Netzneutralität: Oettinger antwortet Kritikern, ohne auf Kritik einzugehen

Digitalkommissar Günther Oettinger versucht mit einem Blog-Posting, sich gegen die Kritik am Kompromiss zur Netzneutralität zur Wehr zu setzen. CC BY-NC-ND 2.0, via flickr/European Parliament

In einem Blog-Posting meldete sich Digitalkommissar Günther Oettinger zu Wort, um der weiter anhaltenden Kritik an der EU-Regelung zur Netzneutralität zu begegnen. Einige Infos seien „in der öffentlichen Debatte irgendwie untergegangen“, die er gerne abseits seines Twitter-Kanals loswerden würde (Markierungen aus dem Original übernommen):

Kritischen Stimmen zufolge ist das Ergebnis nicht eindeutig, so dass Telekom-Anbieter die Netzneutralität umgehen könnten. Dies ist nicht der Fall. Unsere Vorschriften schützen das Recht aller Europäer auf Zugang zu Online-Inhalten ihrer Wahl und schreiben den Grundsatz des gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Datenverkehrs gesetzlich fest. So entscheiden nicht mehr die Anbieter von Internetdiensten, wer auf welche Inhalte zugreifen kann und wer nicht, und sie dürfen auch NICHT gegen Bezahlung eine Vorzugsbehandlung gewähren, denn das Blockieren oder die Drosselung der Übertragungsgeschwindigkeit bestimmter Daten ist unzulässig.

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Internetanbieter werden Spezialdienste in ihr Angebot aufnehmen können wie beispielsweise Internet-TV, Telechirurgie und andere eHealth-Leistungen oder auch Dienste im Rahmen des Internet der Dinge z. B. für vernetzte Fahrzeuge, sofern die Netzkapazität ausreicht und dies nicht in Form von langsameren, schwächeren oder instabileren Internetverbindungen auf Kosten von Unternehmen und Verbrauchern in der EU geht.

Mit dieser Argumentation versucht Oettinger, den Kernpunkt der Kritik zu umgehen, dass viele vage und unscharf formulierte Passagen in der Regelung zu Rechtsunsicherheiten führen würden. „Netzwerkbetreiber
werden das als Einladung verstehen, eine ihnen genehme Interpretation des Textes gerichtlich zu erstreiten“, befürchtet Volker Tripp von Digitale Gesellschaft e. V. gegenüber Netzpolitik.org. Zwar sei es richtig, dass mit dem Trilog-Kompromiss ein Recht auf Zugang zu beliebigen Inhalten und der Grundsatz des diskriminierungsfreien Datenverkehrs festgeschrieben wurde. „Anders als Digitalkommissar Oettinger meint, ist die Netzneutralität damit aber keineswegs effektiv gesetzlich verankert“, sagte Tripp.

Spezialdienste: Die neue Normalität?

Vor allem die Frage, wie Netzanbieter mit den erlaubten Spezialdiensten, also zu bezahlenden Überholspuren, umgehen werden, bedarf einer Klärung – die aller Wahrscheinlichkeit nach erst durch Gerichte geschaffen werden dürfte. Oettinger sieht das anders und bezeichnet den Ansatz als „ausgewogen“:

Internetanbieter werden Spezialdienste in ihr Angebot aufnehmen können wie beispielsweise Internet-TV, Telechirurgie und andere eHealth-Leistungen oder auch Dienste im Rahmen des Internet der Dinge z. B. für vernetzte Fahrzeuge, sofern die Netzkapazität ausreicht und dies nicht in Form von langsameren, schwächeren oder instabileren Internetverbindungen auf Kosten von Unternehmen und Verbrauchern in der EU geht.

Bei solchen ausgelagerten Spezialdiensten handelt es sich um separate Zugangsdienste, „die für […] bestimmte […] Inhalte, Anwendungen oder Dienste oder eine Kombination derselben optimiert sind, wenn die Optimierung erforderlich ist, um den Anforderungen der Inhalte, Anwendungen oder Dienste an ein spezifisches Qualitätsniveau zu genügen“. Nun definiert der Text aber nicht, was unter einem „spezifischen Qualitätsniveau“ zu verstehen ist, sondern überlässt diese Bewertung den nationalen Regulierungsbehörden. Diese sollen im Einzelfall prüfen, „ob und inwieweit diese Optimierung objektiv notwendig ist, um ein oder mehrere spezifische und grundlegende Merkmale der Inhalte, Anwendungen oder Dienste zu gewährleisten und eine entsprechende Qualitätsgarantie zugunsten der Endnutzer zu ermöglichen“.

Volker Tripp hält dies für eine faktisch funktionslose Hürde, denn Diensteanbieter und Netzwerkbetreiber könnten beliebige Qualitätsanforderungen für einen Dienst aufstellen und mit der Begründung, diese Qualität sei über das Best-Effort-Internet nicht gewährleistet, auf eine bezahlte Überholspur ausweichen. „Auf diese Weise könnten auch bereits etablierte Dienste des Best-Effort-Internet leicht auf kostenpflichtige Sonderzugänge ausgelagert werden – mit all den negativen Folgen, die das für die Wettbewerbsfähigkeit von Start-Ups und die Innovationskraft des Netzes hätte“, so Tripp. Zwar verweist Oettinger in seinem Posting auf noch zu erarbeitende Leitlinien, die vom Gremium der EU-Telekom-Regulierer BEREC kommen sollen. Allerdings stellt sich die Frage, warum der Gesetzestext selbst nicht schon einen eindeutigen Rahmen vorgibt. Zudem bleibt bis auf Weiteres unklar, wie diese Leitlinien ausfallen werden – die Auswertung einer unlängst von BEREC in Auftrag gegebenen Umfrage, die Konsumenten „auf der Überholspur“ und „Netzaktivisten im Graben“ sieht, lässt im Zweifel Schlimmes befürchten.

