Was wäre eigentlich, wenn sich nicht diejenigen rechtfertigen müssten, die protestieren, sondern diejenigen, die gleichgültig zu Hause sitzen? Diese und viele andere Fragen stellt der Autor, Journalist und Podcaster Friedemann Karig in seinem neuem Buch „Was ihr wollt“, in dem er das Thema Protest und dessen Wirkung beschreibt. Und wieder mal zeigt sich: Egal, was man von Karig liest, immer fühlt man sich auf diese unaufgeregt freundliche Weise klug informiert.
Karigs Buch gibt viele Denkanstöße und Quellen, wie die Hinweise auf Gene Sharp und seine 198 Taktiken des gewaltfreien Protests, auf die Bücher von Robert Helvey (PDF) oder „This is an Uprising“ von Mark und Paul Engler. Mit theoretischer Untermauerung von Arendt, Thoreau, Foucault und Marcuse rahmt Karig sein Verständnis von Protest und vor allem auch von zivilem Ungehorsam.
Karig zeigt mit diesen unterschiedlichen Quellen und mit zahlreichen Beispielen aus der Protestgeschichte – vor allem Serbiens „Otpor!“, Indiens Unabhängigkeitsbewegung und der US-Bürgerrechtsbewegung – dass Protest wirksam sein kann und wo er ansetzen muss, um an den verschiedenen Säulen der Gesellschaft zu wirken.
Im Zentrum steht dabei das, was Karig „Triggerpunkte“ nennt, also ein Thema, ein Ort und eine passende Protestform, die zusammen wie im Brennglas das Anliegen bündeln, den wunden Punkt des Gegners offenlegen und diesen in ein Dilemma bringen.
Für Protest-Aficionad@s mögen diese Taktiken und Quellen nicht neu sein, denn auch moderne Protestbewegungen wie Extinction Rebellion und die Letzte Generation berufen sich auf diese Theorien und haben gezeigt, dass dieser theoriegestützte Zugang zum Aktivismus, der eher auf bestimmte Taktiken und Methoden setzt als einfach aktivistisch draufloszuprotestieren, mindestens zu Aufmerksamkeit führen kann.
Endgegner Gleichgültigkeit
Dabei ist das Buch eine informierte Liebeserklärung an Politisierung und zivilen Ungehorsam, an kreative Proteste und große soziale Bewegungen, die etwas ins Rollen bringen und die Welt verändern wollen.
Im Zentrum von Karigs politischem Kosmos steht die Klimakrise, hier sieht er weder die Bundesregierung noch internationale Organisationen als Akteure, die derzeit etwas verändern würden um die nahende Katastrophe noch stoppen. Die Untätigkeit der Mächtigen wird dabei befeuert durch unsere hoffnungslose Untätigkeit und Gleichgültigkeit, in der wir nicht das Potential und die Möglichkeiten des Protests erkennen, die da auf der Straße liegen.
Es liegt also an uns, die Faust zu ballen und zusammen mehr zu protestieren, um die Mächtigen zu Veränderung zu zwingen. Und zwar mit der ganzen Bandbreite des Protests – von Kommunikationsguerilla bis zivilem Ungehorsam. Lediglich gewaltvollem Protest erteilt Karig eine strategische Absage, weil er die Protestakteure selbst zu Antagonist:innen und es dem Adressaten des Protests zu einfach macht aus dem Dilemma zu entkommen.
Auf Seite 162 verdichtet Karig sein Verständnis von effektivem Protest:
Effektive Bewegungen schaffen ein hoffnungsvolles Gruppenbewusstsein, ein Wir, das sich über verletzte Werte und Normen, also einen gemeinsamen Affekt des Unrechts definiert. Dazu bedarf der Protest einer narrativen Verdichtung in Form einer Erzählung der Ungerechtigkeit, die symbolkräftig in die Öffentlichkeit getragen wird. Wenn er dabei eindeutige Antagonisierungen schafft, also die Struktur des Konflikts in Gegensätze wie Wir-Die, richtig-falsch, konstruktiv-destruktiv herunterbricht, erreicht er eine moralische und kommunikative Klarheit, die wie eine heilende Essenz in alle Bereiche der Gesellschaft wirken kann. Das mittels seiner eindrücklichen Erzählung konstituierte Kollektiv muss dann hartnäckig und in allen Säulen der Gesellschaft nach Verbündeten suchen und seine Gegenspieler immer wieder in Dilemma-Situationen bringen, in denen selbst heftige Repressionen und Rückschläge letztlich nur die Standpunkte der Bewegung bestätigen.
Man merkt dem Buch an, dass es in der Zeit der Protest-Resignation des Jahres 2023 entstanden ist als eine Art Weckruf und Hoffnungsgeber – und dann bricht kurz vor Veröffentlichung des Buches plötzlich die Protestwelle gegen Rechts über das Land herein, bei der im Januar und Februar mehrere Millionen Menschen auf die Straße gegangen sind. Die bringt Karig etwas hastig in einem hoffnungsvollen Epilog unter, in dem er die wohlige Wärme beschreibt, die dieser große Protest bei ihm und vielen anderen ausgelöst hat. In allem Pessimismus über die drohende Klimakatastrophe verweist er mit dem ganzen Buch auf die Hoffnung, die Proteste mit sich bringen und dass sie und die Suche nach Antworten eine Aufgabe von überwältigender Schönheit seien. Recht hat er.
Netter Versuch.
Ein Blick in den Versammlungkalender Berlin ( https://www.berlin.de/polizei/service/versammlungsbehoerde/versammlungen-aufzuege/ ) ruiniert allerdings die Lust auf Demonstrationen: wir müssten wohl erst einmal den Kampf gegen fake news gewinnen, wir müssten „unsichtbare“ echte Bedrohungen ( Klima! Überwachungsstaat! ) erlebbar und sichtbar bekommen, wir müssten unterscheiden lernen zwischen „unsere Aufgabe!“ und „tralala“, …
wir hier in Europa müssten akzeptieren, dass es keine einfachen Lösungen gibt ( Grüße an die Putin-Versteher), wir müssten aufrichtig gegen uns selbst sein ( f4f statt Flugreise ), wir müssten wichtige Themen im Fokus der Medien lassen (netzpolitik.org-Themen: wo sind die in meiner SZ / ARD/ZDF … ?), und wir müssten Engagement (für Edward Snowdens Freiheit: er lebt noch!!!) gegen bequeme „Betroffenheit“ tauschen.
Wir sollten Gutes =>TUN (!)<= statt verbittert auf Demos herumstehen, die offensichtlich nix ändern.
Irgendwie kommt das Buch wohl für mich "zu spät" : )
Wusste Karig schon von dem derzeit viel diskutierten Buch „Triggerpunkte“ von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, das ja erst im Oktober 2023 erschienen ist? Soviel Zufall kann eigentlich nicht sein. Und diskutiert er in diesem Zusammenhang auch rechte bis rechtsextreme Proteste und Bewegungen? Danke.