Chelsea Manning: Der Mut zur Wahrheit

Happy Birthday, etwas Zynischeres ließe sich wohl kaum sagen. Und dennoch: Alles Gute, Chelsea Manning und danke, denn das kann man wohl nicht oft genug wiederholen, danke für deine Courage und deinen Willen, die Wahrheit mit uns zu teilen.

Rund 1300 Tage hat Chelsea Manning bereits im Gefängnis verbracht. Vier Geburtstage waren darunter. Gemäß dem Urteil vom August werden noch fast 12000 Tage folgen. Am Ende ihrer Haft wird Manning fast 60 Jahre alt sein. Ihre Freunde und Bekannten werden dann ein Leben gehabt haben, vielleicht eine Karriere, Familie und Kinder. Zwar hat sie die Möglichkeit, nach neun Jahren einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung zu stellen. Dennoch hat Chelsea Manning ihre Freiheit und ihre Zukunft gegen das Ideal des Wahrsprechens getauscht. Heute ist ihr 26. Geburtstag.

Genau eine Woche vor Heiligabend. Jenem Datum, das zumindest in der christlich geprägten Welt auch für das bedingungslose Eintreten für das eigene Wahrheitsideal steht.

Manning wolle eine Debatte „über die Rolle des Militärs und unserer Außenpolitik“ starten, sagte sie im Februar. Wofür könnte, wofür sollte also das heutige Datum künftig stehen? Die Antwort lässt sich aus den Videos und Dokumenten ableiten, die die ehemalige Obergefreite vor knapp vier Jahren aus Gewissensgründen mit Wikileaks geteilt hatte.

Bagdad, 2007: „Sieh dir diese toten Bastarde an“, sagt eine verrauscht klingende Männerstimme in ein Funkgerät. „Gut geschossen“, antwortet der andere anerkennend. „Danke.“ 2010 veröffentlichte Wikileaks das Video „Collateral Murder“. Die Szenen zeigen die absolute Pervertierung des Krieges durch Distanz, räumliche und emotionale. Direkt durch die Zielkamera eines US-Armeehubschraubers sieht man die Straßen der irakischen Hauptstadt. 17 Minuten bedrückende Leblosigkeit. Die wenigen Menschen die auftauchen, werden von den Soldaten aus ihrem Cockpit heraus erschossen. Die Bilder zeigen den Tod von mindestens 12 Menschen. Die Zuschauer werden zu Mitwissenden. Sie sehen, das Töten geschieht ohne erkennbare Gründe. Einer der Männer, der Reuters-Journalist Saeed Chmagh, ist verwundet, schleift seinen Körper an den Straßenrand. Dann hält ein schwarzer SUV, drei Männer steigen aus, wollen helfen. „Kann ich schießen?“, fragt die Stimme im Helikopter. Die Männer heben den Körper, wollen ihn ins Auto tragen. „Komm schon, lass uns schießen!“ Der Befehl tönt aus dem Lautsprecher. Die Männer auf der Straße kippen um, sterben. Saeed Chmaghs Körper entgleitet den Händen der verhinderten Retter. Im Auto werden zwei Kinder schwer verletzt. Die Straße ist in Staubwolken gehüllt, durch die Wucht der Detonationen. Etwa 600 Schuss pro Minute feuert ein Apache-Hubschraubers auf sein Ziel. Ob die Männer auf der Straße überhaupt bewaffnet waren, bleibt unklar.

Durch den Mut und das zur Tat gewordene Gewissen von Chelsea Manning haben wir tiefe Einblicke in die Abgründe des Irakkriegs, des Afghanistankriegs, der internationalen Diplomatie und der Menschenrechtsverletzungen im US-Gefangenenlager Guantanamo bekommen. Die Dokumente erzählen Geschichten von Folter, von unschuldig Inhaftierten, toten Zivilisten und kalter Ignoranz. Es ist die Innensicht der Beteiligten. Durch die Kriegsdokumente aus dem Irak und Afghanistan konnte die US-Öffentlichkeit begreifen, an welche Front sie ihre Soldaten geschickt hat. Mannings Enthüllungen haben im Sinne der Transparenz und öffentlicher Diskurse politische Geheimroutinen durchbrochen.
Aber 35 Jahre Haft, lange Monate ohne Anklage und mit der Aussicht auf die Todesstrafe. War es das wert?

