Längst nicht jeder Jurist versteht sich auch als ein Anwalt des Rechts im Wortsinne oder mag größer denken als über aktuell bewegende Rechtsfragen hinaus. Wolfgang Kaleck zählt mit Sicherheit zu den Vertretern seiner Zunft, denen man beides nicht nachsagen kann. Seit Jahren streitet der Rechtsanwalt für die Menschenrechte, leistet Edward Snowden juristischen Beistand oder verklagte die CIA-Chefin Gina Haspel. Wer seine Gedanken und Argumente dazu nachvollziehen und sich zugleich über die Geschichte und die Zukunft dieses über Rechtsfragen weit hinausgehende Feld informieren möchte, kann sein in diesen Tagen erscheinendes Buch „Die konkrete Utopie der Menschenrechte. Ein Blick zurück in die Zukunft“ lesen.
Wer träumt nicht manchmal oder gar andauernd von einer besseren Welt? In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (pdf) vom 10. Dezember 1948 steht sie schon geschrieben. Doch wir alle wissen, dass die Welt nicht so ist, wie das Papier sie beschreibt. Wie utopisch viele der Forderungen in den Artikeln des Dokuments anmuten, beschreibt Kaleck an einigen Beispielen.
Vermutlich kennt jeder Beispiele für eklatante Verstöße, die man aufzählen könnte: Es gibt demokratisch legitimierte und auch illegale Überwachungsapparate, es existieren unbeschreibliche Ungerechtigkeiten, auch Geheimgefängnisse oder Folter gehören noch nicht der Vergangenheit an. Und dass es in Sachen Menschenrechte stetig besser wird, ist auch nicht etwa ausgemacht, sondern muss erst errungen werden.
Das gilt weltweit und auch in Europa, das sich noch immer gern als Vorbild menschenrechtlicher Standards geriert. Bei genauerem Hinsehen bröckelt die Fassade aber doch. Kaleck identifiziert in seinem Buch für die aktuellen Rückschläge hinter schon erreichte Standards auf unserem Kontinent besonders zwei inhaltliche Aspekte: „In Europa wurden in den letzten Jahren wesentliche rechtsstaatliche Prinzipien vor allem entlang zweier Begründungslinien relativiert: des Terrorismus- und des Migrations-Paradigmas, die sich oft überlappen.“
Für das Nachdenken über die Zukunft ist der Blick zurück oft sinnvoll: Kaleck beschreibt in aller Kürze die Veränderung der Bedeutung der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem dadurch, dass Institutionen innerhalb und außerhalb der Vereinten Nationen etabliert wurden, die sie mindestens kontinuierlich anmahnen und teilweise auch durchsetzen können. Nicht allen dieser Institutionen, wie etwa dem UN-Menschenrechtsrat, bescheinigt der Jurist eine durchgehend positive Bilanz. Denn unter den Mitgliedern sind auch Staaten mit einer desaströsen Menschenrechtsbilanz.
Dennoch wird die große Linie in Richtung einer Umsetzung der Utopie der Menschenrechte sichtbar. Dazu gehört heute mit einiger Selbstverständlichkeit, dass sich alle UN-Mitgliedsstaaten regelmäßig einer Prüfung der Lage der Menschenrechte durch die anderen Staaten stellen müssen.
Über die auch in Bezug auf Menschenrechtsfragen diskutierte Massenüberwachung finden sich in Kalecks Buch nur einige Bemerkungen. Aber vielleicht ist die technisierte Sammlung und Analyse unserer alltäglichen Kommunikation kein schlechtes Beispiel für den aktuellen Umgang mit Menschenrechten: Im Nachgang des 11. September 2001 entwickelte sich ein „dominantes Terrorismusparadigma“ und zudem fast parallel die kommerzielle Überwachungswerbewelt der Tech-Konzerne. Doch nach den Veröffentlichungen aus den Papieren von Edward Snowden ab dem Jahr 2013 sieht Kaleck eine „weltweite Bewegung“ gegen Massenüberwachung. Er bescheinigt ihr zwar „nur mäßigen Erfolg“, auch weil „ihre Gegner jedenfalls für den Moment übermächtig scheinen“. Aber Wissen ist bekanntlich auch Macht und oft der Ausgangspunkt für langfristige Veränderungen. Kaleck macht immerhin eine weltweite „Problemsensibilisierung“ aus.
