Kopieren, neu zusammensetzen, abwandeln und weitergeben: Offene, freie Bildungsmaterialien bieten Lernenden und Lehrenden viele Vorteile und Freiheiten. Auch die Bundesregierung will freie Bildungsmaterialien, kurz OER (Open Educational Resources), fördern. Ende Juli hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) dazu die lang erwartete OER-Strategie veröffentlicht.
Das BMBF will mit dieser Strategie Anreizsysteme schaffen. Es soll attraktiv sein, OER-Material zu erstellen und zu nutzen. Gleichzeitig will das Ministerium eine Kultur der Offenheit, der Kooperation und des Teilens fördern. Strukturförderung und Kulturwandel zusammenzudenken ist richtig. Doch der Strategie fehlt etwas: Biss, Wille und Mut zur konsequenten Umsetzung.
Kein klares Bekenntnis zu freien Lizenzen
Das fängt damit an, dass die OER-Strategie die Definition von freien Bildungsmaterialien, wie sie etwa die UNESCO empfiehlt, gleich zu Beginn verwässert. OER seien „Bildungsressourcen jeglicher Art, die meist als Materialien unter einer freien und offenen Lizenz, insbesondere einer CC-(Creative Commons)-Lizenz veröffentlicht werden“, schreibt das BMBF.
Warum „meist“? Der Kern und Mehrwert von OER besteht darin, dass sie immer offen unter freien Lizenzen veröffentlicht werden und die Nutzenden sie verwahren, vervielfältigen, verwenden, vermischen, verändern und verbreiten können. OER sind besonders für digitale Bildungsmaterialien und -medien von Bedeutung, weil sie grundlegende Eigenschaften des Digitalen unterstützen und legalisieren. Inhalte lassen sich leicht austauschen, bearbeiten und remixen. Und gerade dieses Vermischen und Verändern macht es möglich, auf die individuellen Bedürfnisse von Lernenden eingehen zu können.
Die OER-Strategie ist eine Leitplanke für offene Bildung in der Digitalität. Und sie braucht ein klares Bekenntnis zur Nutzung uneingeschränkter freier Lizenzen. Dazu gehören die Creative-Commons-Lizenzen CC BY, CC BY-SA oder die Vollfreigabe CC0. Damit können der kostenlose Zugang, die Weiterverwendung und der passgenaue Einsatz von Bildungsmaterialien zum Normalfall werden.
Eindeutige und möglichst freie Lizenzen bilden die Grundlage für einen Wandel hin zu einer Kultur des Teilens. Dafür brauchen Lehrende und Lernende einen klaren Orientierungsrahmen. Selbst die gerne verwendete Lizenz CC BY-NC-SA bringt Lehrende immer wieder in Grauzonen. Sie soll verhindern, dass Inhalte für kommerzielle Zwecke genutzt werden, aber die Grenze zwischen kommerziell und nichtkommerziell ist nicht eindeutig geklärt – das fängt schon beim Status von Privatschulen oder Volkshochschulen an.
Warum das BMBF kein gutes Vorbild ist
Das BMBF tut sich übrigens selbst schwer mit dem Freigeben seiner Produkte: Das Ministerium veröffentlichte die OER-Strategie zunächst nur im PDF-Format mit Kopierschutz. Eine Lizenzangabe lässt sich in dem Dokument bislang nicht finden.
Auch viele weitere vom BMBF selbst herausgegebene Publikationen und Medienprodukte enthalten keine Lizenzangaben im Sinne der CC-Regelungen.
Ob und wie diese Dokumente weiterverwendet werden dürfen, ist für Menschen ohne juristisches Staatsexamen kaum ersichtlich – und selbst die dürften sich mit der Frage schwer tun, ob es sich nun um amtliche Werke ohne urheberrechtlichen Schutz handelt oder nicht.
Dabei sollten das BMBF, wie alle anderen Ministerien, samt Unterbehörden und öffentlich finanzierte Medien- und Rundfunkanstalten als gute Beispiele vorangehen und ihre vielfältigen Bildungsmedien – ob Publikationen, Bilddateien, Podcasts oder Videos – standardmäßig unter freien Lizenzen herausgeben. Das würde endlich eine konsequente Umsetzung von „Öffentliches Geld – Öffentliches Gut!“ (ÖGÖG) bedeuten.
