Dr. Judith Christine Enders ist Politikwissenschaftlerin, freiberufliche Sozialwissenschaftlerin und Dozentin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin mit den Schwerpunkten Gender, Internationale Beziehungen und Nachhaltigkeit. Sie ist Mediatorin und systemischer Coach sowie Mitbegründerin der Initiative „Dritte Generation Ostdeutschland“ und des Vereins „Perspektive hoch 3 e. V.“.
Amanda Groschke ist freiberufliche Sozialwissenschaftlerin, Familien- und Organisationsaufstellerin und Dozentin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Auseinandersetzung von Gestaltungsspielräumen für gesellschaftlichen Wandel. Ihr Fokus in der Lehre umfasst Bildung für Nachhaltige Entwicklung, Nachhaltigkeit, Ästhetische Forschung sowie Medienkompetenz.
Die Idee und der Begriff der Nachhaltigkeit haben ein zutiefst menschliches Anliegen: Gerechtigkeit, verantwortungsvoller Umgang mit Mensch, Natur und Ressourcen und eine Vorstellung von einer positiven Zukunft.1 Versucht man den Begriff der Nachhaltigkeit sozial zu interpretieren, ist auch die Frage der Geschlechtergerechtigkeit ein Teil dieser Zukunftsprojektion.
Wir begleiten die Entwicklung der Digitalisierung als kritische Nachhaltigkeits- und Genderaktivistinnen und möchten auf Risiken und Chancen gleichermaßen hinweisen. Wir fokussieren uns dabei auf die Veränderung der Geschlechterverhältnisse, welche zutiefst mit der abendländischen Kultur und auch den stereotypen Rollenvorstellungen bezüglich Erwerbs- und Sorgearbeit verbunden sind und die persönliche Lebensgestaltung und Wertvorstellungen prägen.
In unserem zweistündigen Workshop auf der „Bits & Bäume“-Konferenz im November 2018 haben wir versucht, Wissen, Ideen, Gedanken, Zukunftsvorstellungen und Emotionen der Workshop-Teilnehmer*innen zum Themenfeld Digitalisierung, Geschlechterverhältnisse und Nachhaltigkeit in einem angeleiteten Gruppenprozess aufzuzeigen und zu verbinden. Die Systemische Organisationsaufstellung diente uns als Methode, um ein erstes dynamisches Bild zum Verhältnis Digitalisierung, Gender und Nachhaltigkeit zu erhalten.
Anschließend gingen wir gemeinsam der Frage nach, welche althergebrachten Muster sowie Veränderungen und Chancen bezüglich des Geschlechterverhältnisses und der Nachhaltigkeit in der Digitalisierung liegen. Es war aufschlussreich und vielfältig, welche Visionen und Vorstellungen sich diesbezüglich zeigten und von uns visualisiert werden konnten.
Die Digitalisierung wird patriarchalische Strukturen verändern
Ergänzend zu diesen Erkenntnissen und unseren allgemeinen gesellschaftspolitischen Beobachtungen, nehmen wir Bezug auf eine eigene qualitative empirische Studie,2 bei der wir Frauen aus den neuen Medien zu ihrer Rolle in der digitalisierten (Arbeits-)Welt befragten. Den aktuellen Hintergrund bildet die politische Debatte um Digitalisierung und die Begriffe Industrie 4.0 und Arbeit 4.0.
Wir gehen davon aus, dass die Digitalisierung von Arbeits- und Kommunikationsprozessen die althergebrachten Strukturen der Lebens- und Arbeitswelt mit ihren geschlechtsspezifischen, meist noch patriarchal geprägten Implikationen verändert. Doch ist noch nicht ausgemacht, in welche Richtung: emanzipatorisch oder restriktiv? Wird die digitale Transformation eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen auch in Hinblick auf ein modernisiertes Geschlechterarrangement bewirken und gleichermaßen eine Wende hin zu einer sozial-ökologischen Gesellschaftsstruktur befördern?
Oder werden traditionelle Rollen- und Konsummuster erhalten bleiben und sich mit einem „neuen Gesicht“ reproduzieren? Hier gilt es eine kritisch-konstruktive Aufmerksamkeit der „Community“ zu schaffen und voranzutreiben. Insgesamt gibt es bislang allenfalls eine lückenhafte Forschung zur Digitalisierung im Bereich Gender.3 Dabei bewegt die Frage der Geschlechterverhältnisse die Menschen in ihrem Zusammenleben schon seit Langem.
