Prof. Dr. Judith Ackermann ist Forschungsprofessorin für Digitale und vernetzte Medien in der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Potsdam. Sophie Diesselhorst und Christiane Hütter haben mit ihr über die Herausforderungen der Online-Theater-Rezeption gesprochen und darüber, welche sozialen Medien zum Theater passen. Das Interview wurde schon im Oktober geführt und erschien zuerst in der kostenlosen Publikation „Netztheater“ von Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik.de.
Der Lockdown hat dem Netztheater einen nie geahnten Aufschwung beschert. Aber jetzt, wo die Theater wieder ein Publikum hineinlassen dürfen, scheint ihr Online-Enthusiasmus weitgehend verpufft. Woran liegt’s?
Ackermann: Die Theater sind sehr beschäftigt damit, den physischen Betrieb wieder anzuschieben und die ganzen Anforderungen umzusetzen. Die ganze Energie, die während des Lockdowns in die Entwicklung digitaler Formate gesteckt wurde, shiftet jetzt da rüber. Aber ich bin optimistisch für das Netztheater: Wenn der physische Regelbetrieb wieder läuft, kann der nächste Schritt sein, zu integrieren, was wir in der Lockdown-Phase gelernt haben.
Könnte das weitgehende Ausbleiben von Online- oder Hybridformaten aber auch etwas mit der allgemeinen „Streaming-Müdigkeit“ zu tun haben? Viele Zuschauer/innen beklagten schon während der Lockdown-Zeit, dass es mühsam sei, sich auf Streams zu konzentrieren.
Die Rezeptionssituation ist natürlich eine ganz andere: Das Netztheater muss sich in meine Alltagssituation integrieren. Es gibt nicht, wie sonst im Theater, dieses mit den anderen Zuschauer:innen geteilte Setting, das meine Aufmerksamkeit letztlich auf die Bühne richtet, sondern für jede, die an einer Vorstellung teilnimmt, ein eigenes Setting. Von der Idee her ist das Digitale ja ohnehin darauf ausgerichtet, dass ich immer verschiedene Sachen gleichzeitig mache und nicht nur rezipiere, sondern auch interagiere. Für das Theater ist es aber noch neu, Nebenbeimedium zu sein.
Wenn ich einen klassischen Theaterstream gucke, kann ich in der Regel nicht interagieren…
Genau. Ich kann mich höchstens ein bisschen mit anderen Zuschauer/innen austauschen, oder auch mal etwas an die Macher:innen zurückmelden, aber grundsätzlich soll ich mich auf eine Sache konzentrieren, und das funktioniert nicht so gut. Wir sind anders konditioniert in unserem Digitalverhalten, man wird also anfangen, gleichzeitig noch etwas anderes zu machen, und den Anschluss verlieren an den Stream. Das produziert Frust.
Netztheater-Macher:innen sollten sich also auf die Entwicklung interaktiver Formate konzentrieren?
Es macht auf jeden Fall Sinn, die Zuschauenden partizipieren zu lassen – auf unterschiedlichen Ebenen. Zusätzlich sollte man unbedingt schauen, wie man leichte Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten schaffen kann, indem man immer wieder die Möglichkeit gibt, dazuzustoßen, indem man modular denkt.
In der Zoom-Performance „Lenz“ am Residenztheater München wurde die Verbindung zwischen Schauspielerin und Publikum hergestellt, indem die Zuschauer:innen aufgefordert waren, ihre Zoom-Kameras und -Mikros eingeschaltet zu lassen, so dass man wie im Theater still und konzentriert dasitzen musste, um nicht zu stören…
Das ist aber schon ein krasser Eingriff in die Publikumssituation! Das gibt es ja im physischen Theaterraum auch eher selten, dass das Publikum so im Hellen sitzt, dass jede:r Zuschauer:in Angst haben muss, jederzeit adressiert zu werden. Um herauszufinden, welche Konzepte von Publikum fürs Netztheater funktionieren, müssen wir uns auf der Rezeptionsseite fragen: Wo kann man das Publikum teilhaben lassen, ohne es zu überfordern? Aber natürlich auch auf der Macher:innenseite: Wie kann den Schauspieler:innen das Gefühl vermittelt werden, dass sie keinen Film machen, sondern dass sie mit Personen interagieren, die nicht Teil der performenden Gruppe sind – auch wenn diese Personen nicht physisch kopräsent sind?
Was macht für Sie eigentlich das Spezielle an Netztheater aus, was unterscheidet es von Online-Film-Formaten oder YouTube- und Twitch-Performances?
Twitch kommt für mich schon sehr nah heran, weil es eine Livesituation gibt, in die ich als Zuschauer:in über den Chat eingreifen kann. Aber die meisten Theater haben ja erst einmal anders gedacht. Und klar sind diese ganzen YouTube-Kurzformate wie „Zoom in: Romeo + Julia“ vom Jungen DT Berlin oder „Die tägliche Dosis“ vom Staatstheater Darmstadt, die im Lockdown produziert wurden, toll – aber häufig auch recht hermetisch. Sie repräsentieren eigentlich eine andere Kunstform, denn sie denken das Feedback vom Publikum nicht mit, obwohl man online auch ohne Livemoment eine Rückkopplung herstellen kann: indem man zum Beispiel seriell denkt, einen Film veröffentlicht, die Reaktionen sammelt und in den nächsten Film integriert.
