Interview„TikToks Macht, Nein zu sagen, schrumpft täglich“

Ist TikTok eine politische Gefahr? Die Plattform tut viel, um Regierungen zu beruhigen. China-Expertin Rebecca Arcesati findet: Auf Handys von Beamt:innen hat TikTok nichts zu suchen. Die größte Gefahr sei aber, wenn Europa und die USA im Umgang mit TikTok ihre demokratischen Grundsätze aufgeben.

Porträt einer Person im schwarzen Blazer mit gekreuzten Armen
Rebecca Arcesati forscht seit Jahren über Chinas Digitalpolitik – Alle Rechte vorbehalten Mercator Institute for China Studies

Der Druck auf TikTok reißt nicht ab. Seit Anfang des Jahres haben zahlreiche Regierungen und Behörden, darunter die EU-Kommission und das EU-Parlament, die äußerst beliebte Video-App von Diensthandys verbannt. Als Grund geben sie Sicherheitsrisiken an, weil TikTok dem chinesischen Unternehmen ByteDance gehört.

Mehrere Städte, darunter New York, haben ihren Angestellten das Herunterladen der App verboten. Und im US-Bundesstaat Montana hat der republikanische Gouverneur Greg Gianforte ein komplettes Verbot ab 2024 verhängt – auch wenn nicht klar ist, wie es durchgesetzt werden soll.

Im Kern geht es immer um die gleiche Frage: Hat die chinesische Regierung Zugriff auf die Daten von Nutzer:innen oder nicht? TikTok hat zuletzt Millionen investiert, um westliche Regierungen vom Gegenteil zu überzeugen. Es baute Datenzentren, stellte internationale Führungskräfte ein und gab viel Geld für Lobbyarbeit aus. In den USA hat TikTok jahrelang über ein nationales Sicherheitsabkommen verhandelt, das der Regierung eine noch nie dagewesene Kontrolle über die App geben würde. Und das alles nur, um weiter bleiben zu können.

Die Frage, welches Risiko von TikTok ausgeht, lässt sich nicht auf technischer Ebene beantworten. TikTok weiß viel über seine Nutzer:innen: was sie mögen, wann sie schlafen, wohin sie sich bewegen, teils sogar die Geometrie ihres Gesichts. Zugleich sammelt sie App nicht wesentlich mehr oder andere Nutzerdaten als Facebook, Twitter oder Instagram, wie Sicherheitsexpert:innen immer wieder betonen. Stattdessen ist der Streit ein geopolitischer: Es geht um China und eine Beziehung, in der das Vertrauen zunehmend verloren geht.

Deshalb sind China-Experten wie Rebecca Arcesati die beste Wahl, um Antworten zu erhalten. Als Analystin am Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin forscht sie seit Jahren zu Chinas Digitalpolitik. Im Gespräch mit netzpolitik.org erklärt Arcesati, wie sich diese Politik in den letzten Jahren verändert hat – und warum westliche Regierungen bei TikTok zu Recht vorsichtig sein sollten. Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt.

netzpolitik.org: Rebecca Arcesati, in den USA wird TikTok als Bedrohung für die nationale Sicherheit gesehen, weil es einem chinesischen Unternehmens gehört. Ist es vernünftig, TikTok so zu behandeln?

Arcesati: Ich finde es schon etwas bedenklich, wenn eine Social-Media-App als nationaler Notfall dargestellt wird. Allerdings nicht, weil ich die Vorwürfe gegen TikTok für unberechtigt halte. Alle Social-Media-Plattformen sollten daraufhin überprüft werden, wie sie mit Daten umgehen und Informationen verbreiten – und TikTok als ein Unternehmen in chinesischem Besitz stellt besondere Herausforderungen und Risiken dar.

netzpolitik.org: Was sind das für Risiken?

