Seit 1988 findet alljährlich am 1. Dezember der Welt-Aids-Tag (WAT) statt. Auch in diesem Jahr war an diesem Tag die rote Schleife allgegenwärtig. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich sie zum ersten Mal wahrgenommen habe. Aber ich erinnere mich sehr gut an das Freddy-Mercury-Gedächtnis-Konzert im April 1992. Es würdigte den charismatischen Sänger der Band Queen, der wenige Monate zuvor an Aids gestorben war. Und es brachte die rote Schleife endgültig nach Europa.
Woran ich mich auch sehr gut erinnere, sind die Plakate der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) mit dem großen Aufdruck „Gib Aids keine Chance“. Und ich erinnere mich noch an den Werbefilm mit einem verschämten Ingolf Lück und Hella von Sinnen, die quer durch den Supermarkt „Tina, wat kosten die Kondome?“ ruft. Und bis heute weiß ich, dass die Kondome im Sonderangebot waren, für 2,99 DM.
Fehlermeldung ohne Umleitung
Ich gebe zu, mir ist gar nicht aufgefallen, als die Plakate aus dem Stadtbild verschwanden. Als ich selbst positiv auf HIV getestet wurde, hatte ich keinen Blick für meine Umgebung und auch nicht für die neue Kampagne der BZgA: Liebesleben. Für einen neuen Werbespot ging Ingolf Lück – 27 Jahre später – wieder Kondome einkaufen.
2019 wurde ich morgens an der S-Bahn von einem großen „Wenn’s im Schritt brennt: Ab zum Arzt!“ begrüßt. Seit 2012 gab es neben diesem bekannteren Slogan auch „STI – Sexuell übertragbare Infektionen – Informier dich.“ Die Kampagne der BZgA hatte ihren Fokus schon länger auf alle sexuell übertragbaren Krankheiten erweitert und seit 2009 unter www.machsmit.de eine Website mit Informations- und Aufklärungsmaterial betrieben. Heute erscheint auf der Seite nur eine Fehlermeldung, nicht mal eine Umleitung auf www.liebesleben.de gibt es.
Diskriminierung statt Mitgefühl
Trotz dieser Kampagnen – im analogen wie im digitalen Raum – ist das Wort Aids über die Jahre weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden. Und auch die rote Schleife ist von Jahr zu Jahr seltener zu sehen. Sie ist laut der Deutschen Aids-Stiftung das „Symbol für Mitgefühl mit HIV-positiven Menschen“ und „ein globales Zeichen im Kampf gegen die Immunschwäche Aids“.
Doch diese Solidarität hat offenbar Grenzen. Im vergangenen Jahr haben laut dem gemeinsamen Programm der Vereinten Nationen UNAIDS umgerechnet rund 7,7 Milliarden Euro für die globalen HIV-Programme gefehlt – und dass obwohl die Zahl der HIV-Neuinfektionen und Aids-bedingter Todesfälle in einigen Teilen der Welt derzeit zunimmt. Und in diesem Jahr kam schon Ende Juli die Hiobsbotschaft: Die UNAIDS-Ziele zur Eindämmung oder gar Ausrottung von Aids lassen sich nicht einhalten. Besonders junge Frauen und weibliche Jugendliche sind von Neuinfektionen betroffen.
Es gibt viele Gründe, warum der Kampf gegen Aids derzeit ins Stocken gerät: geschlechtsspezifische Ungleichheit, Ungleichheit zwischen Kindern und Erwachsenen sowie Ungleichheit zwischen Homosexuellen und Heteros. Sie alle lassen sich in einem Wort zusammenfassen: Diskriminierung.
Die Deutsche Aidshilfe hat in ihrer diesjährigen Pressemitteilung zum WAT den Schwerpunkt auf Diskriminierung in der Arbeitswelt gelegt. Doch nicht nur dort werden Menschen mit HIV benachteiligt und herabgewürdigt: „95 Prozent hatten im Jahr vor der Befragung Diskriminierung erlebt, mehr als die Hälfte fühlte sich durch Vorurteile im Leben eingeschränkt. Diskriminierung kommt in allen Lebensbereichen vor, besonders häufig jedoch im Gesundheitswesen“, heißt es in der Studie positive stimmen 2.0.
Die Schleife zum Liken
Die extreme hohe Zahl an Betroffenen von Diskriminierung überrascht zunächst. Ist die rote Schleife am WAT im Netz nicht allerorten auf Sharepics zu sehen – neben einer Solidaritätserklärung mit HIV-Positiven und Aids-Erkrankten?
Vor wenigen Tagen unterhielt ich mich mit Freunden aus der HIV-Selbsthilfe darüber, wie sie den Welt-Aids-Tag wahrgenommen haben. Dabei kamen wir auch auf die Schleifenbilder in den sozialen Medien zu sprechen. Und wir waren uns einig: Sie sind leider kaum mehr als ein Accessoire, das viele für ein paar Likes in die Kamera halten. Und am 2. Dezember ist der Spuk auch schon wieder vorbei.
Wirkliche Solidarität sieht anders aus. Und sie wäre heute auch ganz anders möglich als noch in den 1990er-Jahren. Denn anders als noch zu Beginn der Aids-Pandemie vor rund 40 Jahren kann man heute leicht direkt an Informationen über HIV kommen. Gerade in den sozialen Medien finden sich etliche Menschen, die offen mit ihrer Infektion umgehen, die aufklären und die bereit sind, Fragen zu beantworten, die unmittelbar aus ihrem Leben erzählen können – nicht nur am Welt-Aids-Tag, sondern das ganze Jahr über.
Diese Menschen sind es auch, die das Thema lebendig halten. Und zwar nicht länger unter dem Slogan „Gib Aids keine Chance“, sondern mit der Kampagne „U Equals U“. Das steht für: „Undedectable = Untransmittable“, zu Deutsch: nicht nachweisbar = nicht übertragbar. Bereits im Jahr 2008 hatte die Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen in der Schweiz ein Statement veröffentlicht, wonach positive Menschen mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze nicht infektiös sind. Dessen ungeachtet erfahren Menschen, die HIV-positiv oder an Aids erkrankt sind, heute noch allerorten Diskriminierung.
Wer ihnen in den sozialen Netzwerken Fragen stellt und ihnen zuhört, der kann erfahren, wie das Leben mit HIV wirklich aussieht (anstrengend, weil man früh aufstehen und zur Arbeit muss) oder wie der Sex mit HIV ist (ausgezeichnet!). Fragen zu stellen ist ein erster Schritt hin zum Verständnis. Wer sich aber mit HIV-Positiven oder an Aids erkrankten Menschen solidarisch zeigen will, muss mehr tun, als nur eine rote Schleife auf Sharepics zu posten – nämlich eine spezielle Frage stellen, die auch am Welt-Aids-Tag nur äußerst selten gestellt wird. Dabei liegt sie so nah. Sie lautet: Wie geht es dir eigentlich mit der Infektion?
Also für mich leitet http://www.machsmit.de auf allen Geräten [mit unterschiedlichen Browsern] direkt auf http://www.liebesleben.de weiter.
Ob das nur eine sehr schnell, auf Grund dieses Artikels, eingerichtete Umleitung ist weis ich nicht.
Wie genau wirkt sich denn die Ungleichheit zwischen Kindern und Erwachsenen auf die Diskriminierung von HIV positiven Menschen aus? Das würde mich interessieren.