Lawrence Lessig: Wir brauchen Experimente für eine bessere Demokratie

Der netzpolitische Vordenker Lawrence Lessig plädiert für demokratische Experimente, um der zunehmenden Fragmentierung unserer Gesellschaft und dem Vertrauensverlust in die Demokratie entgegenzuwirken. Als Blaupause biete sich das Erfolgsmodell Wikipedia an.

Lawrence Lessig
Lawrence Lessig CC-BY 4.0 Jason Krüger | für netzpolitik.org

Die Demokratie steht derzeit auf wackligen Füßen, sagte heute Lawrence Lessig auf unserer Konferenz „Das ist Netzpolitik!“ in der Berliner Volksbühne. In den letzten 200 Jahren habe sie einen ganz guten Lauf gehabt, zuletzt sei aber vor allem der anglo-amerikanische Raum ins Straucheln geraten: „Viele fragen sich, ob die Demokratie ihr Versprechen einlösen kann“, sagte Lessig.

Zu diesem Zustand hätten auch neue Technologien beigetragen, sagte Lessig, und die Demokratie „verletzlich“ gemacht. Nun stelle sich die Frage, wie wir Technologie – und gegebenenfalls Demokratie – verändern können, um aus diesem Tief wieder herauszukommen.

Neu sei das Phänomen freilich nicht, sagte der 58-jährige Jurist, der an der Harvard Law School unterrichtet und als einer der einflussreichsten netzpolitischen Vordenker gilt. Unter anderem ist Lessig einer der Mitgründer von Creative Commons und setzt sich seit Jahrzehnten für freies Wissen ein. Zu unserer Konferenz eingeladen hat Lessig Wikimedia Deutschland.

Politisch aktiv war er in Digital-NGOs wie der Free Software Foundation und der Electronic Frontier Foundation. 2016 bemühte er sich, letztlich vergeblich, um den demokratischen Kandidatenposten für die US-Präsidentschaftswahl.

Wer ist das Volk?

Aus seiner Sicht sei „das Volk“ zentral für die Demokratie, sagte Lessig. Schließlich speist jedes demokratische System seine Legitimität aus Wahlen, und umgekehrt würden Bürger erwarten, dass gewählte Politiker ihre Probleme lösen.

Doch da beginne schon das erste Problem: Wer bestimmt auf welche Art, wer „das Volk“ eigentlich ist, wie es tickt und was es will? Hier habe Technologie eine entscheidende Rolle gespielt: Erst vor rund 80 Jahren seien repräsentative Meinungsumfragen ins politische Alltagsgeschäft eingezogen und hätten dabei mitgeholfen, den Rahmen politischer Debatten abzustecken.

Flankiert wurde diese damals neue Technik aber von noch größeren Entwicklungen: Zunächst hätte Radio und Fernsehen nicht nur entscheidend zur Meinungsbildung beigetragen. Vielmehr hätten diese Technologien, bedingt durch die vergleichsweise geringe Angebotsvielfalt, erst einmal eine gemeinsame Realität geschaffen: Wenn es nur drei TV-Kanäle gibt, die alle zur selben Zeit im großen und ganzen die selben Nachrichten senden, dann funktioniere demokratischer Diskurs einfacher.

Fragmentierte Öffentlichkeit

Diese Zeit ist freilich unwiederbringlich vorbei. Kabel- und Satelliten-TV bedienen unterschiedlichste Zielgruppen, während der Marktanteil der herkömmlichen Mainstream-TV-Sender stetig gesunken ist. „Doch wie wird ‚das Volk‘ konstruiert, wenn es keine kohärente Geschichte mehr gibt?“ fragte Lessig. Angesichts einer fragmentierten Öffentlichkeit stelle sich die Frage, wer wir überhaupt sind.

Eine Frage, die sich natürlich nicht so einfach beantworten lässt. Und schon gar nicht, wenn inzwischen das Internet das Problem nur noch verschlimmert hat. Zuvorderst daran Schuld trägt laut Lessig aber die folgenschwere Entscheidung, Dienste im Internet vor allem auf Basis von werbebasierten Geschäftsmodellen aufzubauen.

Denn Märkte – die meist auf einer bestimmten Technologie fußen – folgten immer ihrer eigenen Logik: In diesem Bereich sei es in erster Linie der Anreiz, sich von den Wettbewerbern zu differenzieren, um so eine Marke zu schaffen. Im TV-Sektor sei es etwa dem Sender Fox News gelungen, eine auf „Hass aufsetzende Markenloyalität zu schaffen, die mittlerweile identitätsstiftend ist“.

