Studie: Warum Internetzensur zu gewaltsameren Aufständen führt

Der nächste Krawall kommt bestimmt. Über die Frage, wann und wie er kommt, haben sich nicht nur Psychologen den Kopf zerbrochen. Am 14. August veröffentlichten Antonio A. Casilli, Forscher der Telecom ParisTech, und Paola Tubaro der Universität zu Greenwich die Studie „Why Net Censorship in Times of Political Unrest Results in More Violent Uprisings: A Social Simulation Experiment on the UK Rios“. Die Ergebnisse des Simulationsexperiments könnte sich auch David Cameron mal genauer anschauen. Denn die Studie zieht einleitend Parallelen zur katastrophalen Internetzensur unter Hosni Mubarack und weist auf die unklare Haltung einiger europäischen Politiker und Massenmedien gegenüber den sozialen Medien im Netz hin.

Das 17-seitige Papier möchte beweisen, dass es bei vollkommener Abwesenheit von Zensur nicht nur zu einer geringeren Anzahl von Eskalationen, sondern auch zu längeren Perioden des sozialen Friedens nach jedem Aufstand kommt. Die Frage, warum soziale Medien in der westlichen Welt Chaos bringen und in Entwicklungsländern als demokratiefördernd gewertet werden, lassen die beiden Forscher offen. Sie möchten vielmehr zeigen, dass die Zensur sozialer Medien in Zeiten sozialer Unruhen nicht gerade deeskalierend wirkt.

Die Studie basiert auf einem Artikel zum Civil Violence Model (pdf) von Joshua M. Epstein. Vereinfacht dargestellt versucht das Modell, die Entscheidung einer Person zu definieren, ob und wann sie aktiv demonstriert oder nicht – und macht dies abhängig von mehreren Variablen. Eine davon ist die Wahrnehmung der sozialen Umgebung. Ist Polizei in der Nähe, reagiert die Person erst, sobald eine gewisse Anzahl Demonstranten die Anwesenheit der Polizei ausgleicht. Die Autoren bezeichnen die ‘Vision’ des potentiellen Demonstranten als ausschlaggebenden Faktor. Wie nimmt er oder sie andere Demonstranten oder die Polizei wahr?

Die beiden Forscher simulierten für ihre Thesen die Zensur sozialer Medien und Kommunikationsmittel nicht mit technologischen Mitteln. Sie stützen sich vielmehr auf die Annahme, dass bei einer Zensur die ‘Vision’ der Umgebung gleich null ist. Es wird also unmöglich herauszufinden, wo sich eine größere Gruppe Demonstranten oder die Polizei aufhält. Sobald soziale Medien einer Zensur unterliegen, nimmt der Wert für die Variabel ‘Vision’ ab und die einzelnen Akteure haben nur eine eingeschränkte oder nicht existente Wahrnehmung ihrer Umgebung. Hieraus resultiert, dass sie zu zufälligen und unkontrollierten (Fort-)Bewegungen neigen. Je weniger Vision, desto höher ist das Gewaltniveau.

Die Realität scheint der Studie zumindest Recht zu geben: Als Ägypten offline ging, wurde nicht weniger demonstriert. Im Gegenteil.

(Crossposting von vasistas?)

13 Ergänzungen

  1. UNGLAUBLICH!
    Da versucht doch glatt ein Forscher politische Zusammenhänge zu erklären.
    Verwirrt doch bitte nicht unsere Politiker mit Fakten! Wo kommen wir denn da hin wenn ein Forscher sowas macht?
    Lasst doch unsere politischen Hirnakrobaten wie zB. den Uhl,den Kauder, die Zensursula und wie sie nicht alle heißen in ihrer faktenarmen populistischen Welt weiterexistieren. Wenn die Tatsachen erkennen müssen, kriegen die doch nur einen Herzinfarkt oder fühlen sich ausgegrenzt. sowas wolle wir doch nicht!

  2. Die Annahme, wenn ich das Internet abschalte, ist es nicht mehr möglich zu sehen, ob auf der Strasse vor der Haustür ein Polizist vorbei läuft, finde ich ein bisschen weit hergeholt.

    1. Ich denke, es macht schon einen Unterschied, ob ich zu Hause (über Twitter + co) erfahre, dass 500 m entfernt 100 Demonstranten 1000 Polizisten gegenüberstehen – oder umgekehrt. Das kann schon die Entscheidung beeinflussen, selbst auf die Strasse zu gehen.
      Und wenn dieser Informationsfluss plötzlich versiegt, weil ein Innenminister den Killswitch betätigt hat, dann kann das auch die Entscheidung beeinflussen: nämlich jetzt erst recht – und mit einer ganz besonderen Wut – auf die Strasse zu gehen.

      1. Ähm. Ich arbeite selber wissenschaftlich, auch mit Simulationen und Agent-based ist für mich kein Fremdwort. Es gibt da einige Dinge die man im Hintergrund beachten muss, unter anderem wie der jeweilige Definitionsbereich ist, und wie sich mein Model am Rande dessen vehält. Soweit ich das Überflogen habe ist die Visibility im original paper mit tatsächlicher Sicht (durch die Augen) angegeben; daraus folge ich, das man zwar die Visibility (idS) durch Zensur/Internetabschaltung reduziert, sicher aber nicht auf 0.

      2. Aber wenn das Internet nicht geht, bekommst du auch mit, dass in 100 oder 1000m Entfernung ne Demo läuft. Demos sind üblicherweise nicht leise.

