Am Sonntagmorgen hat die georgische Präsidentin Salome Surabischwili zum offiziellen Ende ihrer Amtszeit den Präsidentenpalast verlassen und ist durch das Tor hinaus zu den davor versammelten Demonstrierenden gegangen. Sie nehme die Fahne und die Legitimität des Amtes mit, verkündete Surabischwili. Sie sei weiter Präsidentin, der Palast nurmehr ein Gebäude.
Mit diesem Schritt endet die Phase der georgischen Demokratie, in der die Anhänger:innen von Demokratie und des EU-Beitritts offiziell eine Fürsprecherin in Amt und Würden des Staates haben. Surabischwili wird von der Opposition und fast der Hälfte der Bevölkerung weiterhin als legitime Präsidentin angesehen. Doch die umstrittene Regierung hat am Sonntag mit dem ultrarechten Micheil Kavelashwili einen neuen Präsidenten eingeschworen.
In der Zivilgesellschaft, die seit mehr als einem Monat für Neuwahlen und EU-Beitritt protestiert, hat Surabischwilis Schritt, den Palast zu verlassen, gemischte Gefühle ausgelöst. Eine Dame in den Fünfzigern sagte mir am Sonntag vor Ort, sie habe sich gewünscht, dass Surabischwili im Palast verbleibt und die Menschen um diesen kämpfen. Doch darüber herrscht in der Opposition keine Einigkeit, auch wenn die Einschätzungen deutlich von den eher pessimistischen Analysen vor allem westlicher Beobachter abweichen.
Das neue Georgien entsteht auf der Straße
Ich treffe am nächsten Mittag Marika Mikiashwili vor dem Palast zum Gespräch. Sie ist Mitglied der liberalen Droa-Partei und eine sehr sichtbare Stimme der Proteste in den sozialen Medien. Sie gibt sich optimistisch, auch wenn sie nicht genau wisse, wie der Protest mittelfristig weitergehe. Die Stärke der Proteste hätten zur „Geburt eines neuen demokratischen Georgiens“ geführt, das einerseits für moderne, aber auch für traditionelle Werte stehe – und sich dabei abgrenze von der nationalen Beliebigkeit der Regierung. Ein Eindruck, den mir auch andere Menschen vor Ort immer wieder schildern.
Mikiashwili geht davon aus, dass das Regime zusammenbreche, wenn der Druck sowohl von innen als auch von außen mittels Sanktionen aufrechterhalten würde. Es sei wichtig, dass erstmals die Wirtschaft geschlossen hinter der Demokratiebewegung stehe. Es brauche jetzt Ausdauer und vielleicht bald auch andere Proteststrategien. Dabei sei es gut, dass die Präsidentin nicht hinter Gittern sei, sondern eine aktive Rolle in diesem Prozess spielen könne. In einem Artikel schildert sie, warum sie einen Regime-Kollaps für möglich hält.
„Wenn wir verlieren, bleibt nur auswandern“
Das sieht Anka ähnlich. Ich treffe die Mitorganisatorin eines Musikfestivals am Montagabend auf der wieder blockierten Rustaveli Avenue. Es ist der 33. Tag der Proteste. „Jetzt ist auf jeden Fall klar, dass wir die Regierung nicht schnell stürzen werden“, sagt sie, „aber ich bin optimistisch, dass wir es trotzdem schaffen.“ Dass Surabischwili den Palast geräumt hat, findet sie richtig. Es gehe um mehr als den Amtssitz. Der Kampf darum wäre zu einer Farce geworden.
Für sie ist wichtiger, dass etwas Neues auf der Straße entstanden sei, abseits der meisten Oppositionsparteien, denen sie wie viele andere auf der Straße nicht voll vertraut. „Ich hoffe, dass aus der Bewegung auch eine neue politische Kraft für das Parlament entsteht“, so Anka. Wie Marika sieht auch sie die Protestbewegung als Geburtsstunde eines neuen Georgiens. „Es ist allen klar, dass wir jetzt bis zum Ende kämpfen müssen – und wenn wir verlieren, bleibt nur auswandern. Es gibt kein Zurück.“
Das bestätigt mir am selben Abend auch Irakli*, der für eine große internationale Organisation arbeitet und seit Wochen immer wieder mit seiner ganzen Familie auf der Straße ist. „Wir müssen das Regime Schicht und Schicht auseinandernehmen“, sagt mir der freundliche Mann mit der Brille. „Es wird lange dauern, aber wir dürfen nicht aufhören, sonst werden sie sich schnell weiter konsolidieren.“ Alle Hoffnung liege auf den Menschen, die jetzt auf der Straße sind und etwas Neues geschaffen hätten.