Arcesati: Als Hauptrisiko sehe ich das Potenzial für autoritäre Einflussnahme in demokratischen Informationsräumen. Trotzdem: Aus europäischer Sicht ist es besorgniserregend, wenn jemand vorschlägt, Unternehmen aufgrund ihres Herkunftslandes oder dem Ort des Hauptsitzes zu verbieten. Selbst in den Vereinigten Staaten würde das auf eine erhebliche Überschreitung staatlicher Kompetenzen hinauslaufen. Außerdem ist die Regierung von Joe Biden derzeit gar nicht dazu befugt, Grund ist der Erste Verfassungszusatz.

netzpolitik.org: … der das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert und damit wohl auch das Recht, sich die Social-Media-Plattform auszusuchen, auf der man sich äußert. Worin besteht hier die Gefahr?

Arcesati: Das Leitprinzip der US-amerikanischen digitalen Diplomatie ist seit langem die Förderung eines freien und offenen Internets. Der Restrict Act ist ein überparteilicher Gesetzentwurf, der der US-Regierung erhebliche Befugnisse einräumen würde. Sie könnte Hardware, Software und digitale Technologien von Anbietern ausschließen, die als Bedrohung für die nationale Sicherheit gesehen werden. Im Falle seiner Verabschiedung würde dieses Gesetz im Namen der nationalen Sicherheit weitreichende Einschränkungen in den freien Informationsfluss rechtfertigen.

„Chinas Praktiken rechtfertigen keinen Verstoß gegen eigene Prinzipien“

netzpolitik.org: China hat sein Internet seit langem abgeschottet und US-Tech-Unternehmen aus dem Land gedrängt oder gezwungen, sich den chinesischen Regeln zu unterwerfen. Warum sollten die Vereinigten Staaten nicht das Gleiche tun?

Arcesati: Ich denke, wir sehen hier eine Reaktion auf die Tatsache, dass China zu einer globalen digitalen Macht geworden ist. Eine von einer autoritären Regierung regierte Macht, die Unternehmen mit enormer globale Reichweite beeinflussen kann, nicht nur in Industrieländern, sondern auch in großen Teilen der Schwellenländer.

Es ist jedoch gefährlich, bestimmte Maßnahmen mit dem Argument zu rechtfertigen: „China macht das schon seit Jahren so“. China hat sich in vielerlei Hinsicht von der globalen digitalen Wirtschaft abgekoppelt. Es hat sich dafür entschieden, die Regierung bestimmen zu lassen, welche Verbindungen hergestellt und welche gekappt werden sollen. Es hat das Internet mit einer Brandmauer versehen und den heimischen Markt für ausländische digitale Plattformen so gut wie geschlossen.

Dennoch können Chinas eigene Praktiken nicht rechtfertigen, gegen grundlegende Prinzipien zu verstoßen, die wir in liberalen demokratischen Gesellschaften hochhalten. Vor allem dann nicht, wenn es den Vereinigten Staaten ernst damit ist, Chinas sogenannten digitalen Autoritarismus zu bekämpfen und ein anderes Modell vorzuschlagen, das auf grundlegenden Menschenrechten und demokratischen Werten basiert. Wenn die Vereinigten Staaten diesen Weg einschlagen, wird dies erhebliche Auswirkungen haben auf das freie und offene Internet, auf die Grundrechte, die Meinungsfreiheit. Und das macht mir Sorgen.

netzpolitik.org: Was bedeutet es, dass TikTok einem chinesischen Unternehmen gehört?

Arcesati: Es bedeutet, dass das Unternehmen staatliche Anfragen zur Herausgabe von Daten oder zur Kontrolle von Inhalten nicht ablehnen kann, weil es in China politische und rechtliche Anforderungen gibt, denen Bytedance eben nachkommen muss. Wir können einfach nicht ignorieren, dass chinesische Unternehmen nur sehr begrenzt Nein sagen können, wenn die chinesische Regierung sie bittet, Daten weiterzugeben oder die nationale Sicherheit und den Geheimdienst auf andere Weise zu unterstützen. Und diese Möglichkeit, Nein zu sagen, wird von Tag zu Tag geringer, wenn man die umfassende Einflussnahme auf den chinesischen Internetsektor in den letzten drei Jahren bedenkt.

„Chinesische Behörden wollen Zugang zu vielen persönlichen Daten“

netzpolitik.org: Wie kommt das?

