Im Dezember 2024 brach das Assad-Regime in Syrien zusammen. Mit dem Sturz von Bashar al-Assad eröffnet sich erstmals die Möglichkeit einer umfassenden Aufarbeitung der Verbrechen und zur Suche nach den Opfern des Regimes. Bis zu 200.000 Menschen gelten in Syrien seit dem Bürgerkrieg als vermisst, viele von ihnen werden in Massengräbern vermutet.
Um Personen zu identifizieren, nutzen internationale Organisationen auch DNA-Daten von Familienmitgliedern der Vermissten. Allein die International Commission on Missing Persons (ICMP) hat 80.000 Datensätze von Angehörigen vermisster Personen gesammelt. Doch beim Umgang mit diesen sensiblen Informationen sind noch viele Fragen offen.
Um die Daten zu nutzen und Klarheit über das Schicksal der Verschwundenen zu erhalten, ist eine Kooperation mit der neuen syrischen Regierung notwendig. Angehörige der Vermissten fordern allerdings internationale Beobachtung und rechtliche Garantien, um die Daten der Betroffenen zu schützen.
Angehörige fordern betroffenenzentrierten Ansatz
Kholoud Helmi ist syrische Journalistin und Leiterin der Kommunikationsabteilung von Families for Freedom, einer Organisation in Syrien, die die Suche nach Vermissten vorantreibt und von deren Frauen, Müttern, Töchtern und Schwestern geleitet wird. Helmis Bruder wurde im Mai 2012 vom syrischen Regime verschleppt und ist bis heute spurlos verschwunden.
Im Interview mit netzpolitik.org sagt Helmi über die Suche nach den Vermissten, ihr „Erfolg hängt davon ab, dass die Familien konsultiert werden, ein nicht politisierter, von den Überlebenden geleiteter Ansatz gewährleistet wird und Vertrauen innerhalb der betroffenen Gemeinschaften aufgebaut wird“. Sie fordert die neue syrische Regierung auf, mit internationalen Organisationen zu kooperieren und Zugang zu Gräbern und offiziellen Akten zu gewähren, sich aber ansonsten nicht in den Prozess einzumischen.
„Syrien ist der bestdokumentierte Konflikt“
Eine dieser internationalen Organisationen, die für den künftigen Prozess der Suche und Identifizierung von Vermissten in Syrien von zentraler Bedeutung sein dürfte, ist die in Den Haag sitzende ICMP – die International Commission on Missing Persons. Die NGO wurde auf dem G7-Gipfel 1996 gegründet, um Regierungen bei der Suche und Identifizierung von Vermissten im Zusammenhang mit Konflikten, Menschenrechtsverletzungen und Naturkatastrophen zu unterstützen. Sie verfügt über forensische Expertise und technische Ressourcen, darunter ein integriertes Datenmanagementsystem und ein kürzlich erweitertes DNA-Labor, das seit 2001 bereits an 20.000 DNA-basierten Identifizierungen weltweit mitgewirkt hat.
Mithilfe dieses Labors könnten auch menschliche Überreste aus den Massengräbern und Gefängnissen in Syrien untersucht werden, um das Schicksal von Vermissten aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Bis zum Sturz des Assad-Regimes beschränkte sich die Arbeit der ICMP in Syrien darauf, die Grundlagen für einen zukünftigen Aufarbeitungsprozess zu schaffen. In Zusammenarbeit mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen sammelte sie die genetischen Daten von 80.000 Angehörigen in Syrien und Europa, mit deren Hilfe rund 30.000 vermisste Personen identifiziert werden können. Außerdem trug sie Informationen zu den Orten und Umständen des Verschwindens sowie mögliche Hinweise auf Täter:innen zusammen. Seit 2017 bietet die ICMP zu diesem Zweck ein Online-Formular zum Hochladen von Informationen über Vermisste und zur Bereitstellung der DNA-Daten von Angehörigen an.
Darüber hinaus dokumentierte sie Orte von forensischem Interesse, wie zum Beispiel die Koordinaten von 66 Massengräbern, und erarbeitete gemeinsam mit Angehörigen Gesetzesvorschläge und ethische Standards für den Aufarbeitungsprozess in Syrien.
Im Interview mit netzpolitik.org sagt Kathryne Bomberger, Generaldirektorin von ICMP: „Syrien ist der bestdokumentierte Konflikt aus der jüngeren Vergangenheit, all diese Daten können jetzt genutzt werden, um einen Prozess transformativer Gerechtigkeit anzustoßen und die Vermissten zu finden.“
Die Suche nach Massengräbern
Einer der Kooperationspartner von ICMP ist Lawyers and Doctors for Human Rights (LDHR). Die Organisation dokumentiert seit 2012 von der Türkei aus Verbrechen des Assad-Regimes und unterstützt Angehörige. Laut dem Geschäftsführer der NGO, Mahmoud Aswad, hat LDHR ein Viertel der genetischen Daten zum Syrien-Datensatz der ICMP beigetragen. Für eine umfassende Aufarbeitung reichen diese Daten jedoch noch nicht.
Seit dem Sturz des Assad-Regimes ist LDHR deshalb verstärkt in Syrien aktiv und hat bereits zwei Umfragen durchgeführt. In der ersten Untersuchung suchte die Organisation nach Häftlingen, die nach dem Sturz Assads aus den Gefängnissen in Hama, Homs, Damaskus und Daraa befreit wurden und dokumentierte dabei die Geschichte von 2.112 ehemaligen Gefangenen.
