BundestagsstudiePolizeiliche Überwachung und ihre negativen Folgen

Eine Studie des Bundestages kommt zu dem Schluss, dass die zunehmende polizeiliche Überwachung Probleme für Rechtsstaat und Gesellschaft mit sich bringt. Im Kontrast zur Politik der vergangenen Jahre mahnen die Autor:innen eine stärkere Auseinandersetzung damit und grundrechtliche Reformen an.

Viele Videokameras im öffentlichen Raum
Wirksamkeit und Folgen von Videoüberwachung im öffentlichen Raum sind nur unzureichend erforscht – CC0 Illustration: DALL-E-2 (a panopticon of surveillance cameras in the city)

Insgesamt sechs Jahre lang haben Forscher:innen den Einsatz von polizeilicher Überwachungstechnologie, deren Entwicklungsstand und mögliche Folgen auf Recht und Gesellschaft untersucht. Herausgekommen ist eine 262-seitige Studie mit dem Titel „Beobachtungstechnologien im Bereich der zivilen Sicherheit – Möglichkeiten und Herausforderungen“. Sie zeigt auf, wie der Einsatz moderner Überwachungstechnologien den Rechtsstaat herausfordert und die Grundrechte der Bürger:innen einschränkt.

Durchgeführt hat die Studie das Büro für Technikfolgen-Abschätzung des Bundestags (TAB). Das TAB berät das Parlament und dessen Ausschüsse in Fragen des wissenschaftlich-technischen Wandels. Es wird seit 1990 vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Karlsruher Instituts für Technologie betrieben.

Technologischer und politischer Übergangsprozess

Die Autor:innen – Claudio Caviezel, Leon Hempel, Christoph Revermann und Saskia Steiger – kommen in der Studie zu dem Schluss, dass wir uns in einem technologischen und politischen Übergangsprozess befinden, der von vielerlei Unkenntnis, Unabwägbarkeiten und Risiken geprägt ist.

Sie konstatieren erstens, dass Strafbehörden und Polizei schon seit Jahren Überwachungstechnologie einsetzen, die unausgereift und damit fehlerbehaftet ist. Zweitens würden die (grund-)rechtlichen Regulierungen dieser Technologie zum Teil deutlich hinterherhinken. Und drittens erfolge die Überwachung häufig ohne ausreichende wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, welche Folgen diese für die Gesellschaft und die einzelnen Bürger:innen hat.

Die Untersuchungen beruhen auf der Prämisse, dass es zu einer der Kernaufgaben des Staates gehört, zivile Sicherheit zu gewährleisten. Um dieser Aufgabe nachzukommen, sei der Staat auf den Einsatz von Beobachtung angewiesen. Dies sei allerdings ambivalent zu sehen: Denn zum einen ist die Überwachung „Grundvoraussetzung und Mittel für soziale Kontrolle“. Zum anderen dürfe sie nicht „zum Nachteil der Gesellschaft reichen“. Das heißt, ihre Mittel sollten stets verhältnismäßig eingesetzt werden.

Dass diese Verhältnismäßigkeit auch und gerade wegen der technologischen Weiterentwicklung und des voreiligen Einsatzes nicht immer gegeben ist, weisen die Autor:innen anhand zahlreicher Beispiele auf.

Videoüberwachung und automatisierte Datenauswertung

Zu diesen zählt die Videoüberwachung im öffentlichen Raum, die in der Regel mit ihrem Nutzen für die Gefahrenabwehr gerechtfertigt wird.

Den Autor:innen zufolge ist jedoch nicht erwiesen, dass Videoüberwachung eine kriminalpräventive Wirkung hat. Zum einen gebe es nur wenige verlässliche Zahlen. Zum anderen zeichneten diese ein uneinheitliches Bild. Meist blieben die Überwachungsergebnisse hinter den Erwartungen zurück. Das gelte nicht nur für die Prävention, sondern auch für die Strafverfolgung und den Einfluss auf das individuelle Sicherheitsempfinden. Selbst wenn die Kriminalität an ausgewählten Einsatzorten sinkt, ließe sich dies laut Studie nicht immer eindeutig auf die Videoüberwachung zurückführen.

Weil die Überwachung seit Jahren zunimmt, würden die erfassten Daten mehr und mehr mit Hilfe von Algorithmen ausgewertet – etwa bei der automatischen Auswertung von Autokennzeichen. Inzwischen befänden sich auch Situations- und Verhaltensanalysen im Testlauf. Sie sollen beispielsweise ermitteln, ob sich Personen an bestimmten Orten atypisch verhalten oder potenziell gefährliche Gegenstände zurücklassen.

Aus Sicht der Studienautor:innen seien diese Systeme aber keineswegs ausgereift und zu fehlerhaft, „da menschliches Verhalten enorm vielfältig und meist nicht vorhersehbar ist“.