Der Engel der Geschichte
Kaleck benutzt ein nachdenkliches, aber eingängiges Bild, um die Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Zukunft in Sachen Menschenrechte zu illustrieren. Der Verlag hat das Bild leider nicht mit abgedruckt, was vielleicht mit dem Urheberverwertungsrecht oder auch mit schlichten Kostenproblemen beim Farbdruck in Sachbüchern zusammenhängen könnte. Es ist eine Skizze von Paul Klee, zu der Walter Benjamin im Zweiten Weltkrieg in einem Aufsatz folgende Interpretation schrieb:
Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
Zu dieser Interpretation und dem Engel der Geschichte kommt Kaleck im Buch immer wieder gedanklich zurück. Er schreibt: „Wie er [Walter Benjamin] leben wir in einer ungerechten Welt, erfahren derzeit gar dystopische Momente, wünschen uns zwar, dass sich das ändert, vertrauen aber zu selten auf unsere Fähigkeit, dies tatsächlich umzusetzen.“
Und was kann oder sollte man tun, wenn man nicht zu denen gehören will, die diesen Zustand dulden und damit mittragen? Natürlich liefert Kaleck dafür keine passgenaue oder gar individuelle Antwort, aber er hat strategische Antworten parat. Dazu zählt die Einsicht, dass es eine gewisse historisch gewachsene „Staatsbezogenheit der Menschenrechtsbewegung“ gibt, die „aufgebrochen“ gehört. Das kann beispielsweise so angegangen werden, dass sich auch „transnationale Unternehmen“ für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zeigen müssen. Letztlich muss für die großen Konzerne gelten, was sich alle Staaten ebenso ins Stammbuch schreiben sollten: Menschenrechtsrhetorik ist das eine, und nicht das schlechteste, aber konkrete Handlungen, um die Menschenrechte auch durchzusetzen, ist das andere – und das mit Abstand wichtigere.
Angesichts der Realitäten in Sachen Menschenrechte will der Autor sein Buch als Einladung verstanden wissen, um nachzudenken und zu diskutieren und „sich zu engagieren für die eigenen Rechte, etwa gegen Massenüberwachung oder das Recht auf Gesundheit, für die nebenan, die in Gefängnissen, Altersheimen und Flüchtlingseinrichtungen, aber auch für die Menschen in der Ferne, global solidarisch“. Der Ungerechtigkeiten gibt es zu viele, aber sie deswegen zu ignorieren, ist keine Option.
Dass er dabei konsequent eine globale Perspektive mitdenkt, auf die man als Leser geradezu gestoßen wird, irritiert auf eine angenehme Weise. Denn man sollte die vielen Kämpfe für die Menschenrechte vor allem zur Kenntnis nehmen, und Kalecks Buch liefert dafür viele Beispiele, die anregen und gerade nicht immer die altbekannten sind. Ein ganzes Kapitel gibt außerdem Einblick in die Fülle internationaler Initiativen und Bewegungen, die „utopische Elemente“ haben, allerdings nicht immer Menschenrechte als explizite Ziele nennen.
Eine Frage wird sicher sein, ob unter einer zunehmend aggressiven technischen Beobachtung stehende Teilnehmer sozialer Bewegungen für Menschenrechte nicht der Aktionsradius des Protests so eingeengt werden könnte, dass ihr Widerstand von bedrohten Machthabern effizient verhindert werden kann. Die aktuellen Kämpfe um fundamentale Menschenrechte wie in Myanmar oder in Hongkong sollten auch unter diesem Aspekt betrachtet werden.
Prinzip Hoffnung
Man sollte keine stark strukturierte Abhandlung über die Situation der Menschenrechte erwarten: Es ist eher so, als würde man Kalecks Gedanken folgen, denn sein Buch hat eine gewisse persönliche Ansprache, die in Sachbüchern nicht oft vorkommt. Auch wenn dem Autor zuweilen eine gewisse Verzagtheit anzumerken ist, die er am Ende auch kurz thematisiert, so hinterlässt das Buch – zumindest bei mir – trotzdem eine leichte Aufbruchstimmung.
Kaleck beruft sich schon im Prolog und auch danach immer wieder auf den Philosophen Ernst Bloch und dessen Prinzip Hoffnung. Die derzeitige Pandemiesituation mit ihren entmutigenden Auswirkungen kann ihn letztlich davon nicht abbringen: „Für mich ist am Ende klar: Die für diese Kämpfe um Wahrheit und Gerechtigkeit nötige Energie, Empathie und Courage gerade in diesen Zeiten zu bewahren geht nicht ohne Freundschaft, Lust auf menschliche Begegnungen, Liebe und Spaß am Leben.“
Spätestens nach der Pandemie hat also niemand mehr eine Ausrede, sich dem Kampf um die Menschenrechte nicht auch anzuschließen.
Wie sähe das aus, wenn ihr noch 5-25 Jahre hättet?
Was meinst Du, wenn wir (wer denn?) noch 5 bis 25 Jahre hätten, um was denn zu tun?
Danke für den Artikel.
Ausreden haben wir eh schon lange nicht mehr.
Meines Erachtens geht es immer wieder auf Camus‘ Existenzialismus zurück,
also absurdes Theater, aber trotzdem
„Energie, Empathie und Courage …
Freundschaft, Lust auf menschliche Begegnungen, Liebe und Spaß am Leben“