Neue repressive Gesetze in Kraft
Schon jetzt zeigt sich, dass nur wenig Zeit bleibt und die Regierungspartei alles daran setzen wird, die Demokratiebewegung zu schwächen. Der von ihr ernannte Präsident hat als erste Amtshandlung repressive Gesetze unterzeichnet, die schon am Montag in Kraft traten. Sie enthalten empfindliche Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und die Möglichkeiten zur Präventivhaft. Außerdem ist es nun einfacher, politisch unliebsame Menschen aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen.
So gibt es nun ein Vermummungs- und Gasmaskenverbot, und auch das Aufhängen von Plakaten ist fortan mit hohen Strafen von bis zu 350 Euro belegt. Laser und helle Taschenlampen sind verboten, für Feuerwerk bei Protesten können Strafen bis zu 1750 Euro anfallen. Auch wer Straßen blockiert, kann mit bis zu 1750 Euro bestraft werden, Rädelsführer:innen sogar bis zu 5000 Euro. Autofahrenden, die sich am Protest beteiligen, drohen Strafen von mehr als 300 Euro. Der monatliche Durchschnittslohn in Georgien liegt bei etwa 725 Euro.
In Zukunft darf die Polizei Personen präventiv festnehmen, wenn sie bei jenen, die bereits eine Straftat begangen haben, weitere Taten annimmt. Im öffentlichen Dienst hat die Regierung die Arbeitnehmerrechte der Beamten geschwächt, sie können leichter entlassen werden und Opfer von Lohnkürzungen werden. Die Leitungsebene wird künftig nicht mehr als Beamte eingestuft, so dass dort auch Personen ohne georgische Staatsbürgerschaft eingesetzt werden können. Ein weiteres Gesetz nimmt Salome Surabischwili den Personenschutz, den scheidende Präsident:innen bislang erhalten haben.
Schon am Abend zeigen die Georgier:innen, was sie von den neuen Gesetzen halten. Bei mehreren Protesten im Land gehen Menschen vermummt auf die Straße und verwenden Pyrotechnik, auch in Tiflis. Für den Silvesterabend, in Georgien eines der wichtigsten Feste des Jahres, sind weitere Proteste geplant. Die Demokratiebewegung hat zu einem großen „Protestwichteln“ vor dem Parlament aufgerufen, bei dem sich alle Menschen etwas schenken. Auch Surabischwili will kommen.
*echter Name der Redaktion bekannt
Update 01.01.2025:
Am Silvesterabend haben zehntausende Menschen aus Protest vor dem Parlament eine kilometerlange Tafel aufgebaut und dort Essen geteilt und sich beschenkt, wie dieses ikonographische Bild des Fotografen Ezz Gaber zeigt. Menschen schwenkten Fahnen der EU und Georgiens, immer wieder riefen sie Sprechchöre für Neuwahlen und zur Freilassung der Gefangenen. Drohnenaufnahmen zeigen das Ausmaß der Protestaktion, bei der gegen ein Uhr Nachts auch Surabischwili an der langen Tafel entlang lief und Menschen ein frohes neues Jahr wünschte. Sie spricht von 200.000 Teilnehmenden. Auf der Rustaveli Avenue wurde bis in die frühen Morgenstunden ausgelassen gefeiert und protestiert.
While complete strangers wished each other a happy new year, chants demanding new elections or the release of prisoners could be heard again and again. Georgian flags and the EU flag were everywhere. Later, President Salome Zourabichvili walked past the long table. (3/x) #GeorgiaProtests
— Markus Reuter (@markusreuter.bsky.social) 1. Januar 2025 um 02:22
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