Mehr Überwachung, nur um bessere Werbung zu schalten

Auf ein werbefinanziertes Internet übertragen, verheißt dies nichts Gutes: Schließlich lassen sich interessensbasierte Werbeeinblendungen kaum ohne eine möglichst weitreichende Überwachung der Nutzer realisieren. Mit Verweis auf die Thesen der Wissenschaftlerinnen Shoshana Zuboff und Zeynep Tufekci sei die logische Folge: „Bessere Werbung braucht bessere Daten“, sagte Lessig, also noch mehr Überwachung.

Dies führe zu perversen Anreizen im Silicon Valley, welches geradezu wissenschaftlich am „Brain Hacking“ der Nutzer arbeite. Die Industrie würde evolutionäre Gegebenheiten ausnutzen, wie es etwa die Spieleindustrie seit Langem mache: Durch Mikro-Belohnungen sollen wir länger auf Plattformen verweilen, was wiederum für Datenmaterial sorgt, das die Unternehmen für ihre maßgeschneiderten Werbeschaltungen brauchen. Die Anbieter nutzen also unsere Verletzlichkeit aus, um uns mehr Anzeigen zu verkaufen.

Gegenmodell „Wiki-Kultur“

Als Gegenmodell sieht Lessig die „Wiki-Kultur“, eine der kaum bestreitbaren Erfolgsgeschichten des nutzergenerierten Internets. So seien für Wikimedia gänzlich andere Anreize ausschlaggebend, allen voran die Entscheidung, keine Werbung zu schalten. „Hier wurden Milliarden an Dollar liegen gelassen, dafür wurde der Gesellschaft unermesslich viel zurückgegeben“, sagte Lessig.

Zweitens sei es eine Frage der „Governance“, von Normen, die akzeptiert und eingehalten würden. „So etwas passiert nicht einfach so“, sagte Lessig, dies müsse entwickelt und später auch konsequent durchgesetzt werden. Mit der Zeit sei aus dem „Rohdiamanten“ Wikipedia ein geschliffener geworden, der „freies und offenes Wissen schafft, dem vertraut werden kann“.

Aus diesem Beispiel könnten nicht nur andere Rohdiamanten im Netz lernen, sondern ebenso die Demokratie. Wir müssten uns mehr trauen und Dinge ausprobieren, fordert Lessig. So würde etwa die Mongolei nach dem Zufallsprinzip ein repräsentatives Sample aus der Bevölkerung in den Gesetzgebungsprozess einbeziehen, was bislang durchaus erfolgreich verlaufen wäre. Ein crowd-basierter Ansatz in Island, wo nach der Finanzkrise 2008 erstmals eine Verfassung entwickelt werden sollte, sei aber vorerst gescheitert, weil die Kluft zwischen gewählten Abgeordneten und dem Volk zu groß gewesen sei.

Es gehe ihm selbstverständlich nicht darum, die repräsentative Demokratie abzuschaffen, betonte Lessig. „Aber wir brauchen eine Million solcher Experimente, Experimente für ein besseres „‚Wir'“, sagte Lessig. „Hier ist der Platz, wo Innovation für Demokratie sein muss. Um uns ein „Wir“ zu zeigen, das wir mögen“.

Wir haben mit Lawrence Lessig am Rande unserer Konferenz auch einen Podcast aufgenommen, den wir in den nächsten Tagen veröffentlichen. Darin sprechen wir mit Lessig über die Kontroverse um den inzwischen zurückgetretenen Leiter des MIT-Media Lab, und Lessigs umstrittene Verteidigungsschrift für die Spenden des wegen Sexualstraftaten verurteilten Investmentbankers Jeffrey Epstein.

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1 Ergänzungen

  1. Wie wäre es mit einem hybriden Ansatz?

    Vom Prinzip her, ist alle 6-8 Jahre Papierwahl. Aber nach der Papierwahl folgen dann nach relativ kurzer Zeit digitale Nachwahlen, jetzt mit E-Perso digital, aber dafür nicht mit derselben Gewichtung. Z.B. können in der N-ten Digitalwahl (Arbeitshypothese: eine reicht erstmal):
    – Wiederholungswähler mit dem Faktor 0,75 hoch N gewichtet werden…
    – Wechselwähler mit voller Stimme Wählen.
    – In dieser Periode noch nicht gewählt habende mit Anderthalbfacher Stimme wählen.
    – Erstwähler mit .. idk, egal.

    An den Faktoren kann man schrauben, die Idee ist eigentlich auch, dass das jew. vorherige Ergebnis maximal um 50% oder so umgeändert werden kann, also kommen da vielleicht Rechenschritte dazu. Pflicht ist natürlich eine lokale Nulldatenanwendung, die einem auf Basis der bisherigen Entscheidungen sagt, wieviel die Wahl einer bestimmten Partei an % bringt.

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