Avatar Autor:in

DegitalisierungAt Scale

Die vergangenen Tage haben deutlich gemacht, wie sehr wir Fürsorge-Infrastruktur brauchen. Im Großen wie im Kleinen, im Netz wie in der analogen Welt. Nur dann können wir auch füreinander da sein und für die Belange aller eintreten. Und sie gegen all jene verteidigen, die nur ihre ganz eigenen Interessen verfolgen.

Menschen, die tagsüber in der Nähe der New Yorker Stadtbibliothek spazieren gehen
Ein öffentlicher Ort: die New Yorker Stadtbibliothek. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Clay Banks

Die heutige Degitalisierung hat es nicht leicht nach dieser politisch eskalierten Woche mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und dem Ende der Ampel in Deutschland. Gar nicht leicht. Es gibt Tage wie den 6. November 2024, an denen auch ich mit offenem Mund dasitze und nicht so recht weiter weiß.

Egal, was Euch persönlich weiterhilft, um mit der politischen Situation umzugehen, sucht Euch Verbündete. Seid nicht gleichgültig. Dann seid ihr schon gemeinsam, schrieb ich vor gar nicht allzu langer Zeit in der Kolumne von September.

Um den Glauben an die Menschheit, die ganze Politik und den Digitalkram nicht zu verlieren, möchte ich die heutige Kolumne mit einem Spielplatz in Helsinki beginnen. Das mag in dieser Zeit etwas sonderbar klingen, aber ich erkläre vielleicht mal, wieso es den Kern unseres Problems, speziell auch im netz- und digitalpolitischen Raum, doch sehr gut trifft.

Ruoholahti

Im Stadtteil Ruoholahti in der finnischen Hauptstadt Helsinki gibt es einen Spielplatz. Es ist ein besonderer Spielplatz, der Kindern spielerisch erste Grundprinzipien von Computern beibringen will. Mit einer Tastatur zum Draufstehen und If-Else-Schleifen, die auf den Boden gemalt sind. Und noch so ein paar anderen spannenden spielerischen Umsetzungen von Computerbausteinen oder Konzepten der Informatik. Digitaltechnik in ganz anderer Skalierung quasi.

Vorgestellt hat das Konzept dieses Spielplatzes die Autorin und Illustratorin Linda Liukas diese Woche auf der empfehlenswerten Design- und Entwicklungskonferenz Beyond Tellerrand in Berlin. Einer der vielen möglichen Orte, um Verbündete zu suchen, Menschen, denen die digitale Welt nicht gleichgültig ist.

Zentral für mich war in diesem Talk ein Satz, der den Zweck von gemeinsamen Orten wie Spielplätzen umschrieben hat: „Infrastructure is care at scale“.

So ein Spielplatz kann als physische Infrastruktur ein Ort sowohl für Fürsorge, Spaß, Neugierde, Freundschaft, Ablenkung als auch kleinere Dramen in großem Ausmaß sein. Für viele Kinder auf einmal, aber auch für Eltern und Angehörige. Ein öffentlich zugänglicher Ort in Helsinki, der nicht nur auf Finnisch, sondern auch in vielen anderen Sprachen darauf hinweist, dass dies ein öffentlicher Platz für alle sein soll.

Eine groß angelegte Fürsorge-Infrastruktur also, so wie es sie auch im digitalen Raum geben könnte oder sollte. So wie das World Wide Web vielleicht irgendwann auch hätte sein sollen.

„This is for everyone“ werde ich nicht müde, Tim Berners-Lee ursprüngliche Absicht zu zitieren, das World Wide Web als universellen digitalen Ort für uns alle zu begreifen.

Rich Boys Digital Playground

Davon aber scheinen unsere digitalen Fürsorge-Infrastrukturen heute weiter weg zu sein als jemals zuvor. Sie verkommen zum großen persönlichen digitalen Spielfeld einiger reicher Milliardäre. Ein Spielfeld, auf dem wir alle unweigerlich noch mehr oder weniger aktiv mitspielen, ob wir wollen oder nicht.

Spätestens mit der US-Wahl 2024 dürfte es uns allen klar geworden sein, dass von Sozialen Netzwerken mit algorithmischen Timelines sowie Eignern und Werbekunden mit eigenen politischen Interessen eine Gefahr ausgeht. Und zwar at scale.

Dazu wurde an dieser Stelle schon einiges geschrieben, von Ingo etwa. Das Netzwerk unter der Hoheit von Elon Musk, das wir mal als Twitter zu einem zentralen Platz unseres digitalen Dorfes gemacht haben, das aber spätestens seit der Umbenennung zu X komplett nach rechts bis faschistisch abgedriftet ist. Musk Egozentrik at scale, die Trump zum Wahlsieg verholfen hat.

Als Gegenmaßnahme wurde etwa die Vergesellschaftung solcher Netzwerke vorgeschlagen. Allerdings stellt sich die Frage, wann eigentlich der richtige Zeitpunkt war, sich dafür einzusetzen, dass soziale Netzwerke auch wirklich sozial und offen für alle bleiben.