Arcesati: Jahrelang haben sich chinesische Unternehmen gegen Aufforderungen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) gewehrt, Daten herauszugeben. Wir haben das zum Beispiel bei Alibaba oder beim digitalen Transportunternehmen Didi gesehen. Zugang zu gewünschten Daten zu bekommen war für die chinesische Regierung nicht so einfach, wie manche Leute dachten. Jetzt zeichnet sich der Trend ab, dass der Staat mehr Einblick in und Zugriff auf private Daten erhält. China hat jetzt ein Datensicherheitsgesetz, das eindeutig besagt: Wenn staatliche oder öffentliche Sicherheitsorgane zur Erfüllung ihrer Aufgaben Zugang zu Daten verlangen, müssen Unternehmen und Einzelpersonen dem nachkommen – andernfalls drohen finanzielle Strafen.

netzpolitik.org: Wie hat sich das auf andere Unternehmen ausgewirkt?

Arcesati: Wir haben gesehen, wie Alibabas Tochterunternehmen Ant Group gezwungen war, sich in neun verschiedene Tochtergesellschaften aufzuspalten. Der Zugang zu Daten über die Zahlungsfähigkeit von Verbraucher:innen wird nun von einem staatlich angeschlossenen Unternehmen verwaltet. Dies ist Teil eines Trends, bei dem die chinesische Regierung mehr Kontrolle über die Daten von Nutzer:innen haben möchte. In der Vergangenheit befanden sich viele dieser Daten in den Händen großer privater Technologieunternehmen. Die chinesische Regierung will das jetzt ändern. Sie hat nicht nur den Missbrauch personenbezogener Daten durch große Plattformunternehmen eingedämmt, was eine Reaktion auf die langjährigen Bedenken und Beschwerden der Öffentlichkeit ist. Die Behörden wollen auch bevorzugten Zugang zu vielen Arten von persönlichen Daten – vom Kaufverhalten der Menschen bis hin zu ihrer persönlichen Kommunikation und ihren Bewegungsdaten.

netzpolitik.org: Es gibt also berechtigten Anlass zur Sorge, das China auf Daten von TikTok-Nutzer:innen zugreifen kann?

Arcesati: Ja, aber es gibt immer noch eine Doppelmoral in der Art, wie der US-Kongress und zwei aufeinander folgende US-Regierungen TikTok behandelt haben. TikTok wird so genau unter die Lupe genommen, dass ein Verbot auf dem Tisch liegt. Dabei gibt es für die chinesische Regierung – oder jeden anderen böswilligen Akteur – andere Möglichkeiten, auf die Daten US-amerikanischer Bürger:innen zuzugreifen.

netzpolitik.org: Welche?

Arcesati: Sie können diese Daten legal von Datenhändlern kaufen. Es hat auch erfolgreiche Angriffe gegeben, die ihren Ursprung in China zu haben schienen, einschließlich des Hacks auf das Office of Personnel Management der US-Regierung. Wir haben keinen vollständigen Überblick über alle Daten, an die die Kommunistische Partei Chinas und ihre Geheimdienste bisher gelangen konnten, aber sie sind sicherlich nützlicher als die Daten, die sie von TikTok erhalten könnten. Ich stimme also mit den Kritiker:innen überein, die darauf hinweisen, dass ein zu starker Fokus auf Datenschutz-Risiken von der Debatte ablenkt.

„Als chinesische Beamtin würde ich versuchen, TikTok zu beeinflussen“

netzpolitik.org: Warum eigentlich?

Arcesati: Die größere Frage ist für mich die Manipulation von Inhalten: ob TikTok Inhalte bevorzugen könnte, die für die Kommunistische Partei Chinas vorteilhafter sind oder sogar demokratische Prozesse wie Wahlen manipulieren. Die Kontrolle von Inhalten ist etwas, an dem die Kommunistische Partei Chinas sehr interessiert ist. Es ist die Idee, die öffentliche Meinung nicht nur im eigenen Land zu beeinflussen, sondern auch außerhalb.