In der OER-Strategie selbst wird dieses Prinzip sogar als Leitbild genannt. Nun muss daraus eine gelebte Praxis aller staatlichen und öffentlich geförderten Bildungsanbietenden entstehen. Dafür braucht es klare Vorgaben, dass von öffentlicher Hand produzierte genauso wie öffentlich geförderte Bildungsmaterialien grundsätzlich offen zu lizenzieren sind. Geeignete Gesetze und Verordnungen können den Grundsatz ÖGÖG rechtsverbindlich durchsetzbar machen. Sie können offene Bildungsangebote strukturell verankern und flächendeckend ermöglichen.
Angst vor Kontrollverlust?
Hinter der zögerlichen Anwendung der eigens formulierten Prinzipien steckt wohl teilweise die Angst vor Kontrollverlust. Das zeigt sich beim BMBF auch in widersprüchlichen Ansätzen, was Lernen im 21. Jahrhundert bedeuten soll und kann. In der Einführung der OER-Strategie spricht das Ministerium davon, dass „Bildung […] die Menschen mit dem nötigen Wissen und den nötigen Kompetenzen ausstatten“ muss. Dahinter steht ein wissens- und kompetenzbasiertes Bildungsverständnis mit planbaren Lernzielen und -wegen.
OER lebt jedoch von der Unplanbarkeit individueller Bildungs- und Lernwege. Das formuliert die OER-Strategie an anderer Stelle sogar selbst: „Das gemeinsame, iterative Erstellen, Mischen, Überarbeiten, Anpassen, Differenzieren, Individualisieren und Perfektionieren von Bildungsmaterialien ist gleichermaßen Grundlage und entscheidender Faktor, damit OER gewinnbringend in der Bildung eingesetzt werden.“
Für die Unplanbarkeit braucht es jedoch den Mut zum Kontrollverlust, der den Lernprozess selbst in den Mittelpunkt des Geschehens stellt. Dieses Potenzial erkennt die Strategie zwar ansatzweise. Doch folgen müssen: Förderstrukturen, die Prozessoffenheit ermöglichen, die Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken und ergebnisoffenes Handeln im Rahmen der Förderstrategie fordern und den Struktur- und Kulturwandel selbst als einen iterativen „Prozess des Erstellens, Mischens, Überarbeitens“ verstehen.
Es fehlt Personal, Infrastruktur – und Mut
Die größte Baustelle der OER-Strategie aber lässt sich nicht im Text selbst finden. Sie befindet sich in den Schulen. Dort fehlen zwei Grundvoraussetzungen: ausreichend Lehrkräfte und eine funktionierende IT-Infrastruktur. Solange in den entscheidenden Bereichen Mangel herrscht, wird die nachhaltige Umsetzung einer offenen Bildungspraxis scheitern.
Wir können Offene Bildung nur erfolgreich gestalten, wenn die entscheidenden gesetzlichen, strukturellen und kulturellen Rahmenbedingungen stimmen. Bund, Länder und Kommunen müssen sie gemeinsam sicherstellen: Es braucht personelle und zeitliche Ressourcen sowie Infrastruktur – IT-Ausstattung genauso wie offene Lern- und Arbeitsräume. Dazu grundlegende Reformen in der Lehrkräfteaus- und -weiterbildung und am Arbeitszeitsystem von Lehrkräften.
Im Zusammenspiel all dessen ist eine Transformation von Bildung und Lernen im 21. Jahrhundert möglich. Hier braucht es Mut und den Willen für tiefgreifende und nachhaltige Veränderung, den ich bei Entscheidungstragenden in Politik und Verwaltung weiterhin schmerzlich vermisse.
Der Kontrollverlust ist problematisch, öffnet er Tür und Tor für die Manipulation der Jugend.
Das betrifft insbesondere die I-Liberalität sowie Religionen und die Möglichkeit der gezielte Einflussnahme auf die Jugend.