Die Wurzel ihres Übels ist mehr oder weniger der teuflische Kreislauf aus algorithmischen Timelines und Kapitalismus. Algorithmische Timelines, die zu mehr Engagement führen sollen, damit die Userbasis der Plattformen wächst. Eine größere Userbasis, damit User*innen länger in Sozialen Netzwerken verweilen. Mehr Verweildauer, damit mehr Werbung verkauft werden kann, die durch genaueres Targeting noch besser wirkt, angeheizt durch clickbaitige oder besonders polarisierende Posts.

Die Grundlagen dafür wurden im Jahr 2016 bei Twitter, Instagram und zu einem kleineren Teil bei Facebook mit der Einführung der algorithmischen Timelines gelegt. Soziale Netzwerke waren schon vor der Änderung der Timelines keine besonders fürsorglichen digitalen Infrastrukturen. Nur hätte spätestens mit der Rolle Facebooks im Jahr 2017 am Genozid an den Rohingya in Myanmar klar sein müssen, welch verheerenden Konsequenzen fehlgeleitete Soziale Netzwerke haben können.

Damals aber hat sich in Europa und in den USA kaum jemand um dieses Problem gekümmert, es ging am Ende ja nicht um die eigenen Leute oder um die eigene Demokratie.

Wenn wir es also versäumen, uns frühzeitig gemeinsam um unsere gemeinsamen öffentlichen digitalen Plätze zu kümmern, haben wir irgendwann keinen gemeinsamen digitalen Ort mehr, sondern nur noch eine dystopische Version davon.

Der Beststeller-Code

Dabei gibt es immer wieder auch vermeintlich kleine technologische Veränderungen, die kaum diskutiert werden, die aber große Auswirkungen auf uns alle haben können. Veränderungen, zu denen wir gemeinsam lautstark und auf breiter Front Alternativen einfordern sollten.

Ende Oktober berichtete die Süddeutsche Zeitung (€) über ein neues Produkt von Media Control, leider hinter einer Paywall, was für sich selbst ein anderes Problem at scale ist. DemandSens, so der Name eines neuen Prognosemodells für Buchverkäufe, soll „Absatzprognosen auf dem deutschen Buchmarkt durch KI und Machine-Learning-Algorithmen“ mit sehr hoher Präzision ermöglichen, durchschnittliche Trefferquote 85 Prozent. Media Control ist schon lange für die Datengrundlage für Bestsellerlisten oder die deutschen Kinocharts zuständig.

DemandSens soll nun die Vorhersage von Buchverkäufen ermöglichen. Der Buchmarkt könnte so ebenfalls zu einer Art algorithmusgesteuerter Blase wie die ehemals sozialen Medien werden. Ein Buch, das keine Aussicht auf wirtschaftlichen Erfolg hat, dürfte dann eher ungern publiziert werden. Ein vermeintlich kleines technologisches Detail, das aber erhebliche Auswirkungen auf den Buchmarkt und damit unsere Kultur haben könnte.

Wenn wir uns alle gemeinsam nicht für einen vielfältigen Buchmarkt einsetzen, lesen wir wohl irgendwann nur noch synthetische Einheitsliteratur, die allein auf Markterfolg getrimmt ist – at scale.

Sich kümmern müssen – at scale

Am 6. November 2024 ist mir eines klar geworden: Dass wir uns in der nächsten Zeit noch viel mehr kümmern müssen. Um ganz reale Spielplätze, weil es gerade in düsteren Zeiten ohne Freude, Neugierde und Fürsorge füreinander nicht gehen wird.

Und wir werden uns noch mehr um eine mediale Landschaft kümmern müssen, die nicht von Algorithmen gesteuert wird. Eine mediale Landschaft, die Raum schafft für die Stimmen von Minderheiten, die im Kampf um Aufmerksamkeit ansonsten schnell untergehen.

Wir werden uns sehr schnell darum kümmern müssen, Abhängigkeiten im digitalen Raum abzubauen – sei es von einigen wenigen amerikanischen Cloudanbietern oder der Meinungsmacht einiger weniger ehemals Sozialer Netzwerke.

Wir werden uns darum kümmern müssen, dass es speziell im baldigen Bundestagswahlkampf – der eher früher als später kommen wird – Raum für all die Themen gibt, die nicht besonders aufmerksamkeitsträchtig sind. Gerade dann, wenn die Agenda von den Themen Migration und innere Sicherheit bestimmt wird.

Fürsorge beginnt im Kleinen. Mit uns allen gemeinsam. Mit Interesse für die Belange anderer Menschen. Mit dem Einsatz für die Belange von Minderheiten.

Wir brauchen weder größere digitale vermeintlich Sozialen Netzwerke noch größere KI-Modelle oder weitere populistische Themen. Wir brauchen gemeinsame öffentliche digitale Räume, in denen wir wieder füreinander und für unsere individuellen Belange da sein können. Ohne Blick auf den möglichen Scale.