Politisch tritt dies besonders in den letzten 100 Jahren zutage. Wir denken beispielsweise an 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland und an die erste Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Persönlichkeiten wie Rosa Luxemburg, Käthe Kollwitz und Marie Juchacz.4
Im Folgenden an die zweite Frauenbewegung der 1970er Jahre sowie die dritte Welle der Frauenbewegung der 2000er Jahre. Hier wird eine klare Ausdifferenzierung in verschiedene Interessengruppen und Theoriezweige sichtbar. Denken wir beispielsweise an diskursanalytische Ansätze, queerfeministische Theoriebildung, an Arbeiten zu Klassismus oder die Kritik neuer Arbeits- und Technikstrukturen (Care-Debatte, Cyborgforschung etc.). Eine Auseinandersetzung mit der Digitalisierung ist jedoch nur in Nischen verbreitet und siedelt sich meist in der Arbeitssoziologie an.5
Wir wollen auf dieses Phänomen aufmerksam machen und dazu anregen, den Feminismus, beziehungsweise die Genderfrage mit den Themen Nachhaltigkeit und der Digitalisierung zu verbinden.
Wie Forscher*innen die Themen Digitalisierung und Gender verknüpfen
Bisher setzen sich Forscher*innen in drei Bereichen mit den Themen Digitalisierung und Gender auseinander:6 Der Fokus „Digital (Gender) Divide“ beschäftigt sich mit der digitalen Teilhabe. Der durch soziale Ungleichheit erschwerte Zugang zum Internet ist auch geschlechtsspezifisch konnotiert. Bildungsstand, Einkommen und Alter sind hier von Relevanz und spiegeln Geschlechterungleichheiten (global schwankend) im jeweiligen Land wieder.
Ebenso sind geschlechtsspezifische Nutzungsweisen des Internets zu beobachten, wobei neben unterschiedlichen Interessen auch ungleiche Zeitkapazitäten in der Freizeit durch ungleiche Verteilung von Care-Arbeit eine Rolle spielen.
In unseren Interviews hat sich gezeigt, dass sich die Hoffnung, durch die Digitalisierung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, nicht erfüllt hat. Durch Homeoffice und digitale Anwendungen wird mancher Arbeitsprozess von Frauen vielleicht effizienter, und es wird Zeit eingespart. Das Volumen und die Dichte der Arbeit steigen aber meist an, und die Verteilung von nicht entgoltener Care-Arbeit zwischen den Geschlechtern wird durch Digitalisierung nicht berührt (dieses Phänomen zeigt sich im Nachhaltigkeitsbereich als Reboundeffekt).
Wikipedia wird beispielsweise mehrheitlich von Männern bearbeitet: sicherlich aus persönlichem Interesse, aber auch aus Zeitgründen, die mit der Verteilung von Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern korrespondieren.7
Ein weiterer Forschungsstrang nimmt das Thema der Geschlechtsneutralität in der technischen Umsetzung von Digitalisierung in den Blick. Vor diesem Hintergrund kritisieren vor allem neuere Studien, dass die IT-Entwicklung von Stereotypen und einem starken Androzentrismus, also der gesellschaftlichen Fixierung auf das „Männliche“, geprägt ist. Ein Beispiel ist die Robotikentwicklung: Hier werden oft Geschlechterstereotypen genutzt, um die Akzeptanz von Robotern zu erhöhen. So werden Roboter im Pflegebereich vorwiegend von Männern entwickelt, aber mit dezidiert weiblichen Attributen designt.8
Geschlechterstereotypen werden unreflektiert reproduziert und verstärkt. Es muss insgesamt von wenig Geschlechtsneutralität in der technischen Umsetzung von Digitalisierung ausgegangen werden. Selbst wenn Frauen in der Internet- und Programmierbranche tätig sind, sind sie doch eher für gestalterische (weibliche) „Front-End-Aufgaben“ als für technische (männliche) programm relevante „Back-End-Aufgaben“ zuständig. Hier muss noch mehr durch Initiativen wie die „Rails Girls“ gegengesteuert werden, eine weltweite Community, die Workshops für Frauen organisiert, um Ruby on Rails zu lernen.
In „virtuellen“ Räumen gibt es keine Netzneutralität
Mit dem Aufkommen des Internets, seinen vielseitigen Zugängen zu Informationen und dem dahinter liegenden Potenzial des globalen Austausches, der Kommunikation und Vernetzung setzt sich der dritte Forschungsstrang mit der Digitalisierung als feministischem Handlungsraum auseinander. Etliche Webseiten und Blogs haben sich etabliert, auf denen selbstbestimmt feministische Politik betrieben wird und auf denen sich feministische Communities austauschen.