Fehlalarme bei der biometrischen Gesichtserkennung

Besonders folgenreich sei eine hohe Fehlerquote bei biometrischen Gesichtserkennungssystemen. Ihr Einsatz wird vor allem an Bahnhöfen oder Flughäfen erwogen, wo sich täglich zigtausende Menschen aufhalten.

Laut Studie könnten diese Systeme „trotz großer Fortschritte nie fehlerfrei“ arbeiten. Selbst wenn die Fehlerquote relativ gering sei, käme es dennoch unweigerlich zu einer hohen Zahl an Fehlalarmen. Würde die Videoüberwachung zum Beispiel bei einer Fehlerquote von 10 Prozent täglich 100.000 Menschen erfassen, käme es zu 10.000 Fehlalarmen am Tag.

Zwar habe eine längerfristige Projektreihe im Rahmen des „Sicherheitsbahnhof Berlin Südkreuz“ vor einigen Jahren bessere Resultate erbracht als erwartet. Allerdings seien diese aus Sicht vieler Expert:innen wenig aussagekräftig, so die Studie, weil „Referenz- und Testbilder am gleichen Ort entstanden waren und somit nicht auf reale Einsatzszenarien in anderen Umgebungen … übertragbar seien.“

Automatisierte Ausspähung im digitalen Raum

Zu vergleichbaren Schlüssen kommt die Studie mit Blick auf die Überwachung im digitalen Raum. Auch hier würden zunehmend technische Überwachungssysteme im Rahmen der Social Media Intelligence (SOCMINT) eingesetzt. Sie lesen im Netz automatisiert Inhalte aus und zeigen dabei Verbindungen zwischen Nutzer:innen, Gruppen und Schlagwörtern auf.

Auch diese Technik ist offenbar alles andere als ausgereift. Verfügbare Systeme stünden derzeit vor allem vor der Herausforderung, die „große Heterogenität und Dynamik von Onlineinhalten“ weitgehend fehlerfrei zu bewältigen.

Doch selbst wenn ihr Einsatz künftig brauchbare Hinweise zu Tage fördert, bestünden noch erhebliche rechtliche Probleme: Laut Bundesverfassungsgericht verletzt „eine Kenntnisnahme öffentlich zugänglicher Informationen“ im Internet nicht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Eine automatisierte Verknüpfung der Daten durch SOCMINT könne jedoch deren Aussagekraft „in solch einem Maße [steigern], dass eigenständige grundrechtliche Risiken für die betroffenen Personen geschaffen werden“.

TKÜ: Massiver Eingriff in die Grundrechte

Ähnlich kritisch bewerten die Forscher:innen die Überwachung der alltäglichen Kommunikation. Noch vor einigen Jahren habe sich diese Form der Ausspähung auf die analoge Sprachtelefonie beschränkt. Inzwischen aber existiert eine Vielzahl an funktional überaus unterschiedlichen und größtenteils verschlüsselten internetbasierten Diensten der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT).

Da dies die polizeiliche Arbeit erheblich erschwere, zeigen sich Sicherheitsbehörden zunehmend daran interessiert, die Daten abzugreifen, bevor sie auf den Endgeräten verschlüsselt werden. Für die Quellen-Telekommunikationsüberwachung (kurz: Quellen-TKÜ, im Volksmund: Staatstrojaner) müssen die Behörden heimlich Spähsoftware auf Smartphones installieren. Damit sind sie aber zum einen auf Software-Schwachstellen angewiesen. Zum anderen berühren solche Formen der Ausspähung aus Sicht der Studienautor:innen „die rechtlich hochgradig sensiblen Felder der grundrechtlichen Privatheitsgarantien“. Gerade deren Einsatz bedürfe daher hoher verfassungsrechtlicher Anforderungen.

Trotz dieser rechtlichen Brisanz sei nicht bekannt, wie oft TKÜ in den vergangenen Jahren zum Einsatz gekommen ist. „Öffentlich gut dokumentiert sind lediglich der strafprozessuale Einsatz der TKÜ und der individualisierten Verkehrsdatenerhebung“, so die Studie. Demnach sei der Einsatz der TKÜ seit Jahren stabil, die Überwachung der Verkehrsdaten hingegen habe in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Zugleich werde „die TKÜ insgesamt als wichtiges und unabdingbares Ermittlungsinstrument eingeschätzt […]. Die Verkehrsdatenerhebung wurde hingegen als ein nur bedingt erfolgreiches Ermittlungsinstrument bewertet, da die damit verfolgten Ermittlungsziele in rund zwei Dritteln der Fälle nicht erreicht werden konnten.“

Allerdings seien die Untersuchungsergebnisse nicht nur lückenhaft, sondern auch relativ alt. „Angesichts des sich kontinuierlich stark ändernden Kommunikationsverhaltens und -aufkommens wären aktuelle Nutzenuntersuchungen dringend notwendig“, so die Studie.