Anbieter wechseln leicht gemacht. Nur, wohin?

Als Sicherungsmaßnahme sieht die Regelung vor, dass Kunden leichter kündigen können, wenn die vertraglich „versprochenen Geschwindigkeiten nicht geliefert werden“, wie Oettinger ausführt. Auch das klingt zunächst vielversprechend, kann jedoch nur dann aufgehen, wenn ausreichend Konkurrenz auf dem Markt verfügbar ist. Oettinger hat sich freilich wiederholt dafür ausgesprochen, das EU-Wettbewerbsrecht insofern abzuschwächen, als dass es die Fusion europäischer Telekommunikationsunternehmen erleichtert. Im Vergleich zum US-amerikanischen Markt sei der europäische zu fragmentiert und die Gewinne zu gering. Die Hoffnung dahinter: Die europäischen Anbieter sollen sich nicht nur auf dem Weltmarkt besser behaupten können und besser gegen feindliche Übernahmen gewappnet sein, sondern die gesteigerten Gewinne in den Breitbandausbau zu Hause investieren. Zum jetzigen Zeitpunkt ist diese Strategie reines Wunschdenken – und welche negativen Folgen ein konsolidierter und fein säuberlich aufgeteilter Telekommunikationsmarkt für Konsumenten hat, zeigt der Blick auf den US-Markt, der Kunden kaum Wahlmöglichkeiten lässt und zu deutlich höheren Preisen als in Europa führt.

Auffallend ist auch, dass Oettinger in seinem Blog-Posting mit keinem Wort auf Zero-Rating-Angebote eingeht. Der Kompromisstext lässt diese Frage unbeantwortet und verbietet eine solche Praxis nicht ausdrücklich, sondern gesteht Netzanbietern das Recht zu, mit Endkunden Vereinbarungen über Preise, Datenvolumen oder Geschwindigkeiten zu treffen, solange das grundsätzliche Recht der Nutzer auf Zugang zu beliebigen Inhalten, Diensten und Anwendungen nicht beeinträchtigt wird. Dieses grundsätzliche Recht lässt sich jedoch leicht auf den Kopf stellen, wie Tripp ausführt: „Netzwerkbetreiber könnten sich auf den Standpunkt stellen, dass Zero-Rating nicht das Recht der Endnutzer auf Zugang zu beliebigen Inhalten, Diensten und Anwendungen beeinträchtigt, sondern ihnen im Gegenteil zusätzliche Zugriffsmöglichkeiten eröffnet, wenn das zulässigerweise vereinbarte Datenvolumen erschöpft ist.“ Als Konsequenz scheint unausweichlich, was Kritiker wie Tripp von Beginn an verkünden: „Da der Kompromisstext keine eindeutigen Aussagen zum Zero-Rating enthält, wird auch diese Frage erst durch Gerichtsverfahren erschöpfend geklärt werden.“

9 Ergänzungen

  1. Seit wann gilt eigentlich *Internet-TV* als „Spezialdienst“? In der Debatte vor ein paar Monaten kamen mir als Beispiele für solche Spezialdienste immer nur so krasse Dinge unter wie „lebenswichtige Not-Operation per Remote-Verbindung“, oder „akut unfallverhindernde Auto-Sicherheitsfunktionen“.

    Mich überrascht nun doch, dass so etwas banales wie Internet-TV auf die Überholspur darf.
    Vermutlich brauchen solche hauseigenen Spezialdienste von den Providern auch nicht zwangsläufig auf deren Volumentarife angerechnet zu werden?

    Demnach darf vermutlich doch so gut wie alles ein Spezialdienst sein?
    Warum wurden in der Debatte stets nur so krasse Beispiele genannt?
    Doch nicht etwa aus Verlogenheit?

    1. Genau das ist zu befürchten – dass Dienste, die problemlos über das Best-Effort-Prinzip angeboten werden können, willkürlich zum Spezialdienst erklärt werden und extra bezahlt werden müssen. Aber es ist schon bezeichnend, dass die IPTV o.ä.-Beispiele erst jetzt genannt werden.

      1. Guten Morgen. Alle Streaming Dienste können mit best-effort keine zugesicherte Qualität erreichen.

      2. @Philip Engstrand: So ausgelegt lässt sich beinahe alles zum Spezialdienst umdefinieren. Was durchaus beabsichtigt sein dürfte.

      3. @Tomas.

        Es ist nicht direkt so, das das Auslegungssache wäre. Eine best effort heist: keine Garantie, Übertragung nur wenn freie Kapazität. Damit kann man kein Streaming mit fester Qualität betreiben.

  2. Wie ich Öttingers Kompetenz einschätze, müsste die Überschrift lauten:
    Öttinger antwortete, ohne irgend entwas auszusagen.
    Wieso DER Mann ein solches Amt bei solcher Bezahlung hat, ist mir schleierhaft, schließlich hat er in BW seine Unfähigkeit hinlänglich demonstriert

  3. Also wir sollten uns einfach mal das Gesetz der USA ankucken und das zum größten teil übernehmen.
    Spezialdienste braucht keiner mann muss nur ein gut AUSGEBAUTES NETZ haben! Und warum darf denn Internet TV auf die Überholspur das ist keine Wichtige Anwendung die kann auch ein paar Sekunden später kommen.
    Wird es in Zukunft nur noch Spezialdienste geben?

      1. … und natürlich weise ich an der Stelle wiederum auf den voll-neutralen Netzbetreiber hin, den Jens Best gründen möchte. Best-Net.

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