Vertreter*innen von 25 EU-Staaten sowie Norwegen und Island haben eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Es geht um Maßnahmen zum Schutz von Minderjährigen im Netz. Nur von Estland und Belgien fehlt eine Unterschrift. Angestoßen hat die sogenannte Jütland-Erklärung die dänische Ratspräsidentschaft. Im Mittelpunkt stehen Forderungen nach neuen EU-Regeln. Sie sollen mehr strenge Alterskontrollen und ein Mindestalter für sozialen Medien vorschreiben.
Für die deutsche Regierung haben Digitalminister Karsten Wildberger (CDU) und Familienministerin Karin Prien (CDU) unterschrieben. Das irritiert, schließlich hatte sich das Kabinett im September darauf geeinigt, dass zunächst eine eigens eingesetzte Kommission aus Expert*innen ein Jahr lang Lösungen erarbeiten soll. Die Unterschriften der deutschen Minister*innen nehmen das Ergebnis der Kommission zwar nicht vorweg. Sie werfen aber die Frage auf, wie sehr sich die Regierung für die Arbeit der Kommission interessiert.
Die Illusion wirksamer Alterskontrollen
Die Jütland-Erklärung fügt sich ein in internationale Bestrebungen nach strengeren Alterskontrollen im Netz. Inhaltlich bringt sie die Debatte um Jugendmedienschutz jedoch nicht weiter, im Gegenteil. Der Fokus auf Alterskontrollen senkt das Niveau der Debatte. So heißt es in der Erklärung, aus dem Englischen übersetzt:
Es besteht die Notwendigkeit nach wirksamer und datenschutzfreundlicher Altersverifikation in sozialen Medien und anderen relevanten digitalen Diensten, die ein erhebliches Risiko für Minderjährige darstellen.
Mit diesen Worten beweisen die Unterzeichner*innen, das sie weiterhin einer Illusion erliegen. Es existiert nämlich keine Technologie, die Alterskontrollen wirksam und datenschutzfreundlich möglich macht. Um solche Kontrollen auszutricksen, genügen kostenlose Werkzeuge für digitale Selbstverteidigung, darunter VPN-Dienste, der Tor-Browser oder alternative DNS-Server. Das zeigt etwa der sprunghafte Anstieg der VPN-Nutzung in Großbritannien, wo Alterskontrollen jüngst auf Grundlage des Online Safety Acts verschärft wurden.
Datenschutzfreundliche Alterskontrollen sind zwar technisch denkbar, in der Praxis können sie aber nicht überzeugen. Selbst der als internationales Vorbild entworfene Prototyp der EU-Kommission setzt aktuell noch immer auf pseudonyme statt anonyme Kontrollen, und steht damit nicht im Dienst von Datenschutz und Privatsphäre. Bis Ende des Jahres will die Kommission allerdings nachbessern.
Zudem zeigt der jüngste Hack auf geschätzt 70.000 Ausweisdaten von Discord-Nutzer*innen, wie Alterskontrollen in der Praxis zum Datenschutz-Albtraum werden können. Ein frisches Gutachten aus Australien zeigt: Das ist kein Einzelfall. Wie sollen Nutzer*innen wissen, ob sie es gerade mit einem vertrauenswürdigen Kontrollsystem zu tun haben oder nicht?
Fachleute: Alterskontrollen kein Wundermittel
Hinzu kommt: Derzeit gibt es im EU-Recht kaum Spielraum für pauschale Alterskontrollen, wie sie den EU-Mitgliedstaaten offenbar vorschweben. Stattdessen bieten einschlägige Gesetze wie das Gesetz über digitale Dienste (DSA) und die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-RL) differenzierte Ansätze, je nach Art des Dienstes und des Risikos für Minderjährige.
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Die Unterzeichner*innen der Jütland-Erklärung fordern deshalb neue und strengere EU-Gesetze. Konkret heißt es: „Es besteht Notwendigkeit zu prüfen, ob weitere Maßnahmen erforderlich sind, um den DSA zu ergänzen.“
Für das exakte Gegenteil argumentiert eine jüngst veröffentlichte Analyse der gemeinnützigen Denkfabrik Interface. „Denken Sie zweimal darüber nach, bevor Sie Alterskontrollen in verbindliches Recht auf EU-Ebene aufnehmen“, warnt darin Analystin Jessica Galissaire. Ihr Papier stellt die in der Jütland-Erklärung behauptete Notwendigkeit solcher Regeln in Frage.
Was Kinder im Netz erleben, und was Politik daraus lernen kann
Ausführlich beschreibt sie, dass selbst sehr große Plattformen wie Instagram, TikTok, Roblox oder YouTube bereits existierende Regeln schleifen lassen. Aufsichtsbehörden fehle es an Mitteln zur Durchsetzung, Zuständigkeiten seien unklar. Plattformen wiederum würden die rechtlichen Unschärfen ausnutzen, um weiter ihr eigenes Süppchen zu kochen. Alterskontrollen, warnt Interface, können und sollten nicht als Wundermittel („silver bullet“) behandelt werden.