Welchen grundrechtlichen Schutz genießen private Nachrichten?

Ungeachtet des potentiellen Nutzens steht aber aus Sicht der Autor:innen schon jetzt fest, dass die polizeiliche Überwachung den differenzierten Schutz der Privatheit aushebelt. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben müssten daher dringend der technologischen Entwicklung angepasst werden.

So schützt das Fernmeldegeheimnis zwar laufende Telefongespräche, nicht aber umfassend den Inhalt von E-Mails oder Chatnachrichten. Sind diese auf den Endgeräten gespeichert, greift – etwa bei einer Beschlagnahmung – das vergleichsweise schwache Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Bei einer Onlinedurchsuchung hingegen kommt das Grundrecht auf die Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme zum Tragen. Im Endeffekt bedeutet dies, dass „der Inhalt ein und derselben E-Mail mal stärker, mal schwächer vor staatlichen Zugriffen geschützt wird“.

Ähnliches gelte für den „rechtsverträglichen Umgang“ bei der automatischen Datenerhebung und -auswertung. Hier wie dort stünden weitergehende Untersuchungen und Diskussionen zu deren Risiken noch am Anfang.

Was macht Überwachung mit der Gesellschaft und den Einzelnen?

Doch nicht nur der rechtliche Rahmen muss laut Studie neu gezogen werden, darüber hinaus seien zahlreiche soziale und politische Fragen ungeklärt. So fehle etwa eine realistische Einschätzung von Sicherheitsrisiken ebenso wie weitergehende Untersuchungen, wie sich polizeiliche Überwachung auf die Gesellschaft auswirkt. All diese Fragen müssten sowohl die Behörden als auch der Gesetzgeber im gesellschaftlichen Gesamtkontext stärker und kontinuierlich berücksichtigen.

Außerdem sei unklar, welche psychischen und sozialen Effekte die polizeiliche Überwachung auf einzelne Personen habe. Es müsse daher genauer untersucht werden, ob beispielsweise öffentliche Videoüberwachung zu „einer gesteigerten und ggf. als unangenehm empfundenen Selbstaufmerksamkeit“ führe oder ob Menschen im Internet anders kommunizierten, wenn sie befürchten, ausgespäht zu werden. Es bestehe „noch großer Forschungsbedarf, um die genauen Mechanismen der psychischen Auswirkungen technisierter Beobachtung auf individueller Ebene besser zu verstehen.“

Erst wenn diese Fragen geklärt sind, könne auch ein verhältnismäßiger Einsatz polizeilicher Überwachungsmaßnahmen erfolgen.

Alternativen zur Bekämpfung von Symptomen

Als Alternative weisen die Autor:innen zudem auf „nichttechnische Maßnahmen“ hin. Diese würden zwar oft nur langfristig wirken, hätten dafür aber „das Potenzial, gesellschaftliche Problemlagen zu beseitigen und insofern Sicherheitshandeln im Zeitverlauf obsolet zu machen.“ Überwachungstechnologien hingegen würden primär der Erfassung und Bekämpfung von Symptomen dienen.

Mit solchen Schlussfolgerungen muss die Studie alles in allem als massive Kritik an der Überwachungspolitik der vergangenen Jahre gelesen werden. Sie ist damit auch Wasser auf die Mühlen derer in der Ampel-Koalition, die sich in dieser Hinsicht einen innenpolitischen Paradigmenwechsel wünschen. SPD, Grüne und FDP hatten sich in ihrem Koalitionsvertrag nicht nur auf eine evidenzbasierte Sicherheitspolitik verständigt, sondern auch auf die Einführung einer Überwachungsgesamtrechnung. Die Studie legt dafür den Grundstein.

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2 Ergänzungen

  1. Bei diesem sehr guten Artikel vermisse ich noch einen Aspekt:
    Was passiert, wenn diese nicht stramm verfassungsrechtlich geprüften Überwachungsmaßnahmen bei einem Regierungswechsel Richtung rechts bzw. rechtsextrem dafür genutzt werden, die Verfassung auszuhebeln.
    Würde dann nicht genau das passieren, was in der Weimarer Republik passiert ist?
    Oder anders gefragt: Würde nicht die Tür geöffnet, den demokratischen Rechtsstaat mit seinen eigenen Mitteln zu Fall zu bringen?

    1. Kann man denn noch von einem demokratischen Rechtsstaat sprechen, wenn er sich seit Jahren in derart großem Umfang der Mittel eines autoritären Regimes bedient, Tendenz steigend?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.