Das haben wir nach der Covid-19-Pandemie gesehen, als chinesische Diplomat:innen eine Welle von Desinformationen in westlichen sozialen Medien veröffentlichten. Forscher:innen haben auch die Aktivitäten ganzer Netzwerke von Accounts dokumentiert, die mit der chinesischen Regierung in Verbindung zu stehen scheinen. Diese Konten waren sehr aktiv bei der Verbreitung der Regierungslinie zu vielen Themen – von Covid-19 bis Hongkong, Xinjiang und dem Krieg in der Ukraine. Es wurden auch umfangreiche Untersuchungen darüber angestellt, dass die chinesischen Behörden Dienstleistungen zur Analyse der öffentlichen Meinung von privaten Unternehmen beziehen, auch um Online-Propaganda und Überwachung im Ausland zu unterstützen.

Es ist also nicht unbedeutend, wenn man eine Plattform von TikToks Größe hat. Eine Plattform, die von einem Unternehmen kontrolliert wird, das seinen Hauptsitz in China hat und damit klaren Verpflichtungen nach chinesischem Recht unterliegt. Wäre ich eine Regierungsbeamtin in Peking, ich würde so eine Plattform mit einer solchen globalen Reichweite sehr interessant finden. Und ich würde versuchen, sie zu beeinflussen, damit sie die Inhalte platziert, die mir gefallen.

netzpolitik.org: Gibt es Beweise dafür, dass dies geschehen ist?

Arcesati: Es gibt Beweise dafür, dass TikTok genau das tut: Regierungspropaganda verbreiten und gleichzeitig Inhalte zensieren, die Peking verärgern könnten. Für erfolgreiche Operationen der chinesischen Regierung zur Manipulation der öffentlichen Meinung in großem Maßstab gibt es bisher dagegen kaum Beweise. Der Skandal um Cambridge Analytica hat jedoch gezeigt, dass die Gefahr einer groß angelegten Manipulation auf westlichen Plattformen wie Facebook sehr real ist. Wenn sogar politische Parteien in liberalen Demokratien strategisch Anzeigen schalten, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, warum sollte die Kommunistische Partei Chinas nicht dasselbe versuchen?

Die Partei ist bestrebt, die Welt so zu gestalten, dass sie für den Autoritarismus sicherer wird. Wenn es um China geht, müssen die europäischen Institutionen sehr ernsthaft über die Verflechtung von digitaler Macht, neuen Technologien und geopolitischen Interessen nachdenken.

„Der Anbieter ist wichtig“

netzpolitik.org: TikTok auf dem Handy verbieten, Huawei-Komponenten aus den Telekommunikationsnetzen verbannen: Was ist das Problem hinter diesen geopolitischen Konflikten?

Arcesati: Wenn es um den Export von datenintensiven Diensten und Produkten geht, vor allem von solchen, die in kritische Informationsinfrastrukturen fließen, braucht man Vertrauen als Vorbedingung für Geschäfte. Im Jahr 2015 unterzeichnete die EU ohne Bedenken eine Partnerschaft mit China zur Zusammenarbeit bei 5G, und niemand stellte die Rolle chinesischer Unternehmen beim Aufbau von Telekommunikationsnetzen in Europa in Frage. Das Risiko, dass Daten abfließen, war nichts, womit sich die politischen Entscheidungsträger:innen, geschweige denn die Öffentlichkeit, befasst hätten.

netzpolitik.org: Jetzt haben wir TikTok auf unseren Handys und Huawei-Technologie in unserer Telekommunikationsinfrastruktur.

Arcesati: Wenn es um diese Art von Technologien geht, kommt es natürlich auf den Anbieter an. Um die Sicherheit von so komplexen und digitalisierten Technologien wie 5G-Netzen zu gewährleisten, sind robuste technische Standards nur eine Voraussetzung. Man braucht auch Anbieter, denen man vertrauen kann, dass sie das Netz nicht aus der Ferne abschalten oder Hintertüren einbauen. Aus diesem Grund hat die chinesische Regierung im Rahmen der digitalen Diplomatie versucht, das zu entkräften, was sie selbst als Mythos darstellen will: Dass sie versuchen wird, Unternehmen zur Herausgabe von Daten zu zwingen.

netzpolitik.org: Wie tut sie das?