Es braucht damit eine restriktivere Lizenz, die verhindert das Informationen manipuliert werden können. Des weiteren braucht es einen Rechtsschutz, das verhindert das Eltern, sowie politische und religiöse Gruppierungen Lehrer und Schulen verklagen können, wegen des verendeten Materials.
Wenn hier über OER geredet wird, sind meines Erachtens auch diese Probleme zu berücksichtigen.
Der Kontrollverlust ist Problematisch. Allerdings nicht in dieser Form. Es gibt weiterhin Lehrpläne und Lehrende, die diese umsetzen. Eine irgendwie verschwurbelt, rechte Lehrkraft kann auch heute im Unterricht mit „konventionellen Lehrmaterialien“ wirren Unfug verbreiten und Geschichte umdrehen.
Diese Lehrkraft würde aber die eignen Lehrmaterialien nicht als OER verbreiten, denn dann würde sie sich als Autor*in selbiger darstellen, was durchaus problembehaftet sein kann. Diese Materialien werden weiterhin in den jeweiligen Bubbles geteilt.
Selbst wenn diese dann auf eine Plattform mit OER hochgeladen werden würden, dann gäbe es eben das Korrektiv aller auf die Schorsch mit seinem Hinweis auf Wikipedia anspielt. Das Problem dieser Falschinformationen und Indoktrination wird viel zu hoch aufgehängt. Im Gegenteil könnte die Auseinandersetzung mit Medien, die eine kritische Analyse der Quelle notwendig macht mehr Vorteile bringen. Sofern dies, wie Frau Gleibs sagt korrekt anmerkt, in der Aus- und Weiterbildung von Lehrenden verankert wird.
Erinnert mich irgendwie an die Diskussion und die Anfänge von Wikipedia: Was, keine zentrale Hierachie oder Kontrolle? Das kann doch nie funktionieren!
Erinnert mich u.a. auch an die Mitte der 80er Jahre, als an den Schulen die Taschenrechner flächendeckend und verpflichtend eingeführt werden sollten (und natürlich letztlich auch eingeführt wurden). Was war das -mal wieder- für ein Geschrei, dass jemand, der auf einer einsamen Insel strandet, vielleicht nicht mehr die Wurzel aus 249875 ausrechnen könnte…
Aber wer konnte schon ahnen, dass mit den Handys die Zahl der Taschenrechner die Zahl der Menschheit übersteigen könnte? – Und genau das ist das nie endende Problem mit den konservativen Mahnern vor Kontrollverlust und dem propagierten „Untergang des Abendlandes“: Erstens, kommt es anders, zweitens, als man denkt!
Darum: Mut zum Andersmachen!!
An Schorsch 4. September 2022 um 19:04 Uhr,
Der Vergleich mit Wikipedia ist schlecht, es gibt einen mehr oder weniger funktionierenden Kontrollmechanismus. Im Konkreten Fall erkenne ich allerdings keinen Ansatz eiern funktionierenden Kontrollmechanismus.
Lehrerinnen und Lehrer können das Material ändern und manipulieren, ohne das es zu eine öffentlichen Diskussion kommt, weil schlicht die Manipulation und Änderung außerhalb des öffentlichen Raums stattfinden.
Dazu kommt noch das Wikipedia durchaus nicht fiktionsfrei ist, Schnelllöschanträge, Relevantsdiskussionen, etc… . Wikipedia ist ganz nett für Basisinformationen, mehr aber auch nicht.
Damit einhergeht das es durchaus sinnvoll wäre, wenn Eltern und SchülerInnen selbst überprüfen können in wie weit das zur Verfügung stehende Lehrmaterial mit dem Original übereinstimmt. Das verlangt eine Medienkompetenz, die nicht jeder hat. Manipulation geht gerade bei Kindern sehr subtil,
OER ist eine Ideal das eine Ideale Welt verlangt, in Kriegszeiten wie diesen sind wir davon so weit weg wie die Erde vom Andromedanebel. Wenn LehrerInnen in den USA unterrichten müssen das die Erde von Gott in 7 Jahre erschaffen wurde, denke ich das sich jegliche Diskussion erübrigt, leider!
Sorry, ich kann der Anwort nicht ganz folgen bzw. zustimmen.
Z.B.
