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BreakpointGefangen in der Vereinzelung

Ein neoliberaler Zeitgeist rät uns zu Einsamkeit und Ignoranz, damit wir uns besser fühlen. Doch was wir brauchen, ist das genaue Gegenteil: mehr Sorge füreinander und mehr Gemeinschaft.

Eine gemütliche Sitzecke mit Duftkerze vor einem vergitterten Fenster
Selfcare mit Duftkerze. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Alisa Anton

Alleinsein tut gut. Am besten geht es uns, wenn wir mit einem Iced Matcha Latte in der Hand auf dem Bett sitzen, eine Gesichtsmaske tragen und uns die neue Staffel unserer Lieblingsserie gönnen. Andere Menschen brauchen wir dabei nicht. Von denen müssen wir uns an solchen Selfcare-Tagen möglichst fernhalten.

Wer es sich gut gehen lassen will, der geht nicht raus, der bleibt daheim. Wenn er sich vernetzt, dann höchstens digital. Statt zu kommunizieren, konsumiert er lieber. So ist er zufrieden. Und so ist er unglaublich frei – vor allem von der Last anderer Menschen.

Diesen Lifestyle bewerben Influencer derzeit in Kurzvideos auf TikTok oder Instagram. Ein geeistes Milchgetränk hier, ein Wellnessurlaub dort, dazu am liebsten noch ein neues Kleidungsstück online shoppen. Und die Lohnarbeit wird natürlich ebenfalls remote erledigt.

Auf diese Weise kommen wir dann zur ersehnten Ruhe – durch die Abwesenheit von Freunden, Partnern, Familienmitgliedern, Bekannten und erst recht von den Kollegen.

Selfcare, weil wir anderen nichts schulden

Die Idee eines derart befreiten Ichs verkaufen uns Influencer und Unternehmen. Wirklich um uns sorgen, so ihr Narrativ, das müssen wir uns vor allem selbst tun – frei von anderen. Frei von all den Verpflichtungen und Zwängen der Gemeinschaft.

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Diese sogenannte Selfcare soll man nicht hinterfragen, sondern einfach leben. Der besten Freundin absagen oder doch nicht zur Familienfeier kommen, dem Kumpel lieber nicht beim Umzug helfen und mittags in Ruhe am eigenen Schreibtisch statt mit den Kollegen in der Kantine essen. Anderen schuldet man schließlich nichts. Warum also Mühen auf sich nehmen, wenn man sich währenddessen mit sich selbst beschäftigen kann?

Sich um sich selbst zu kümmern, ist legitim. Auch soziale Events abzusagen oder weniger Zeit unter Menschen zu verbringen, kann guttun und etwa dabei helfen, der ständigen Reizüberflutung zu entkommen. Die Verklärung der sozialen Isolation und Ignoranz zum Lifestyle ist jedoch nicht nur falsch, sondern schädlich.

Das falsche Versprechen der Befreiung

Was wir da in kurzen Videoschnipseln als Selbstfürsorge präsentiert bekommen, fügt sich hervorragend ein in einen neoliberalen Zeitgeist. Er stellt das Individuum nicht nur über die Gemeinschaft, sondern zugleich den Wert von Gemeinschaft in Abrede.

„There is no such thing as society“, brüllen einem die Videos regelrecht entgegen, in denen Influencer Pilates üben, Protein-Shakes trinken, Freundinnen meiden und dabei ganz für sich bleiben. Sie verbreiten die Idee, man sei niemandem außer sich selbst verpflichtet. Deswegen sei es nicht mehr als das natürliche eigene Recht, die (sozialen) Bedürfnisse Anderer zu ignorieren – und das ganze dann Selfcare zu nennen.

Andere Menschen sind in dieser Ideologie vor allem Wesen, die einem selbst Energie rauben. Das Bedürfnis von Freunden und Familie, sich um sie zu sorgen und ihnen zu helfen, darf man deswegen getrost ignorieren. Und wer könnte empfänglicher sein für eine solche Botschaft, als Menschen, die ohnehin schon in eben jenem Moment mutmaßlich alleine am Bildschirm kleben und ein Kurzvideo nach dem anderen konsumieren, statt Zeit mit anderen zu verbringen?

Uns fehlen dieses Jahr noch 303.670 Euro.