Arcesati: Im Jahr 2019 hat Donald Trump im Rahmen des „Clean Network Program“ vorgeschlagen, US-Netzwerke auf allen Ebenen von chinesischer Ausrüstung und Technologie zu säubern, von Unterseekabeln bis hin zu Social-Media-Apps. Kurz darauf startete das chinesische Außenministerium einen diplomatischen Schachzug als Antwort, die Global Data Security Initiative. Im Kern ging es um die Zusage, Huawei und andere chinesische Unternehmen nicht zum Spionieren aufzufordern oder Daten an die chinesische Regierung weiterzugeben. Ich denke, sie sahen sich zu dieser Aussage veranlasst, weil sie wissen: Es ist ein besonderer historischer Moment, der durch einen raschen technologischen Wandel und einen erbitterten Wettbewerb der Großmächte gekennzeichnet ist. Dabei ist Vertrauen der Schlüssel für eine nachhaltige technologische und wirtschaftliche Wechselbeziehung.

netzpolitik.org: ByteDance tut alles, um westliche Politiker:innen davon zu überzeugen, dass es sich nicht um ein chinesisches Unternehmen handelt und die Kommunistische Partei Chinas keinen Zugriff auf Daten hat. Sie haben ihren Hauptsitz nach Singapur verlegt, die Daten von Nutzer:innen werden auf Servern in Europa und den USA gespeichert. Ist das ausreichend?

Arcesati: Ich bin skeptisch, dass diese Maßnahmen die Bedenken ausräumen können. China kann im Inland großen Einfluss auf Unternehmen ausüben. Wenn chinesische Technologieunternehmen global expandieren, ist das eine Belastung für sie. Das hat die Kontroverse um TikTok und davor Huawei deutlich gezeigt. Dies ist das Dilemma für chinesische Unternehmensgründer:innen: Sie haben Technologieunternehmen mit dem Ziel aufgebaut, weltweit tätig zu werden – ein Ziel, das die chinesische Regierung selbst fördert und aktiv unterstützt. Doch da ByteDance einen Zugriff auf TikTok-Daten eingeräumt hat, muss man festhalten: Da greift ein wichtiger Teil des Unternehmens auf Daten zu, und zwar ein Teil, bei dem die chinesische Regulierungsbehörde buchstäblich einen Sitz im Vorstand hat. Die Aussichten sind recht düster, dass man ByteDance im Umgang mit Daten aus Europa und den USA trauen kann.

„TikTok war verängstigt und ist ausgerastet“

„Shou Zi Chew ist nicht frei in seiner Meinungsäußerung“

netzpolitik.org: Im März wurde TikTok-CEO Shou Zi Chew vier Stunden lang vom US-Kongress befragt. Es wirkte eher wie ein Tribunal als wie eine Anhörung.

Arcesati: Shou Zi Chew wurde gefragt, ob die chinesische Regierung einen Völkermord in Xinjiang begeht und ob er dies unterstützt. Und dann waren einige Leute überrascht, dass er nicht redefreudig war. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass diese Unternehmen in einem bestimmten innenpolitischen und rechtlichen Kontext operieren. Positive Beziehungen zum chinesischen Parteistaat entscheiden nicht nur über ihr Überleben, sondern auch über die persönliche Sicherheit ihrer Führungskräfte und deren Familien. Shou Zi Chew und andere können ihre Meinung vor dem US-Kongress nicht so frei äußern, wie Mark Zuckerberg es kann. Natürlich ist es bedenklich, dass er die Frage nicht beantwortet hat, aber ich hätte auch nichts anderes erwartet.

netzpolitik.org: Auch in der EU wird TikTok zunehmend als Sicherheitsbedrohung gesehen. Kürzlich hat die Europäische Union TikTok von Diensthandys in allen drei Regierungsinstitutionen verbannt. Das ist ein Schritt, den niemand je für Apps von Meta, Google und anderen US-Unternehmen vorgeschlagen hat. Ein doppelter Standard?

