenn Du sagst Stockholmprogramm, dann heisst „die EU“ die Innenministerien aller EU-Staaten. Die Parlamente sind dabei Anwälte der Bevölkerung. Mit dem Lissabonvertrag kriegt das EU-Parlament mehr Möglichkeiten zur „Mitentscheidung“, so nennt sich das Verfahren, wo das EU-Parlament Co-Gesetzgeber ist.
@Rebentisch: Ich habe mit keinem Wort geschrieben und auch nie so gemeint, daß einzig das Europäische Parlament Ursache des Übels ist. Ich werde mich auch nicht auf die Ebene der persönlichen Angriffe auf Abgeordnete herablassen. Es geht um systematische Probleme. Wenn der Lissabon-Vertrag dem Parlament mehr Mitspracherechte gibt, mag das tatsächlich für sich betrachtet positiv sein. Im Schlepptau des Vertrags kommen aber andere Regelungen, zum Beispiel die Kompetenz-Kompetenz oder die Mehrheitsentscheidungen im Rat, die unter dem Strich einen ziemlichen Negativwert produzieren. Meiner bescheidenen Meinung nach ist die „Stärkung des Parlaments“ lediglich ein Taschenspielertrick, um die Bürger der Staaten der EU von der Fortsetzung ihrer Entrechtung abzulenken. Und diese Propaganda funktioniert: Man sieht es in schöner Regelmäßigkeit an in den Main-Stream-Medien, mit denen der Lissabon-Vertrag umschrieben wird (schneller entscheiden, demokratischer). Es gibt schon regelrecht Standardphrasen, die zum Beispiel in jedem Öffentlich-Rechtlichen Beitrag am Ende nachgeschoben werden. Wirkliche Kritik? Nada. Es lohnt sich, mal darauf zu achten.
Daß die EU-Fans sang- und klanglos ignorieren, daß das Parlament nicht einmal Gesetze einbringen kann, oder überhaupt nach demokratischen Prinzipien (Gleichheit der Stimmen) gewählt wurde, ist für mich unbegreiflich. Sagen die auch: »Wow, früher hat der Räuber mir 100€ abgepreßt, jetzt nur noch 70€. Das ist aber ein guter Mensch geworden«? Manche Staatsrechtler betrachten sogar den Rat als stärker demokratisch legitimiert als das Parlament.
Der Rat an sich ist sicherlich das größere Problem. Ich kann der Aussage zustimmen, daß der Rat als Institution von den nationalen Regierungen instrumentalisiert wird, um Gesetze durchzubringen, die die Regierungen ihren Bürgern auf nationaler Ebene nie aufdrücken könnten. Aber das ist doch bitteschön ein Fehler im System, und zwar in dem System „EU“. Ich kann wirklich nicht verstehen, wie man sich hinstellen kann und die EU diesbezüglich in den Schutz nehmen kann. Wenn ich jemanden anheuere, um einen Dritten um die Ecke zu bringen, ist doch der an dem Mord ähnlich schuld wie ich. Wieso soll analog die EU und ihre Bürokratie nicht schuld sein, wenn sie sich zum Handlanger der Minister der Nationalstaaten machen läßt?
Schlußendlich finde ich es doch erstaunlich, wie man sich über Vorratsdatenspeicherung und Stockholm-Programm aufregen kann, und gleichzeitig eine positive Haltung zur EU besitzen kann. Das sind doch keine Einzelfälle oder Ausrutscher! Da kann ich nur mit dem Kopf schütteln.
Klaus