Vor allem der Hashtag #Aufschrei (2013) zeigte erstmals, dass das Medium Internet als Sprachrohr genutzt werden kann, um gesamtgesellschaftlich breite Debatten anzustoßen. Allerdings muss in der aktuellen Debatte um feministische Netzpolitiken festgestellt werden, dass der Antifeminismus erstarkt und sich teils aggressiv in sozialen Netzwerken und Kommentarspalten der Onlinemedien zu Wort meldet.
Die Hoffnungen einer „entkörperten“ Welt jenseits von Diskriminierung und Geschlecht, die die sogenannten Cyberfeministinnen Anfang der 1990er Jahre postulierten, erweisen sich als illusorisch. Die Netzneutralität in „virtuellen“ Räumen ist nicht gegeben, sondern hängt nach wie vor stark von der Entwicklung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse ab. Die Strukturen der Technik selbst – genauso wie die sozialen Prozesse, die darauf aufbauen – sind durch vorherrschende Identitätskategorien wie Geschlecht, „race“ und Klasse geprägt.9 So bleibt die digitale Welt ein Abbild der analogen (Macht-)Verhältnisse.
Digitalisierung, Geschlechterfragen und Nachhaltigkeit ganzheitlich denken
Hieraus schlussfolgern wir, dass eine positive Begleitung der Digitalisierung Geschlechter- und Nachhaltigkeitsfragen ganzheitlich berücksichtigen muss. Die Natur zeigt durch endliche Ressourcen Grenzen auf, die zu respektieren sind. Auch die sozialen Grenzen sind mit ihren geschlechtsspezifischen Ausprägungen zu erkennen und zu beachten.
Trotz unserer kritischen Diagnose möchten wir dazu aufrufen, zu einer reflektierenden und gleichzeitig hoffnungsvollen Haltung im Umgang mit der Digitalisierung in Verknüpfung mit Gender- und Nachhaltigkeitsfragen zu kommen und diese strategisch zu nutzen. Noch sind Gestaltungsspielräume vorhanden. Nutzen wir sie mithilfe kluger Analysen und entschlossenem Handeln.
Die Konferenz „Bits & Bäume“ brachte im Jahr 2018 erstmals im großen Stil Aktive aus der Zivilgesellschaft zusammen, um die Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit zu diskutieren. Jetzt ist das Konferenzbuch „Was Bits und Bäume verbindet“ erschienen. Als Medienpartner der Konferenz veröffentlichen wir an dieser Stelle jeden Montag einen Beitrag daraus. Das ganze Buch ist auch als Download verfügbar und steht unter der Lizenz CC BY-NC-SA 3.0 DE.
Fußnoten
- Enders, J. C., & Groschke, A. Die Idee der Verantwortung als Voraussetzung für den Erfolg von BNE – Bildung für Nachhaltige Entwicklung im Spiegel von Verantwortungsethik und Handlungsfähigkeit bei Max Weber und Hans Jonas. In: Bildung für Nachhaltige Entwicklung. Interdisziplinäre Perspektiven. Sozialwissenschaftliche Forschungswerkstatt (Hrsg. Brodowski, M.) Bd. 4, 33–58 (Logos, 2017)
- Enders, J. C., & Groschke, A. Medien und Geschlechterverhältnisse – Frauen als Schlüsselfiguren in der digitalen Transformation (i.E.)
- Oliveira, D. Gender und Digitalisierung. Wie Technik allein die Geschlechterfrage nicht lösen wird. Working Paper Forschungsförderung 37 (Hans Böckler Stiftung, 2017)
- Hörner, U. 1919 – Das Jahr der Frauen (Ebersbach & Simon, 2018)
- Carstensen, T., et al. care | sex | net | work. Feministische Kämpfe und Kritiken der Gegenwart (Unrast, 2016)
- Ahlers, E., et al. Genderaspekte der Digitalisierung der Arbeitswelt. Reihe: Arbeitspapier, Bd. 311 Düsseldorf. (2018)
- Ulmi, N. Wikipédia fait-elle fuir les femmes? Une conférence et des ateliers pour combler le „gender gap“. Le Temps. (28. September 2015)
- Voss, G. The Second Shift in the Second Machine Age: Automation, Gender and the Future of Work. In: Our Work here is Done – Visions of a Robot Economy, Hrsg: Westlake. S. (Nesta, 2014)
- Freudenschuss, M. Digitalisierung: Eine feministische Baustelle – Einleitung. Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 2 (2014)
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