Heiße Luft statt Argumente
Tatsächlich sind die Risiken für Kinder und Jugendliche zu vielfältig, um sie mit einer Maßnahme aus dem Weg räumen zu können. Zu nennen sind nicht nur potenziell verstörende Inhalte, sondern auch manipulative und süchtig machende Designs, Kontaktaufnahme durch böswillige Fremde oder Cybermobbing. Für diese und weitere Risiken braucht es spezifische Maßnahmen – und dafür wurden schon Grundlagen geschaffen.
So sieht das relativ junge Gesetz über digitale Dienste (DSA) vor, dass Dienste ihre jeweiligen Risiken einschätzen und eindämmen müssen, sonst drohen Strafen. Wie Maßnahmen aussehen können, hat die EU jüngst in DSA-Leitlinien ausbuchstabiert. Es geht etwa um Einschränkungen von unendlichem Scrollen und von Push-Benachrichtigungen und um sichere Voreinstellungen für Kontaktaufnahmen.
Diese Vielfalt der Risiken versucht die Jütland-Erklärung einzufangen, argumentiert jedoch unschlüssig. So seien „wirksame“ Alterskontrollen (die es wohlgemerkt nicht gibt) ein essentielles Werkzeug, „um die negativen Auswirkungen von illegalen und nicht altersgerechten Inhalten, schädlichen Geschäftspraktiken, süchtig machenden oder manipulativen Designs sowie übermäßiger Datenerhebung – insbesondere bei Minderjährigen – zu verringern.“
Das Zitat erweckt den Anschein einer Argumentation, entpuppt sich bei näherer Betrachtung jedoch als heiße Luft. So schützen Alterskontrollen nicht „insbesondere“ Minderjährige, nein, sie schützen, wenn überhaupt, ausschließlich Minderjährige. Denn wer eine Alterskontrolle überwindet, wird vor den aufgezählten Risiken ganz und gar nicht geschützt.
„Illegale“ Inhalte sind, wie das Wort es schon sagt, bereits illegal. Warum sollten Plattformen, die nicht konsequent gegen illegale Inhalte vorgehen, konsequent gegen Zugriff durch Minderjährige vorgehen? Ebenso sind Risiken wie süchtig machende und manipulative Designs und übermäßige Datenerhebung auf Grundlage anderer EU-Gesetze wie etwa dem DSA oder der DSGVO bereits reguliert.
Forderung ist Zeichen politischer Schwäche
Es scheint, als wollten die Mitgliedstaaten einmal großzügig Alterskontrollen über allerlei Missstände bügeln, gegen die es bereits Regeln gibt. Das ist weder angemessen noch erforderlich – und damit keine seriöse Grundlage für Gesetzgebung. Zugleich ist die Forderung nach Alterskontrollen ein Zeichen politischer Schwäche. Es ist teuer und mühsam, die Einhaltung bereits bestehender Gesetze durchzusetzen. Es ist dagegen bequem und billig, sich neue Gesetze auszudenken.
Behörden müssen oftmals vor Gericht ziehen, weil sich betroffene Unternehmen mit aller Macht gegen gesetzliche Einschränkungen wehren; vor allem, wenn sie deren Einnahmen schmälern könnten. Gerade bei Verbraucher- und Datenschutz müssen Aufsichtsbehörden oftmals für die Grundrechte der EU-Bürger*innen kämpfen.
Von echtem Kampfgeist ist in der Jütland-Erklärung jedoch keine Spur. Eher symbolisch merken die Vertreter*innen an, es sei „notwendig“, dass süchtig machende und manipulativen Designs „adressiert“ werden. Wie und von wem auch immer. Eltern solle man der Erklärung zufolge informieren, aber auch nicht in die Verantwortung nehmen. Dabei hätte niemand mehr Einfluss auf das Wohlbefinden von Kindern als Eltern und Aufsichtspersonen.
Strengere Regeln zu Alterskontrollen sollen es also richten, noch bevor die gerade erst geschaffenen Instrumente des DSA ihre Wirkung entfalten konnten. So sieht das aus, wenn Politiker*innen einen bequemen und billigen Weg einschlagen.

„Um solche Kontrollen auszutricksen, genügen kostenlose Werkzeuge für digitale Selbstverteidigung, darunter VPN-Dienste, der Tor-Browser oder alternative DNS-Server.“
Wobei man mitlerweile -gerade bei VPNs – in dem Satz schon fast als Zusatz ergänzen muss „solange es noch Länder gibt, die nicht gerade zum autoritären Überwachungsstaat werden“. Und das werden gefühlt immer mehr bzw wollen es werden.
An der Stelle frage ich mich z.B. bei Großbritanien, von welchen Ländern die VPNs nutzen.
Es wird ja immer weniger, wo man es sicher nutzen könnte
Australien hat schon diesen Überwachungsstaat mit Alterskontrollen & Co
Europa (leider nicht nur die EU) will das ja auch unbedingt (wobei ich gerade bei Island entsetzt bin, dass die unterzeichnet haben. Ich dachte, gerade Island wäre datenschutzbewusst)
Asien? Man muss nur nach China, Russland usw blicken. Mit Glück ein paar wenige Länder, aber das war’s dann
Die USA? Der Bundesstaat, vor dem in Europa immer Panik herrscht, wenn Daten dorthin fließen?