Wahr-Sprechen: Risiko und Pflicht

Michel Foucault würde die Frage wohl mit einem klaren „ja“ beantworten.
„Der Mut zur Wahrheit“, unter diesem Titel veröffentlichte Suhrkamp die letzte Vorlesungsreihe des französischen Philosophen. Kurz vor seinem Tod 1984 sprach dieser vor Studenten im Collège de France in Paris von den „Parrhesiasten“, den Wahrsprechenden, einem Konzept der Antike.
„Er lüftet den Schleier der Gegenwart. […] Der Parrhesiast ist nicht jemand, der sich grundsätzlich in Zurückhaltung übt. Im Gegenteil, seine Aufgabe, seine Pflicht, seine Mission besteht im Sprechen, und er hat nicht das Recht, sich dieser Aufgabe zu entziehen“, erklärt Foucault.
Und er geht noch weiter: „Dieser Aufgabe wird er sich nicht entziehen. Selbst wenn er vom Tod bedroht ist […] Sein Wort in den Angelegenheiten des Staats zu sagen, dieses Recht wird von dem Ausdruck parrhesia bezeichnet.“
Das Wahrsprechen der Parrhesiasten beinhaltet immer das persönliche Risiko, Machtlosigkeit gegenüber den Kritisierten und die Idee der moralischen Pflicht zur Enthüllung. Whistleblower sind Parrhesiasten. Und wir brauchen sie.

Denn Wissen ist das Schmiermittel unserer Gesellschaft. Die Wahrheit sollte verteilt werden, damit sich Menschen zu ihr verhalten und politische Legitimation entziehen oder vergeben können. Trotzdem spielt sich Whistleblowing bestenfalls in einer rechtlichen Grauzone ab. Bei der Bewertung dieses moralischen Verrats, verortet sich die Gesellschaft immer wieder neu zu ihrer Rechtsstaatlichkeit. Die Obama-Regierung hat sich klar positioniert. John Kiriakou, Thomas Drake, Shaimai Leibowitz, Stephen Jin-Woo Kim, Jeffrey Sterling, Bradley Manning – unter US-Präsident Barack Obama wurden doppelt so viele „Geheimnisverräter“ nach dem Espionage Act von 1917 angeklagt, als unter allen seinen Vorgängern. Insgesamt sechs. Wenn es nach den USA ginge, dann wäre Edward Snowden der nächste.

Parrhesiasten hören niemals auf zu fragen, sagt Foucault. Wir alle müssen zu Wahrsprechenden und Wahrheits-Fragenden werden. Daran sollte uns der Geburtstag von Chelsea Manning erinnern.
Ganz besonders hier in Deutschland, jenem Land, das vorgibt aus seinen beiden Diktaturen gelernt zu haben. Das Traurige ist: Wenn Menschen kommen, die sich bedingungslos für Demokratie, Freiheit und notwendige Diskurse einsetzen, hilft Deutschland ihnen nicht. Hätte es je zur Debatte gestanden, Chelsea Manning hätte in Deutschland wie Snowden wohl kein Asyl bekommen.

Deshalb sollten wir nicht aufhören, unsere Politiker dazu aufzufordern:

  • Bessere Whistleblower-Gesetze zu erlassen
  • Den Wahrheits-Mutigen dieser Welt politisches Asyl zu gewähren
  • Die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit den USA wenigstens so lange auszusetzen, bis eine „Lösung“ für den Überwachungsskandal gefunden wurde, wie es der Journalist und Verleger Jakob Augstein kürzlich in die Debatte eingebracht hat

Das alles sollten wir einfordern. Am besten gleich heute.

11 Ergänzungen

    1. Mit Verlaub – es ist ein wenig hinterwäldlerisch die geschlechtliche Identität (Gender) eines Menschen am Sexus festmachen zu wollen. Manning hat öffentlich erklärt, sie fühle sich als Frau, also ist sie eine Frau. Jegliche Therapie (ob nun „nur“ hormonell oder auch Operation) wird ihr leider versagt. Nicht mal ihr Äußeres darf sie entsprechend anpassen.

      By the way: Nicht jede Mann-zu-Frau-Transsexuelle möchte sich operieren lassen.

  1. Alles gute zum Geburtstag von Frau Manning. Dadurch, dass Whistleblower, wie Manning und Snowden, ihre Freiheit für uns riskieren und opfern, werden wir befreit.

  2. Leute wie sie geben mir wenigstens etwas Vertrauen in die Menschheit zurück. Und trotz der drakonischen Bestrafung haben sich schon würdige Nachfolger gefunden. Happy Birthday Chelsea! Mut ist ansteckend!

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.