Für solche partizipativen Ansätze muss das Theater auf ein Publikum bauen können, das sich in diesen digitalen Kanälen sicher fühlt. Das ist aber eher das Publikum der Zukunft, das nicht ins Theater geht, sondern stattdessen auf TikTok selbst performt. Das klassische Theater-Publikum wiederum ist in der Breite nicht besonders affin zu digitalen Formaten.
Ja, das ist ein Spagat. Einerseits soll das digitale Theater Personen abholen, die normalerweise nicht ins Theater gehen, aber online Interesse haben könnten an theatralen Formen, andererseits soll es die nicht verstören, die gerne ins Theater gehen wollen. Bei den Zoom-Performance-Formaten im Netztheater haben wir zum Beispiel gesehen, dass die sich häufig sehr stark daran orientierten, wie digitale Kommunikation stattfindet, und nicht so stark daran, was das Spezifische von Theater ist. Davon fühlen klassische Theatergänger:innen sich aber nicht wirklich angesprochen, und digitalaffine Zuschauer:innen wiederum sind da schon viel weiter und denken: Warum machen die so einen infantilen Quatsch mit Zoom? Ich glaube aber, es gibt einen Weg, beide Publika zu erreichen. Indem ich im digitalen Raum Zusatzinformationen – Hintergrundinfos zum Stück, zur Produktion – zu meinen Inszenierungen streue, kann ich zum Beispiel auch dem „analogen Publikum“ einen Mehrwert bieten, der es aber nicht verschreckt. Wer sich darauf einlässt, wird irgendwann vielleicht auch bereit sein, noch weiterzugehen, in Interaktion zu treten. So lässt sich Offenheit kreieren. Gleichzeitig kann ich durch solche kleinen „Hinter den Kulissen“-Teaser vielleicht auch Leute aus dem digitalen Raum dazu verführen, sich mal auf den Weg in mein Theaterhaus zu machen. Man muss Theater ganzheitlich denken und dann die Besonderheiten der digitalen Kanäle angucken und überlegen, wie kann ich die bestmöglich als Elemente davon denken. Also nicht: Diese eine Inszenierung in dieses eine digitale Format pressen. Sondern: Wie kann ich diese Inszenierung als Erfahrungsraum erweitern und zugänglicher machen?
Welches Social Medium passt zum Theater?
TikTok macht sehr viel Sinn fürs Theater! Eine Studie vom Rat für kulturelle Bildung zum Medienkonsum junger Menschen hat jüngst bestätigt, dass nur ein kleiner einstelliger Prozentsatz Theater auf YouTube guckt. Hingegen ist ein viel größerer Anteil aktiv auf TikTok, auch zu Theaterthemen: Wenn man mit Theater-Hashtags wie #Macbeth guckt, dann findet man Videos, wo Schüler:innen die zentralen Motive des Stücks in 20 Sekunden präsentieren. Auch wenn Videos nicht länger als eine Minute sein dürfen: TikTok ist beliebt und niedrigschwellig. Bisher sind dort aus dem Theaterbereich vor allem Schauspieler:innen präsent, die Theater selbst noch nicht wirklich. Da könnte, sollte noch einiges passieren.
Sie machen selbst Wissenschaftskommunikation auf TikTok – welche Tipps haben Sie für Theater(macher:innen), die damit arbeiten wollen?
Für die Theater könnte die Duett-Funktion interessant sein, in der sie eine Challenge starten können mit einer Szene und Menschen dazu auffordern, sich performativ damit auseinanderzusetzen, Teil der Inszenierung zu werden. Das Medium an sich hat eine interessante Eigenlogik. Es ist oft nicht nachvollziehbar, wie was ausgewertet wird. Das führt dazu, dass es in ganz vielen TikToks genau darum geht, herauszufinden, wie der Algorithmus funktioniert. Das TikTok Publikum hat also ein Erkenntnisinteresse und lässt sich nicht davon abschrecken, dass die Bühne noch erforscht werden muss. Das lässt sich ja vielleicht aufs Netztheater übertragen. Was auch noch zu beachten wäre, ist, dass man nicht auf Chronologie setzen kann, weil die Videos den Follower:innen nicht zwangsläufig in der Reihenfolge ausgespielt werden, in der ich sie poste. Sie müssen also so gemacht werden, dass jeder Clip für sich funktioniert.
Wie und wo knüpfen die Theater am besten an ihre Online-Experimente an, wenn nach der Aufnahme des „Regelbetriebs“ wieder Zeit und Energie dafür da sind?
Das erste, was ich mir wünschen würde, wäre, dass das Theater aus diesem physischen Raum wieder herausläuft, und zwar quasi durchs Publikum. Indem es zum Beispiel auf TikTok zu jeder Aufführung eine Challenge gibt, deren kreativer Output dann zu einer eigenen Online-Inszenierung collagiert wird. Das ist nicht aufwändig: Ich brauche nur einen Hashtag, und das Online-Publikum, das sich reaktivieren und ausbauen lässt. Es ist die Hybridität zwischen Formaten und zwischen Publika, an der wir arbeiten können und sollten.
Das Interview steht unter CC-BY-NC-ND Lizenz.
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