Diese neue Welle des vorgeblichen Individualismus verspricht Befreiung. Am Ende führt dieses Hirngespinst des von der Gemeinschaft losgelösten Menschen jedoch nur zur Vereinzelung. Und diese Vereinzelung hat einen Zweck: Wer einsam – oder neutraler: allein – ist, verbringt folgerichtig weniger Zeit mit anderen Menschen. Er organisiert sich seltener politisch. Wozu auch? Es zählen doch nur die eigenen Interessen. Und er kümmert sich nicht um andere und verliert im Zurückgezogensein der Ich-Bezogenheit das, was er eigentlich hervorbringen wollte: sich selbst.

Gemeinschaft ist die beste Fürsorge

Die Grundannahme, wir wären nur uns selbst verpflichtet, ist falsch. Wir schulden einander etwas und dieses Etwas ist nicht mehr und nicht weniger als Gemeinschaft und gegenseitige Fürsorge.

Der Preis für diese Gemeinschaft ist, häufiger als uns vielleicht lieb ist, Unannehmlichkeit. Es ist anstrengend, dem Freund Beistand nach einem Trauerfall zu leisten oder die Kinder der Cousine zu hüten. Und es mag sich wie Selfcare anfühlen, genau das nicht zu tun.

Diesen Preis sollten wir aber bereit sein zu zahlen. Denn nur kurzfristig mag es uns besser gehen, wenn wir Verantwortung für andere von uns weisen. Langfristig aber sind wir auf Gemeinschaft und Fürsorge angewiesen. Und diese Fürsorge kann es nur geben, wenn sich Menschen umeinander kümmern. Wenn sie füreinander Verantwortung übernehmen.

Darum: Lasst euch nicht vereinzeln. Wer den Influencer-Scharlatanen auf den Leim geht und seine Beziehungen vernachlässigt, um vermeintliche Selfcare zu betreiben, der droht, sich in der Einsamkeit zu verlieren. Diesen Gefallen sollten wir all jenen, die uns vereinzeln wollen, nicht tun.

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12 Ergänzungen

    1. Wenn das Engagieren bedeuten soll, Kontakte pflegen gehe nur über Messengerdienste, Jahreskarten zur Hobbyausübung gibt es nur digital und der Mitgliedervertrag einer Partei sieht vor, dass Daten zur statistischen Erhebung benutzt werden können, dann nein. Dann bevorzuge ich es, alleine zu bleiben.

      1. Konsequenterweise haben Sie weder Kranken- noch Sozialversicherung, wohnen zur Untermiete und zahlen alles in bar. Darf halt nichts schiefgehen.

        Müssen Sie nur aufpassen, dass Sie nicht als potentielle ex-RAF verhaftet werden 8)

          1. Nein, das ist Kontext und Perspektive zu der vertretenen Position.

            Entweder hat man so hohe OpSec-Bedürfnisse oder man hat sie nicht. Selektive OpSec ist keine OpSec sondern Selbstbetrug, das kann man sich ersparen.

            Daniela Klette ist ein aktuelles Beispiel.

  1. was der beitrag nicht beleuchtet ist, dass vereinzelung ganz konkret foerderlich ist fuer den produktabsatz in kapitalistisch organisierter wirtschaft.

    wenn ich nicht einmal mehr mit meinem nachbarn in gleichen haus rede, dann werde ich vermutlich eher in den baumarkt gehen und mir ein werkzeug kaufen, statt es sich gegenseitig auszuleihen, wenn man eines benoetigt. wenn alle im haus so handeln, sind ploetzlich in einem fuenf-parteien-haus fuenf mal der akkuschrauber, dreiecksschleifer, renovierset, etc. vorhanden.

    das laesst sich fortsetzen mit dem besitz & unterhalt von fahrzeugen, der bewirtschaftung von gruenflaechen, der nutzung von internetzugaengen & streamingdiensten, arzneien, haushaltspflegemitteln, haushaltsgeraeten, etc., ueberall hier lohnt es sich die leute fein saeuberlich zu vereinzeln, um JEDEM EINZELN zu verkaufen, was er in gemeinschaft nutzen koennte, wenn diese leute miteinander reden wuerden und der begriff „gemeinnutz“ fuer diese menschen nicht als links-gruen-versiffter kampfbegriff normalisiert worden waere.

    joa, menschen, ey. lassen sich halt prima durch angstmache und die saat von misstrauen beeinflussen so dass sie nicht mehr miteinander reden sondern nur noch angst voreinander haben.

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