Arcesati: Dem würde ich nicht zustimmen. US-amerikanische Plattformen stehen schon seit langem im Fokus der EU-Datenschutz- und Kartellbehörden. Es ist auch wichtig, zwischen US-amerikanischen und chinesischen Unternehmen zu unterscheiden. Sicher, wir kennen das Ausmaß und die Reichweite der Überwachung durch die US-Regierung. Aber wir sind immer noch Verbündete und haben gemeinsame Werte. Das ist bei China nicht der Fall. Wenn die Kommunistische Partei Chinas Zugang zu persönlichen Daten hat, könnte dies die Spionage auf europäischem Boden erleichtern. Es könnte ihnen helfen, Einfluss auf die politische Führung zu nehmen oder tiefere Einblicke in unsere Gesellschaft zu gewinnen. Das sollten wir sehr ernst nehmen.

netzpolitik.org: Die Europäische Union hat gerade ein neues Gesetz verabschiedet, das die Regeln für Online-Plattformen in Europa festlegen wird, den Digital Services Act (DSA). Teil des Plans ist eine unabhängige Aufsicht darüber, wie Plattformen Inhalte moderieren und ihren Nutzer:innen Informationen zur Verfügung stellen. Ist das ein besserer Weg, die Probleme mit TikTok zu lösen, als ein Verbot zu verhängen?

Arcesati: Aus der Sicht vieler Akteur:innen in Washington wird der europäische Ansatz oft als technokratisch und langsam angesehen. Aber ich glaube, dass dieses Modell funktionieren könnte. Es könnte eine neutralere und rechtlich solidere Grundlage für den endgültigen Ausschluss von Unternehmen schaffen, die sich nicht an die Vorschriften halten. Wie kann der Gesetzgeber von Verboten sprechen, wenn er nicht für alle Unternehmen die gleichen hohen Standards anlegt?

Der DSA sieht vor, dass digitale Plattformen ihre Algorithmen einer unabhängigen Prüfung durch Dritte unterziehen. Wir sollten meiner Meinung nach über algorithmische Manipulationen besorgt sein und darüber, wie TikTok von der chinesischen Regierung gesponserte Inhalte priorisieren könnte. Der DSA kann dazu beitragen, diese Bedenken auszuräumen. Allerdings ist die Prüfung von Algorithmen recht komplex. Echte Transparenz und Erklärbarkeit lassen sich nur schwer durchsetzen. Dies ist Neuland für die Regulierungsbehörden, und wir werden sehen müssen, wie der DSA in der Praxis funktionieren wird. Aber ich denke, dieser Weg ist es wert, erforscht zu werden.

„Ein Verbot von TikTok wäre weder legitim noch wünschenswert“

netzpolitik.org: Erwarten Sie Bestrebungen, TikTok in der EU komplett zu verbieten?

Arcesati: Ich glaube nicht, dass wir jemals einen Vorstoß für Verbote chinesischer Social-Media-Apps in Europa sehen werden – abgesehen von den sehr eng begrenzten Verboten, die wir für EU- und Regierungsbeamt:innen gesehen haben. Diese Verbote sind aus Sicht der nationalen Sicherheit und der Datensicherheit sinnvoll, da Regierungsangestellte Zugang zu sensiblen Informationen haben und ihr Risikoprofil daher ein völlig anderes ist. Aber ein Verbot von TikTok zum Schutz der Gesellschaft insgesamt wäre weder legitim noch wünschenswert. China verbietet ausländische Plattformen. Die EU hingegen folgt verfassungsmäßigen Rechten wie der Redefreiheit.

netzpolitik.org: Was ist mit investigativen Journalist:innen oder Anwält:innen, wäre es für sie sinnvoll, die App auf ihren Handys zu haben?