13 Ergänzungen

  1. > dass soziale Netzwerke auch wirklich sozial und offen für alle bleiben

    Ist ein Mensch, der ein „soziales Netzwerk“ benutzt ein sozialer Mensch?
    Sind soziale Netzwerke Sammelbecken sozialer Menschen?

    Was ist „wirklich“ sozial? (wirklich „wirklich“?!)

    Last but not least and not at all an offense:
    Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein!

    1. Das ist eine Überinterpretation. Das ganze kommt wahrscheinlich von „social interaction“ und hat mit Sozialismus oder sozialer Marktwirtschaft rein gar nichts zu tun.

      Es könnte jetzt sozial werden, im Sinne sozialer Marktwirtschaft, wenn man die Regeln entsprechend setzt und hegt und so Sachen macht.

  2. Was an diesen Netzwerken ist sozial?
    Wenn das Attribut „sozial“ nicht zutrifft, warum benutzen Menschen weiterhin einen irreführenden Begriff?

    Wenn das Attribut „sozial“ für diese Netzwerke zutrifft, wie ist dann „sozial“ zu verstehen?

    Welchen Zweck haben diese kommerziellen(!) Netzwerke, und für wen?
    Die Förderung des Sozialen im Digitalen?

    1. S.o.:

      Das ist eine Überinterpretation. Das ganze kommt wahrscheinlich von „social interaction“ und hat mit Sozialismus oder sozialer Marktwirtschaft rein gar nichts zu tun.

      Es könnte jetzt sozial werden, im Sinne sozialer Marktwirtschaft, wenn man die Regeln entsprechend setzt und hegt und so Sachen macht.

  3. > Eine mediale Landschaft, die Raum schafft für die Stimmen von Minderheiten, die im Kampf um Aufmerksamkeit ansonsten schnell untergehen.

    Es gibt lautstarke Minderheiten, die es geschafft haben, sich als leicht erkennbares Ziel erkennbar zu machen, und damit zum Ziel ihrer Gegner. In zunehmend dunklen Zeiten könnte der Rat lauten, mit weniger Aufmerksamkeit, aber dafür effektiver zu Kämpfen.

    Ich frage mich schon seit Jahren, wessen und welche Bedürfnisse die Erregung von möglichst großer Aufmerksamkeit befriedigt. Dazu habe ich Teilnehmer von Demos (privat) befragt, und nach längerem Gespräch Aussagen bekommen wie „kann sein, dass ich damit nichts erreiche, aber wenn ich mitmache, dann fühle ich mich wenigstens besser“. Nun ja, …

    1. Auf der positiven Seite funktioniert Demokratie so. Autokratie eigentlich auch, aber die Schnittstellen zur Aufmerksamkeit hin sind oftmals zugenagelt und gefährlich zu beschreiten.

      Bei erodieren des Verantwortungsaspektes wird es allerdings schnell prekär, dazu die unbalancierten Regeln für Lobbyismus. Eigentlich muss etwas Aufmerksamkeit erlangen, um Repräsentation erfahren zu können. Das muss allerdings nicht den Weg der Aufregung bedeuten, und wir wären gut beraten bessere Prozesse zu finden.

  4. > Wir brauchen gemeinsame öffentliche digitale Räume, in denen wir wieder füreinander und für unsere individuellen Belange da sein können.

    Streiche „digitale Räume“ und ersetze durch „Räume“. Dann könnte es gut werden.

  5. > Mit einer Tastatur zum Draufstehen und If-Else-Schleifen, die auf den Boden gemalt sind.
    Das mag zwar jetzt pedantisch sein, aber „If-Else-Schleifen“ verursacht mentale schmerzen, da es sich nicht um eine Schleife (etwas was wiederholt wird) handelt sondern um eine Verzweigung.

    1. Dumm argumentiert und eigentlich auch nicht Ernst gemeint:

      Mit einem If-Else Branche beschreiben wir ja auch erstmal nur syntaktischen Zucker für einen Programm-Ablauf, der durch Konditionen verschiedene Aktionen ausführt.
      Eben diesen Ablauf kann man immer auch mit einer while-Schleife / goto angeben, da sie ja touring-complete sind.
      Demnach könne man schon sagen, dass es sich um eine If-Else-Schleife handelt, wenn man sie syntaktisch als While-loop implementiert ^

      Aber ja, mag den Begriff von „If-Else-Schleife“ auch nicht so :)

  6. Danke, Bianca, für:

    „[…] im Netz wie in der analogen Welt. Nur dann können wir auch füreinander da sein und für die Belange aller eintreten. Und sie gegen all jene verteidigen, die nur ihre ganz eigenen Interessen verfolgen. […]“

    „Was du nicht willst, da man dir (an)tut, daß füg‘ auch keinem anderen zu.“

Wir freuen uns auf Deine Anmerkungen, Fragen, Korrekturen und inhaltlichen Ergänzungen zum Artikel. Bitte keine reinen Meinungsbeiträge! Unsere Regeln zur Veröffentlichung von Ergänzungen findest Du unter netzpolitik.org/kommentare. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.