(1) „es gibt einen mehr oder weniger funktionierenden Kontrollmechanismus.“ > Ok. Dann aber: „Im Konkreten Fall erkenne ich allerdings keinen Ansatz eiern funktionierenden Kontrollmechanismus.“ > Das stimmt doch nicht. Genau wie bei Wikipedia gibt es die große Zahl an Nutzern (Lehrerinnen, Eltern, Schülerinnen), denen Unstimmigkeiten im präsentierten Lehrmaterial auffallen würden. – Du schreibst es im 4. Absatz sogar selbst.
(2) „Lehrerinnen und Lehrer können das Material ändern und manipulieren, ohne das es zu eine öffentlichen Diskussion kommt,…“ > Lehrerinnen können sich ihr Unterrichtsmaterial auch komplett selbst erstellen, ohne dass es -zunächst- zu einer öff. Diskussion kommt. Wenn dann später etwas auffällt, kann man immer noch nachkorrigieren. Das muss dann noch nicht mal zum Nachteil der Schülerinnen sein. Ich könnte mir vorstellen, dass gerade der nachträgliche Korrekturprozess um vieles lehrreicher sein könnte als das bloße Pauken von Informationen. Bei bestehenden Information, die nach neuen Erkenntnissen angepasst werden, drängt sich der Vergleich mit der wissenschaftlichen Arbeit geradezu auf.
(3) „OER ist eine Ideal das eine Ideale Welt verlangt, …“ > OER ist ganz sicher kein Ideal. Man sollte auch niemals ein Ideal anstreben, denn das funktioniert nie. Denn die Meinung(!), was ein „Ideal“ ist, wird ebenfalls regelmäßig angepasst. Da kann man sich gleich ein Konstrukt aufbauen, welches regelmäßig geupdated wird. Auf diese Weise zwingt man alle Nutzenden (insbes. die Schülerinnen), sich wiederholt mit den Themen zu beschäftigen und nichts als gegeben zu betrachten. Besonders nicht in der Wissenschaft. Dies ist imho eine der wichtigsten Erkenntnisse, die man als Schulabgängerin drauf haben sollte.
(4) Ist OT, aber ich kanns mir nicht verkneifen: „in Kriegszeiten wie diesen“ > Wir haben im größten Teil von Europa, insbesondere in D und A, ganz sicher keine „Kriegszeiten“. Ich finde, dass eine solche Behauptung eine Verharmlosung der Zustände in der Ukraine und in vielen anderen Teilen der Welt ist. Und ich halte es für eine Beleidigung für die Menschen, die dort frierend vor ihren zerbombten Häusern sitzen.
„““(4) Ist OT, aber ich kanns mir nicht verkneifen: „in Kriegszeiten wie diesen“ > Wir haben im größten Teil von Europa, insbesondere in D und A, ganz sicher keine „Kriegszeiten“. Ich finde, dass eine solche Behauptung eine Verharmlosung der Zustände in der Ukraine und in vielen anderen Teilen der Welt ist. Und ich halte es für eine Beleidigung für die Menschen, die dort frierend vor ihren zerbombten Häusern sitzen.“““
Naja, hier sitzen sie vielleicht bald frierend in der Mietwohnung. Wirtschaftskrieg im Zusammenhang mit Krieg ist schon zutreffend (frieren und schlimmeres kaum).
Ich denke allerdings nicht, dass dort irgendjemand frierend vor einem zerbombten Haus sitzt, jedenfalls nicht besonders lange. Ändert am Obdachlossein nichts, aber das ist schon ein bischen Tränendrüsenmalerei. Eher ist es eine Beleidugung so ziemlich aller Ukrainer, deren Häuser und Infrastruktur zerstört, und deren Verwandte und Bekannte abgeschlachtet werden.
Ich möchte in diesem Rahmen auf folgendes Projekt aufmerksam machen: https://oer.gitlab.io
Ich bin nicht darin involviert (auch wenn das angesichts des anonymen Kommentars eine Null-Aussage ist).
Was mir daran gefällt, ist der umfassende Ansatz, der nicht nur die fertige Publikation sondern auch die Offenheit des Entstehungsprozesses und der verwendeten Werkzeuge im Blick hat.