Meta-StudieMythos Desinformation?

Gerade vor Wahlen wird immer wieder vor den Folgen von Desinformationskampagnen gewarnt. Eine umfangreiche Studie kommt nun zu dem Schluss, dass sich die Auswirkung von Desinformation auf den Ausgang von Wahlen nicht eindeutig nachweisen lässt. Fest stehe aber, dass die Warnungen selbst negative Effekte haben.

Gezeichnete Person schaut auf ihr Smartphone
Wie groß ist die Gefahr für die Demokratie? – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com visuals

Vor jeder Wahl ist die Sorge vor Desinformationskampagnen groß. Dahinter steht die Annahme, dass in- wie ausländische Akteure versuchen, Menschen gezielt in ihrer Wahlentscheidung zu beeinflussen. Insbesondere in den sozialen Medien würden Bürger:innen mit Falschinformationen überflutet, was sich dann auf ihre politische Überzeugung und letztlich auf den Wahlausgang auswirke. Auch im Vorfeld der jüngsten Bundestagswahl gab es etliche solcher Warnungen.

Doch wenige Tage vor der Wahl gaben Forschende in einer Online-Veranstaltung des Science Media Centers in Teilen Entwarnung. Zwar habe es auch in diesem Wahlkampf erneut zahlreiche Versuche der Einflussnahme gegeben. Deren Wirkung sei jedoch begrenzt gewesen, so der Tenor. Gestützt wird dieses Fazit von einer umfangreichen Studie des Observatory on Information and Democracy, die bereits im Dezember vergangenen Jahres erschien und Ende Januar in Berlin vorgestellt wurde. Auch sie stellt gängige Annahmen über den Einfluss von Desinformationen infrage.

Demnach lässt sich kein klarer Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Desinformation und dem Ausgang von Wahlen nachweisen. Ein entsprechender wissenschaftlicher Nachweis sei schon deshalb schwierig, weil die Tech-Konzerne die dafür erforderlichen Daten nicht herausgäben.

Dass dennoch immer wieder eindringlich vor Desinformation gewarnt wird, könnte aus Sicht der Studien-Autor:innen negative Auswirkungen haben, weil so das Misstrauen in der Gesellschaft geschürt werde.

Unzureichende Datengrundlage

Für die Meta-Studie werteten die Forschenden mehr als 2700 internationale Studien aus den vergangenen fünf Jahren aus. Das überraschende Ergebnis lautet, dass ein unmittelbarer Einfluss von Desinformation auf demokratische Prozesse nicht empirisch nachgewiesen werden kann.

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Es sei kaum möglich, so die Autor:innen der Studie, einen wissenschaftlichen Nachweis für den Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Desinformation, einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung und der politischen Beteiligung zu erbringen. So sei es überaus kompliziert, die menschliche Entscheidungsfindung zu simulieren. Außerdem geben die großen Tech-Konzerne kaum Daten heraus, die Forschende für entsprechende Untersuchungen benötigten.

„Man kann nicht behaupten, dass Desinformation einen substanziellen Einfluss auf individuelle oder gesellschaftliche Meinungsbildungsprozesse hat, ohne dies nachweisen zu können“, sagt Matthias C. Kettemann, einer der Studien-Autor:innen, „Und wenn man es nicht nachweisen kann, sollte man es auch nicht behaupten.“ Aus Sicht von Kettemann befindet sich die Desinformationsforschung daher auch „in einer Krise“.

Warnungen vor Desinformation haben negative Folgen

Eines lässt sich aus Sicht der Forschenden jedoch mit relativer Gewissheit feststellen: Wird zu viel vor Desinformationen gewarnt, kann dies Misstrauen gegenüber jeder Art von Informationen schüren.

„Einige Untersuchungen finden keine direkten Auswirkungen von Fehl- und Desinformation auf die politische Polarisierung oder das Wahlverhalten. Andere wiederum zeigen […] den geradezu gegenteiligen Effekt, wonach Bemühungen, das Bewusstsein für Fehl- und Desinformation zu schärfen, zu Misstrauen gegenüber seriösen Informationen führt.“

Die Forschenden plädieren für eine sachlichere Auseinandersetzung mit dem Thema. Sie fordern, sich stärker auf demokratische Willensbildung und den sozialen Zusammenhalt zu konzentrieren. „Wir würden empfehlen, etwas distanzierter über Desinformation zu berichten, ohne infrage zu stellen, dass es Desinformation gibt“, sagt Kettemann.

Außerdem weisen die Studien-Autor:innen darauf hin, dass die Tech-Konzerne die Nutzer:innendaten kontrollierten und damit auch das Wissen. Sie fordern strengere Regeln, um diese Macht zu begrenzen.

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