Arcesati: Wahrscheinlich nicht, wenn man sich anschaut, was letztes Jahr mit Journalist:innen von Forbes passiert ist. Jemand innerhalb von ByteDance nutzte Standortdaten, um zu überwachen, ob sich Angestellte mit Forbes-Journalist:innen trafen, die über TikTok recherchierten. Solche Vorfälle wecken wirklich kein Vertrauen, wenn es um den Umgang mit Daten geht. Das war einfach eine schlechte Entscheidung, aber in vielerlei Hinsicht ein Weckruf. Stellen Sie sich einfach mal ein Szenario vor, in dem die chinesische Regierung ByteDance zu einem bestimmten Verhalten in Bezug auf TikTok zwingen wollte, etwa Peking-kritische Dissident:innen oder Journalist:innen auszuspionieren.

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3 Ergänzungen

  1. Danke für das interessante Interview!

    Ob die EU (bzw. die relevanten Behörden) Plattformen wir TikTok nicht verbietet weil die EU „verfassungsmäßige[n] Rechte[n] wie der Redefreiheit“ hochhält, würde ich so nicht unterschreiben. TikTok ist ein Unternehmen und als solches wohl gewinnorientiert. Die Redefreiheit seiner Nutzenden ist von den unternehmerischen Umständen, dem Produkt und einer gewissen Beliebigkeit abhängig. Auch wenn Online-Plattformen in der Praxis oft eine halböffentliche Bühne sind, so haben viele Behörden wohl kaum Abstand von Maßnahmen genommen weil dadurch die allgemeine Redefreiheit berührt wäre. Andere Faktoren wie Standortschutz und Schutz der unternehmerischen Freiheit, behördliche Inaktivität, fehlendes Verständnis der im Interview genannten Probleme, scheinen doch zu überwiegen.

  2. Mit Verlaub, ich finde es nicht ausreichend, eine Diskussion im Umgang mit TikoTok versus US-Digitalkonzerne mit dem Argument abzuräumen „Mit den USA haben wir gemeinsame Werte, mit China nicht“. Wie gehen die USA mit Aktivisten um, die Überwachungs- und militärische Kriegsskandale der USA transparent machen? Mit politischer Verfolgung. Fast verstörender noch der Blick auf die Kriegsverbrechen W. Bushs oder der Ultraneoliberalismus von Trump. Und der radikale Antikommunismus in den USA? Der Mord an Allende, die möglichen Verstrickungen in den Mord an Olof Palme, der keinen Bock auf NATO und Aufrüstung gegen die Sowjets hatte? Die Sanktionspolitik gegen Kuba, wohin nicht mal Siemens Ersatzteile für medizinische Geräte liefern darf? Sorry, das sind nicht meine Werte. Darauf bezogen sehe ich hart gesagt unsere Werte sogar eher näher bei China. Die kulturelle Freiheit und Toleranz mag wiederum in den USA größer als in China sein, dennoch halte ich auch da ein schwarz/weiß für deplatziert: In den USA gibt es immer noch sehr viel Rassismus (einfach mal nach Baltimore fahren…), und was ist mit dem harten Grenzregime zu Migrant*innen aus dem Süden und den Todesschüssen durch US-Behörden an der Grenze. Das ist AfD pur! Und was die Uiguren betrifft, es wird seinen Grund haben warum die Bundesregierung nicht von Völkermord spricht, sondern vorwiegend die USA selbst. Belegen lässt sich, dass Uiguren offensichtlich sozial benachteiligt sind und beispielsweise von der Lockerung der 1-Kind-Politik weniger profitiert haben, aber deshalb von Genozid zu sprechen ist schwierig. Machts nicht besser, aber in der Summe komme ich zu keiner derartig eindeutigen moralischen Überlegenheit der USA, die den Anschein rechtfertigt, chinesische Spionage sei wesentlich gefährlicher als US-amerikanische. Die Hoffnung bezogen auf social medial sehe ich im DSA, gilt für alle.

  3. Leider ein recht einseitiger Blick auf die Verwendung oder auch den Missbrauch von sozialen Netzwerken und deren Nutzerdaten. Völlig vergessen und außer acht gelassen wird, in wie fern z.B. amerikanische Anbieter von sozialen Netzwerken propagandistisch genutzt werden und tatsächlich weltweit Daten der Nutzer, verwenden, sammeln und entsprechend verwerten oder weiterleiten. Frau Köver und Frau Arcesati haben anscheinend noch nie etwas von Edward Snowden gehört.

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