Die Unabhängigkeitserklärung von John Perry Barlow, dei er am 08.02.1998 am Rande der Davoser Konferenz abgegeben hat, hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil. Auch Sir Tim Berners Lee, Erfinder des WWW, betrachtet das Internet als kaputt. Schade es hat verheißungsvoll begonnen, bis die Tech Konzerne und die Regierungen es zerstört haben.
Mir geht dieser Jugendschutz Quatsch schon seit Jahren auf die nerven. Die Leidtragenden sind wie immer die die keine Kinder haben. Ständig erzwingen Fernseher und co einen Jugendschutz Pin ohne die Option den mist dauerhaft abschalten zu können. e
Es gibt Haushalte da leben keine Kinder was ist daran also so schwer sowas abzuschalten? Kauft man ein Spiel Online das nicht jugendfrei ist darf man sich entweder ständig legimitiern oder beim Versand wird der Ausweis gefordert, ist man zufällig arbeiten darf man das Paket dann einen Tag später irgendwo abholen weil Ablageorte nicht gehen.
Und das alles nur weil sich Eltern konsequent weigern auf ihre Kinder aufzupassen. Eltern sind verdammt nochmal für ihren Nachwuchs verantwortlich bestraft die und nicht fremde Menschen.
Die Politiker schlagen keinen bequemen und billigen Weg ein – ein Einschlagen würde eine Richtungsänderung bedeuten. SIe tun stattdessen das, was sie immer tun. Das ist:
1.) Eine wohlfeile Formulierung, die irgendwie (juristisch) durchdacht erscheint und sich entfernt nach einer Lösung des Problems anhört. Da kommen dann in der Regel mehr Bürokratie und Anforderungen heraus, die nur die ganz Großen aus den USA (scheinbar) hinbekommen. Oder ein Stopschild.
2.) Ignoranz gegenüber technisch machbarem oder gar, Gott behüte, der Realität. Realität ist, dass was irgendwie offen gegenüber dem Netz ist, crackbar ist. Dazu müsste sich die Politik nur mal bei den eigenen Geheimdiensten umhören. Selbst in Deutschland müsste man dazu also nicht zu Experten wie dem CCC gehen. Mittendrin würde sogar ein Blick in die „Zeitung“ mit den großen Buchstaben reichen. Aber auch da gibt es eine Lösung: Man schreibt ins Gesetz, dass das Cracken verboten ist und die, die das umsetzen müssen, zum praktisch Unmöglichen verpflichtet werden, und schon ist das Problem gelöst. Hurra.
Der Gipfel wäre, dass es eine gut beschriebene API, mit der staatliche Stellen Informationen abgreifen können. Gut, dass die Politik nicht weiß, was eine API ist, sonst würde sich auch damit ein Gesetz beschäftigen. Auch die Dinge, an die sich auch die Gesetzgebung zu halten hat, werden ignoriert. Verfassungsgerichtsurteile? Wen interessiert das schon, wenn man Gesetze schreiben kann! Da kommt dann eben eine Kette heraus, siehe Safe Harbor -> Privacy Shield -> Data Privacy Network… Oder anlasslose Datensammlungen…
Ich habe selber Kinder und erlebe tagtäglich dass es mit den Hausmitteln bemühter Eltern unmöglich ist, diese vor dem praktisch ungefilterten und extrem destruktiven Einfluss von Werbung, Politik, Gewaltdarstellung zu schützen. Nur das Prinzip Hoffnung zu haben, dass es die Kinder nicht irgendwann in diesen Strudel hineinzieht, ist keine Lösung. Wir lassen es zu, das Profis, Konzerne, politische Organisationen uns mit ausgefeiltesten psychologischen Methoden manipulieren. Ab einer bestimmten Lebenserfahrung vermag man das vielleicht selber zu erkennen, aber für Kinder ist das, als ob man ihnen einen Klumpen Plutonium in die Hand gibt: „Spielt mal schön damit“.
Und eine Lösung bietet der Verfasser dieses Artikels auch nicht an. Zu kritisieren, was den alles nicht ginge oder unternommen werden dürfe ohne Alternative ist extremst billig. Und warum? Nur weil gebildete informierte Erwachsene um ihre Netzfreiheit fürchten?
Ja, das muss manchmal echt frustrierend sein. Die „Flughöhe“, auf der Politik und Medien solche Ansätze diskutieren, ist manchmal sehr weit von der Praxis im Kinderzimmer entfernt. Ich warne aber mit Nachdruck davor, zu einer Scheinlösung zu greifen, nur weil einem gerade nichts besseres einfällt. Vielversprechende Ansätze gibt es aber durchaus, hier kannst du mehr dazu lesen: https://netzpolitik.org/2025/400-schulen-besucht-was-kinder-im-netz-erleben-und-was-politik-daraus-lernen-kann/ Alles Gute!
gegen werbung würde ich n PiHole im netzwerk (funktioniert damit auch bei den meisten apps) und adblocker im browser (handy und pc) empfehlen