  3. Ganz abgesehen davon, das viele erst aus ihrer Bequemlichkeit gerissen werden wenn ihnen etwas Verboten wird, das bis zu dem Zeitpunkt als Selbstverständlich erachteten.
    In diesem Sinne könnte man auch das Prinzip von Brot und Spielen anwenden.
    Nehmt ihnen die Spiele und Sie steigen uns aufs Dach.

    Das die meisten Politiker eh inzwischen Populistisch-Opportunistisch handeln ist dabei eher weniger von Belang.
    Ausser das dies zu etlichen Fehlentscheidungen führt, allerdings brauchen wir dazu noch nicht mal ein so ausgeprägtes Informationsnetzewerk wie es Heute besteht.

    1. In diesem Sinne könnte man auch das Prinzip von Brot und Spielen anwenden.

      Genau daran („Panem et circenses“) musste ich auch sofort denken…
      Allerdings werden m.M.n. die uralten Prinzipien zu sehr und zu plump (fast schon stümperhaft) durchgenudelt. So dämlich ist das Volk nicht mehr. Und einen „digitalen, antifaschistischen Schutzwall“ (Zensursula) brauchen wir genauso wenig, wie „digitale StaSi-Akten“ (Vorratsdatenspeicherung). Auch eins der ältesten Methoden, nämlich das „Spiel mit der Angst“ (Himmel und Hölle) scheint nicht mehr den gewünschten „Erfolg“ zu bringen (siehe z.B. die breite Bürgermeinung zum Thema Terrorismus).
      Wie man ja international beobachten kann und konnte, scheinen die Menschen global weder sonderlich „entpolitisiert“ noch besonders „ängstlich“ zu sein um sich tatsächlich mit Brot und Spielen zufrieden zu geben.
      Ob man dem INTERconnected NETwork als solches dabei einen hohen Stellenwert beimessen kann, weiß ich nicht. Ich persönlich denke aber schon. Und zwar einen beachtlichen Teil sogar.
      Denn auch m.M.n. ist die Entwicklung des INTERconnected NETwork durchaus mit dem Zeitalter des automatisierten Buchdrucks zu vergleichen. Auch dieser war natürlich nicht der alleinige Grund für die damalige Revolution (auch seinerzeit herrschte z.B. eine soziale Unzufriedenheit), aber m.E. stellte die Entwicklung einen beachtlichen Katalysator für den kulturellen Wandel dar, der im Grunde auch das Ende der Vormachtstellung von Papst und katholischer Kirche nach sich zog und zudem quasi eine „neue Religion“ entstehen ließ. (Ich bin übrigens Atheist!).
      Die alten „Stopp-Schilder“ der Katholiken, also beisielsweise so ‚was wie der “Index Librorum Prohibitorum” konnten dank des mechanischen Buchdrucks die rasche Verbreitung reformatorischen Gedankenguts nicht wirklich verhindern.
      Parallelen zu Zensursula & Co. sind dabei m.E. offensichtlich!

      Zudem bin ich mir persönlich zumindest auch ziemlich sicher, daß im Bezug auf das Medium „Internet“ sämtlichen Zensur-, Reglementierungs- und sonstigen Versuchen getrotzt werden wird. Auch Habgier, Blödheit, Ignoranz…u.ä. …Einzelner Personen bzw. einzelner Gruppierungen kann das langfristig nicht schaffen.
      Die (Zirkus-)Spiele („Panem et circenses“), also die Massenunterhaltungen für das gemeine Volk als Ablenkungsmanöver finden m.M.n. heutzutage nicht mehr in irgendwelchen Arenen statt sondern in den Regierungen selbst. Quasi wie eine „Muppet Show Berlin/Brüssel“:
      It’s time to play the music
      It’s time to light the lights
      t’s time to meet the Muppets on the Muppet Show tonight.
      […]
      Why do we always come here
      I guess we’ll never know
      It’s like a kind of torture
      To have to watch the show

      Genau so! Aber wie dem auch sei. Ich für meinen Teil bin jedenfalls einerseits froh, Zeitzeuge einer „Kulturrevolution 2.0“ zu sein dafür aber andererseits gleichzeitig betrübt schon unter der Erde zu liegen, wenn das Geplenkel dann irgendwann ‚mal endlich vorbei ist und sämtliche Politiker dieser Welt (als Oberbegriff gemeint und nicht als „alle über einen Kamm scheren“) endlich merken, daß die Erde gar keine Scheibe ist und daß es in Wahrheit auch keine Hexen gibt, die man verbrennen müsste…
      Abschließend sei noch schnell ein Satz zitiert, den der „Vater des Internets“ – Vint G. Cerf – gesagt haben soll:

      “Das Netz ist wie ein Blatt Papier. Es ist nichts als ein weiteres Werkzeug für die Kommunikation und kann als solches genutzt und auch missbraucht werden.”

      In diesem Sinne, Baxter
      ___________________
      P.S.: Zu den aktuellen Vorkommnissen auf der Insel habe ich mir persönlich noch keine Meinung abschließend gebildet, weshalb sich dieser Beitrag größtenteils eher auf die Geschehnisse in Nordafrika bezieht.

  4. Es ist schon interessant, wie weit man mit bekannten Formeln, hier die Lotka-Volterra Gleichung http://en.wikipedia.org/wiki/Lotka-Volterra_equation Sachverhalte simmulieren kann.
    Was diesem Paper noch fehlt ist eine Stabilitätsanalye, dass heißt ab wann sich ein stationärer, also stabiler Zustand, zwischen „Jäger“ und „Beute“ einstellt. Dann könnte man genau sehen, wie hoch die Polizeidichte sein muss, um den Beutebestand gering zu halten. Diese Polizeidichte im Verhältnis zur Bevölkerung könnte man dann als Gradmesser für einen Polizeistaat ansetzen.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.