In der zweiten Umfrage suchte LDHR in denselben Regionen nach Augenzeugen von Massengräbern und sammelte dabei Daten zu insgesamt 134 Massengräbern. Das Assad-Regime versuchte häufig, die Leichen der Ermordeten unbemerkt zu verscharren, teilweise versteckte es sie auf normalen Friedhöfen, was die Suche einem mit der ICMP zusammenarbeitenden forensischen Anthropologen zufolge erheblich erschweren wird. Allein in einem Massengrab nördlich von Damaskus sollen nach konservativen Schätzungen 100.000 Menschen begraben sein. Wie die Umfrage von LDHR zeigt, ist der Aufarbeitungsprozess in Syrien maßgeblich auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen.
Es braucht „eine Strategie für ganz Syrien“
Aktuell liegen die Suche und Identifizierung allerdings auf Eis. Aswad zufolge haben internationale Organisationen derzeit keine offizielle Erlaubnis der syrischen Regierung, um die Massengräber zu öffnen und die menschlichen Überreste zu identifizieren. Seiner Meinung nach braucht es deshalb eine „Strategie für ganz Syrien“, die die langfristige Kooperation zwischen den internationalen Organisationen und der Regierung regelt und die verschiedenen Zuständigkeiten absteckt. Aswad fordert, dass diese von der 2023 gegründeten Independent Institution on Missing Persons (IIMP) der UN initiiert wird.
„Die Aufgabe ist gewaltig“, betont auch Bomberger von ICMP. Um die sterblichen Überreste von rund 200.000 Vermissten forensisch identifizieren zu können, sind laut Bomberger die DNA-Daten von 600.000 Familienangehörigen nötig – eine enorme organisatorische und technische Herausforderung.
Hinzu kommt, dass aufgrund des plötzlichen Zusammenbruchs des syrischen Regimes Dokumente wie beispielsweise Hinrichtungsbefehle in den syrischen Gerichten in Papierform vorliegen. Das Regime konnte diese nicht mehr vernichten und hat damit womöglich wertvolle Hinweise auf das Schicksal der Vermissten hinterlassen. Um all diese Hinweise und DNA-Daten zusammenführen zu können, hat die ICMP der syrischen Regierung bereits die Nutzung ihres Datenmanagementsystems und des neuen DNA-Labors zur Identifizierung der Vermissten angeboten.
Übergabe der sensiblen Daten
Die beteiligten Organisationen sind überzeugt, dass die gesammelten Daten letztlich zentral an einem Ort in Syrien zusammengeführt werden sollten. „Es sind nicht unsere Daten, es sind die Daten der Syrer:innen“, betont Aswad gegenüber netzpolitik.org. Auch im Hinblick auf den politischen Übergangsprozess in Syrien ist es wichtig, dass die Aufklärung nicht an internationale Organisationen ausgelagert wird, sondern in syrischer Verantwortung liegt. Nur so können staatliche Rechenschaftspflichten etabliert werden und Betroffene jeden Aspekt des Prozesses bestimmen.
Über die Rolle der Regierung bestehen allerdings Zweifel. Zwar hat sie eine umfassende Strafverfolgung der Assad-Verbrechen angekündigt und die Einrichtung einer Kommission für transformative Gerechtigkeit in der Verfassung verankert. Doch Helmi von Families for Freedom warnt: „Ohne robuste Garantien birgt die Übergabe sensibler Daten an eine Regierung immer ernsthafte Risiken für die Opfer und ihre Familien.“
Für Bomberger „ist es keine Frage, dass die Daten an den Staat übergeben werden sollten“. Allerdings fehlt es aktuell an einem gesetzlichen Rahmen, der die DNA-Daten syrischer Bürger:innen schützt. Auch warnt sie, dass die syrische Regierung derzeit nicht über genügend Ressourcen verfügt, um die Massengräber angemessen zu schützen. LDHR plant deshalb, die Koordinaten sowohl mit der syrischen Regierung als auch mit internationalen Organisationen zu teilen, um eine doppelte Überwachung zu ermöglichen.
Schutz vor Instrumentalisierung der Daten
Für die Familien der Verschwundenen ist maßgeblich, dass Zeugen und Überlebende geschützt werden und garantiert wird, dass alle Vermissten gleichbehandelt werden, unabhängig von ihrem ethnischen und religiösen Hintergrund. Helmi fordert deshalb, dass die „Rolle der syrischen Regierung nicht in der Kontrolle oder Einmischung in den Prozess“ liegen sollte, sondern lediglich in der Vermittlung: „Sie muss sich dazu verpflichten, keine Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen, opferzentrierte Ansätze zu verfolgen und rechtliche Reformen durchzuführen, die das Recht auf Wahrheit festschreiben.“
Sie spricht sich außerdem für die Einrichtung einer nationalen, aber unabhängigen Kommission mit Vertreter:innen der Familien, der Überlebenden und der Zivilgesellschaft aus, mit der die Daten der ICMP geteilt werden könnten. Zusätzlich fordert sie die Überwachung des Prozesses durch die UN oder einen vertrauenswürdigen internationalen Mechanismus, um sicherzustellen, dass die Daten nicht politisiert oder instrumentalisiert werden.
Laut Bomberger ist die ICMP bereits im Gespräch mit der syrischen Regierung über die Einrichtung einer Kommission für transformative Gerechtigkeit. Auch die IIMP hat Helmi zufolge eine erste Vereinbarung über die Ausgestaltung der Kommission mit der Regierung getroffen. Die nächsten Wochen werden allerdings zeigen, ob die angekündigte Kommission den Erwartungen der Angehörigen entspricht und ob die Aufklärung von den Betroffenen bestimmt oder über ihre Köpfe hinweg erfolgen wird.
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